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Vortrag zur Versammlungsfreiheit am 03. September in Göppingen

Flyer des Bündnisses für Versammlungsfreiheit gegen die Kriminalisierung von AntifaschistInnen

Auf Einladung der antifaschistischen Gruppe Göppingen habe ich gestern in Göppingen einen kurzen Vortrag für das Stuttgarter Bündnis für Versammlungsfreiheit gehalten:

Liebe FreundInnen,
ich freue mich über die Gelegenheit heute mit Euch zu diskutieren. Die skandalösen Ereignisse von letztem Samstag unterstreichen erneut die Notwendigkeit, gerade auch in Göppingen, einige Fragen zu klären. OB Till hat einmal mehr unter Beweis gestellt, was von seinen Versprechungen zu halten ist. Er stellt sich über Abmachungen mit dem "runden Tisch gegen Rechts" und was viel schlimmer ist - er lässt Faschisten demonstrieren und stellt sie damit ob er will oder nicht - auf eine Stufe mit Demokraten. Zudem tut er in dem Gespräch, das die Stuttgarter Zeitung gestern veröffentlichte so, als sei es eine Sache des Glücks, ob 30 oder 300 Nazis demonstrieren. Das nenne ich geschichtslos und es zeigt für mich, was er als Bündnispartner wert ist. Wir als Bündnis für Versammlungsfreiheit sagen dagegen: Faschismus ist keine Meinung sondern ein Verbrechen - Keine Versammlungsfreiheit für Faschisten!

Was aber ist Versammlungsfreiheit? Ich möchte zunächst einmal das Bundesverfassungsgericht als „unverdächtige Quelle“ zu Wort kommen lassen: „Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung und untersagt zugleich staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang; das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers. In ihrer Geltung für politische Veranstaltungen verkörpert die Freiheitsgarantie aber zugleich eine Grundentscheidung, die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreicht.“

Und weiter: „An diesem Prozess sind die Bürger in unterschiedlichem Maße beteiligt. Große Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien können beträchtliche Einflüsse ausüben, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt. In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt sind, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im Allgemeinen nur eine kollektive Einflussnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen.“ (BVerfGE 69, 315 -“ Brokdorf-Beschluss vom 14. Mai 1985)

Versammlungen „enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren“, sagt das Bundesverfassungsgericht auch in eben dieser Grundsatzentscheidung.

Hier in Göppingen gab es ja in der Vergangenheit ein paar Unklarheiten zur Frage der Rechtmäßigkeit von Sitzblockaden. Lassen wir auch hier das BVerfGE zu Wort kommen: „Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Dazu gehören auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird (vgl. BVerfGE 69, 315 [342 f.]; 87, 399 [406]). Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden (vgl. BVerfGE 73, 206 [248]; 87, 399 [406]; 104, 92 [103 f.]). Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen -“ schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes -“ im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen (vgl.BVerfGE 69, 315 [345]).“

Auch wenn manche Polizisten das anders sehen - Stichwort: Polizeigesetz: Einschränkungen der Versammlungsfreiheit sind, solange die Teilnehmenden unter dem Schutz des Versammlungsrechts stehen, nach geltendem Recht grundsätzlich nicht nach allgemeinem Polizeirecht, sondern nur auf Grundlage des Versammlungsgesetzes möglich. Auch auf dem Weg zu einer Versammlung steht der Teilnehmende unter dem Schutz des Versammlungsrechts. Das machte das VG Sigmaringen in seinem Urteil vom 29. November 2010 zur Klage gegen den Ulmer Polizeikessel gegen Demonstranten, die mit 3 Bussen zum 1. Mai 2009 anreisten und stundenlang gekesselt wurden, deutlich. Wir kennen allerdings auch die entgegengesetzte Praxis aus der Entscheidung des VG Stuttgart zu den Klagen gegen den Heilbronner Polizeikessel 2011. Damals wurden zwischen 400-500 Menschen, die zum 1. Mai in der Innenstadt gehen wollten, bis zu 12 Stunden festgesetzt.

Das Sigmaringer Gericht stellte damals auch klar, dass das Versammlungsgesetz in seinem Anwendungsbereich als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vorgeht. „Eine auf allgemeines Polizeirecht gegründete Maßnahme, durch welche das Recht zur Teilnahme an der Versammlung beschränkt werde, scheide aufgrund der Sperrwirkung der versammlungsrechtlichen Regelungen aus.“ (VG Sigmaringen, Urteil vom 29. November 2010, Az. 1 K 3643/09).

Versuchen wir einmal das auf den Punkt zu bringen: Die politische Bedeutung des Versammlungsrechtes besteht darin, dass es wesentliche Voraussetzung für die legale Arbeit demokratischer und antifaschistischer Bewegungen unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen ist.

Versammlungsfreiheit steht als positiver Begriff, der für uns über die bloße juristische Rechtslage hinausgeht. Deshalb bezeichnen wir uns als „Bündnis für Versammlungsfreiheit“ und nicht für „Versammlungsrecht“. In erster Linie ist das Versammlungsrecht Ausdruck des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, die herrschende „gewährt“ dieses Recht, weil dieses von den Unterdrückten, erstmals zum Zuge der bürgerlichen Revolution 1848 erkämpft wurde. Dieser Vorgang ist nicht abgeschlossen und wird dies so lange nicht sein, wie es Klassenkämpfe gibt. An uns ist es, Grundrechte täglich zu verteidigen und weiter auszubauen.

Juristische Bedeutung.
Niemand kommt heute darum herum, sich als Aktivist mit der herrschenden Justiz, dem Überbau dieser Gesellschaftsordnung auseinanderzusetzen. Meistens wird er es sowieso müssen. Das Feld der Justiz ist jedoch ebenso Ausdruck der Macht- bzw. Klassenverhältnisse wie oben und der „Spielraum“ ist sehr begrenzt. Wenn überhaupt dann können juristische Auseinandersetzungen nur politisch geführt und „gewonnen“ werden, weshalb eine breiten Solidaritätsbewegung und -arbeit entscheidende Bedeutung zukommt. Deshalb „lohnt“ sich eine juristische Auseinandersetzung nur in ausgewählten Fällen. Am Beispiel der Klage gegen den Polizeikessel von Heilbronn zeigt sich, dass eine Geringschätzung der Solidaritätsarbeit sich fatal auswirken kann und wird. Diese Geringschätzung wirkt im Verhältnis zu den über 120 Klagen gegen Antifas wegen der Proteste gegen den Naziaufmarsch letztes Jahr fort, zu denen es bislang nicht gelingt, eine öffentlich beachtete Solidaritätsarbeit zu entfalten. Dies wirkt sich negativ auf unsere Proteste aus und zeigt der Gegenseite auch, dass wir momentan auf diesem Feld nicht in der Lage sind, eine Arbeit über einzelne Fragen hinaus zu entwickeln.

In diesem Zusammenhang nochmals zur Frage „Versammlungsfreiheit für Nazis“. Der Aufbau und die Stärkung reaktionärer und faschistischer Kräfte mit dem Ziel der Zerschlagung der Arbeiterbewegung ist gerade in Krisenzeiten die Regel. Wir können das aktuell in der Ukraine verfolgen, wo der Mord an Dutzenden Menschen die sich in das Gewerkschaftshaus in Odessa geflüchtet hatten, inzwischen offenbar auch nur ein Ereignis unter vielen ist. Faschismus an der Macht ist nach Dimitroff „die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Faschismus ist also keine Meinung, sondern ein Verbrechen, was dieser auch zu Genüge unter Beweis gestellt hat. Deshalb: keinerlei demokratische Rechte für die Feinde demokratischer Regeln! Wir fordern ein Versammlungsrecht auf antifaschistischer Grundlage.

Lasst mich im Übrigen sagen, dass ich die Frage nach einem Versammlungsrecht für Nazis nicht für ehrlich halte. Seit dem 10. Oktober 1945 ist gemäß dem im §139 GG fortwirkenden alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 2 (Auflösung und Liquidierung der Naziorganisationen) jegliche nationalsozialistische Betätigung verboten. Die Frage, warum Verbotsanträge für Naziaufmärsche immer wieder scheitern erklärt sich auch damit, dass diese in der Regel oft verwaltungsrechtlich und nicht politisch oder auch so gestellt wurden, dass sie scheitern mussten. Gretchenfrage: Die AN Göppingen konnte die Kundgebung vom Samstag nicht anmelden, das mussten andere Organisatoren tun.

Erfahrungswerte und Leistungsschauen
Natürlich kann nicht ernsthaft darauf vertraut werden, dass sich der Faschismus mit der richtigen Anwendung von Gesetzen bekämpfen oder gar verhindern lässt. Im Gegenteil: Meistens wird auch das Versammlungsrecht gegen uns eingesetzt. (Auflagen ../..) Es geht aber auch anders: Um eine NPD Kundgebung im September letzten Jahres zu verhindern, beraumte Gerold Noerenberg (CSU), OB von Neu -“ Ulm kurzerhand eine "Leistungsschau des städtischen Baubetriebs" an - und ließ tonnenschwere Nutzfahrzeuge auf den Rathausplatz karren. Genau dort hatte eigentlich die NPD demonstrieren wollen. Auch wenn das Beispiel nicht beliebig zu wiederholen ist, kommt hier zum Ausdruck, was ich eine Frage der Haltung nenne. Und die fehlt mir bei Herrn Till und sämtlichen Beteiligten der Stadtverwaltung, die vergangenen Samstag einmal mehr einen Naziaufmarsch ermöglicht haben.

Gegen gerichtliche Aufhebungen von Verboten rechter Demos kann man eh nichts machen -“ also muss man nichts machen?

Ist die Schlussfolgerung, die Frage politischer Rechte rechts liegen zu lassen deshalb richtig? Für mich ist es eine Kernfrage, warum die Frage politischer Rechte nicht „en Vogue“ ist oder den Juristen und Bürgerlichen oder schlimmstenfalls der Gegenseite überlassen wird und es schwer fällt, eine mittel und langfristig angelegte Arbeit zu entwickeln.

Denn die Frage oder Forderung eines fortschrittlichen Versammlungsrechtes bezieht sich notwendigerweise immer auch auf andere Bewegungen. Zum einen, weil die notwendige politische Freiheit für die eigene politische Arbeit für alle demokratischen und fortschrittlichen Bewegungen Grundvoraussetzung ist. Zum anderen, weil eine entsprechende gesellschaftliche Praxis die wesentliche Voraussetzung überhaupt ist, die Frage nach einer befreiten Gesellschaft zu stellen.

Unser Bündnis wurde 2008 im Protest gegen die von der damaligen CDU Landesregierung gehegten Pläne zur Verschärfung des Versammlungsrechts gegründet und zeitweise von mehr als 120 Organisationen unterstützt.

Wir haben vom ersten Tag an die Einordnung der Auseinandersetzung um die Versammlungsfreiheit in politischen Kämpfe immer bezogen auf die herrschenden Machtverhältnisse und darauf gedrängt, dass jede Bewegung sich dem Kampf um ihre Rechte annehmen und dafür Bündnispartner gewinnen muss, die nicht unbedingt mit ihrem primären Ziel einig sein müssen.

Beispiele dafür waren neben unserem eigenen bunten und durchaus gegensätzlichen Unterstützerkreis die Auseinandersetzung um Stuttgart 21. Das gegenwärtig laufende Verfahren zum Polizeieinsatz vor 4 Jahren war nur möglich, weil sich auch Menschen, die nichts mit dem S21 Protest am Hut hatten, solidarisch zeigten.

Das war auch der Punkt, weshalb eine ganze Reihe Organisationen die „Göppinger Erklärung“ unseres Bündnisses vom 29. Oktober letzten Jahres unterstützten. Es ist hier gelungen, die breite Kritik an der Abrieglung der Stadt angesichts des Naziaufmarsches vom 11. Oktober 2013 auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen:

„Für uns ist es nicht hinnehmbar, dass AntifaschistInnen festgesetzt, eingeschüchtert und kriminalisiert werden!

Antifaschismus ist und bleibt notwendig!

Weder ausufernde Polizeigewalt noch juristische Schikanen können uns einschüchtern.

Geeint unterstützen wir alle, die sich gegen eine solche Willkür einsetzen!

Wir fordern politische und juristische Konsequenzen aus den Ereignissen am 12. Oktober in Göppingen:

Für Versammlungsfreiheit und lebendigen Widerstand!
Für die Einstellung sämtlicher Verfahren gegen AntifaschistInnen in
Zusammenhang mit den Protesten gegen den Naziaufmarsch vom 12. Oktober 2013!“

Leider brachte diese gegen zum Teil erheblichen Widerstand in den eigenen Reihen -“ so fehlt als Unterstützer die IG Metall Göppingen ebenso wie der DGB aus diesem Kreis -“ erkämpfte Erklärung nicht den nötigen Rückenwind für die Entfaltung einer breiten Solidaritäts- und Protestkampagne. Diese wäre ebenso notwendig gewesen, um neben einer -“ auch juristisch möglichen -“ Einstellung der Verfahren auch einen Kurswechsel der Stadt Göppingen herbei zu führen.

Da inzwischen kaum noch ein Protest gegen Nazis ohne Polizeimaßnahmen, die juristisch bereits „geklärt“ sind, möglich zu sein scheint, muss klar sein, dass -“ so richtig es ist, neue Aktionsformen zu entwickeln, auch der Umgang mit der Repression eingeplant werden muss. Diese zu ignorieren bedeutet, diese Maßnahmen -“ ich nenne Kessel, Filmerei, kein Protest in Hör- und Sichtweite, Vorkontrollen etc. - hinzunehmen.

Wir lassen uns viel zu oft erkämpfte Rechte abknöpfen. Damit wird von Staats wegen sowohl gerechnet als auch mehr oder weniger offen darauf spekuliert. Eines der Beispiele, die sich anbietet: Wer redet denn heute noch von den „Gefahrengebieten“ in Hamburg?

Die „Lösung“ für die Problematik gibt es nicht und diese kann auch nicht aus einem Bündnis heraus kommen. Die Repression und der Ein- bzw. Angriff auf bürgerlich-demokratische Grundrechte wie dem Versammlungsrecht bezieht sich nicht allein auf den antifaschistischen Kampf und kann deswegen auch nicht nur von diesen zurückgewiesen werden.

Dennoch ist es aus unserer Sicht angebracht, darüber nachzudenken, ob es angesichts neuer Qualitäten in der Repression nicht nötig wäre, sich auch politisch etwas mehr aus dem Fenster zu lehnen und erheblich mehr Druck aufzubauen. 500 Gekesselte brauchen Unterstützung dafür, diese Erfahrung im Betrieb, in ihrer Gewerkschaftsgruppe, im Verein, in der Schulklasse an der Uni etc. auf die Tagesordnung zu setzen.

Ich danke für Eure Aufmerksamkeit.

(Es gilt das gesprochene Wort)

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