Skip to content

Brechen in den Mediatheken bald dunklere Zeiten für Wissenschaftsjournalismus an?

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk soll "sparen" - und eine mögliche Zusammenlegung von Sendern wie ARTE und @3sat sorgt für Besorgnis. Mehr als 10.000 Stellungnahmen zu den Reformplänen sind eingegangen. Auch die Kommunikationsverantwortlichen der Helmholtz-Gemeinschaft haben sich klar positioniert, was wir nachfolgend dokumentieren:

Die Grafik zeigt auf einer Landkarte von Deutschland die Lage der Helmholtz-Zentren
Lage der Helmholtz-Zentren in Deutschland
Sehr geehrte Rundfunkkommission,
Mit diesem Schreiben wenden sich die für Medien- und Öffentlichkeitsarbeit Verantwortlichen der Helmholtz-Gemeinschaft und ihrer Forschungszentren an Sie. Unsere 18 Zentren mit zirka 45.000 Beschäftigten sind durch Bund und Länder finanzierte außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Thematisch forschen wir in den sechs Bereichen: Gesundheit, Erde und Umwelt, Energie, Materie, Information sowie Luftfahrt, Raumfahrt und Verkehr. Wir befassen uns mit den großen und drängenden Fragen der Gesellschaft und entwickeln hierfür nachhaltige Lösungsansätze für morgen und übermorgen.

Mit großer Sorge und großem Unverständnis haben wir von Ihren Plänen gehört, die Sender 3Sat und Arte zusammenzuschließen. Das Programm von zwei Sendern soll auf einen Sender komprimiert werden. Gewöhnlich heißt das: 50 Prozent des Programms entfallen.

In diesem Fall heißt das, es wird bei Sendern gekürzt, die ganz gezielt Aufgaben wahrnehmen, die nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk bedient. Dazu gehört auch die Berichterstattung aus der Wissenschaft. Wenn die tägliche Wissenschaftsberichterstattung in NANO, die Wissenschaftsdoku Wissenhoch2, Scobel, u.v.m. auf der Strecke zu bleiben, erfüllt uns das mit großer Sorge. Die qualitativ hochwertige und seriöse Kommunikation von Wissenschaft ist ein Grundpfeiler unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft und unseres Wohlstands.

Wie wichtig es ist, nicht nur wissenschaftliche Fakten, sondern auch den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess dem Publikum näher zu bringen, haben wir während der Pandemie gesehen und erleben es im Zeitalter von Fake News und „gefühltem“ Wissen und Halbwissen täglich. Gerade in den Sozialen Medien hat die sachliche und kritisch einordnende Berichterstattung über Wissenschaft immer häufiger keine Chance gegen die Logik der skandalisierenden Desinformation. Gute Berichterstattung über Wissenschaft braucht deshalb ein verlässliches Zuhause in den öffentlich-rechtlichen Sendern.

Wir schreiben Ihnen, weil Sie mit der Zusammenlegung der Sender einen gefährlichen Trend weiterbefördern: den Abbau von Expertise in den Medien. So wie Wirtschaft, Politik, Sport und Kultur benötigt auch die Wissenschaft eine valide mediale Begleitung. So wie andere Quellen produzieren auch wir (und andere Akteure) eine Vielzahl von Informationen. Wer aber ordnet diese ein, kuratiert und hinterfragt? Wenn kompetente Wissenschaftsredaktionen in den öffentlich-rechtlichen Medien abgebaut und auch freie Wissenschaftsjournalisten nicht mehr nachgefragt werden, wird die Expertise in den Medien einen erheblichen Schaden nehmen.

Aus unserer Sicht müsste das Gegenteil von Abbau passieren: In einer immer komplexer werdenden Welt muss mediale Wissenschafts-Expertise eher aufgebaut werden. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat hier einen medienpolitischen Auftrag. Redaktionen brauchen in ihren Reihen wissenschaftsjournalistische Kompetenz, um unwissenschaftliche Behauptungen in gesellschaftspolitischen Debatten seriös und aus eigener Urteilskraft hinterfragen oder einordnen zu können.

Wir brauchen mehr Formate und mehr Journalist:innen die den komplexen Prozess des Erkenntnisgewinns verstehen und medienadäquat vermitteln können: unterhaltsam und spannend, einordnend und fragend. Unsere Medienlandschaft braucht Journalist:innen, die in der Lage sind, Wissenschaftler:innen und Personen, die sich als solche ausgeben, die richtigen Fragen zu stellen. Die in der Lage sind, neue Formate zu entwickeln und in den modernen neuen Medien agieren können. Die ein Netzwerk zu Wissenschaftler*innen haben und auch anderen Fachredaktionen zuarbeiten können. Dies zu gewährleisten, ist Ihre Aufgabe. Eine Reduktion von bestehenden wissenschaftsjournalistischen Sendungen und Formaten bewirkt das Gegenteil.

Mit freundlichen Grüßen,
Ina Helms (HZB), Vorsitzende des Arbeitskreises Presse der Helmholtz-Gemeinschaft

Im Namen von Presse- und Öffentlichkeitsarbeits-Verantwortlichen folgender Zentren:

• Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), Roland Koch
• Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY, Maike Bierbaum
• Deutsches Krebsforschungszentrum, Sibylle Kohlstädt
• Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Sabine Hoffmann
• Forschungszentrum Jülich, Anne Rother
• GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, Anna Niewerth.
• Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB), Ina Helms
• Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf (HZDR), Simon Schmitt
• Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI), Susanne Thiele
• Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Doris Wolst
• Helmholtz-Zentrum Hereon, Torsten Fischer
• Helmholtz-Zentrum Potsdam - Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ, Josef Zens
• Max Delbrück Center, Jutta Kramm
• Helmholtz-Gemeinschaft (Geschäftsstelle), Sebastian Grote

Quelle (PDF)

Die Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V. ist die größte deutsche Organisation zur Förderung und Finanzierung der Forschung und mit rund 45.000 Mitarbeitern sowie einem Budget von 6 Milliarden Euro eine der größten wissenschaftlichen Forschungsorganisationen der Welt. Wikipedia

Julian Assanges vollständige Rede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) in Straßburg

Julian Assanges Rede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) in Straßburg stellt einen eindrucksvollen Appell an die Meinungs- und Pressefreiheit dar. In einer tief persönlichen und eindringlichen Ansprache beschreibt er seine jahrelange Inhaftierung, die internationalen Bemühungen um seine Freilassung und die zunehmenden Bedrohungen für den investigativen Journalismus weltweit. Assange ruft die Versammlung dazu auf, entschlossen gegen die Kriminalisierung von Berichterstattung vorzugehen und die fundamentalen Rechte auf Wahrheit und Informationsfreiheit zu verteidigen.

Hier veröffentlichen wir die vollständige Rede in deutscher Übersetzung.

„Herr Vorsitzender, verehrte Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, meine Damen und Herren.

Der Übergang von der jahrelangen Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis zur Anwesenheit jetzt hier vor den Vertretern von 46 Nationen und 700 Millionen Menschen, ist eine tiefgreifende und surreale Veränderung.

Die Erfahrung der jahrelangen Isolation in einer kleinen Zelle ist schwer zu vermitteln; es entzieht einem das Selbstgefühl und lässt im Wesentlichen nur die nackte Existenz übrig.

Ich bin noch nicht in der Lage, über das zu sprechen, was ich durchgemacht habe – den unerbittlichen Kampf ums Überleben, sowohl körperlich als auch geistig, noch kann ich über den Tod von Mitgefangenen durch Erhängen, Mord und medizinische Vernachlässigung sprechen.

Ich entschuldige mich im Voraus, wenn meine Worte ins Stocken geraten oder wenn es meinem Vortrag an dem Glanz mangelt, den man in einem so angesehenen Forum erwarten würde.

Die Isolation hat ihren Tribut gefordert, was ich zu kompensieren versuche, und es ist eine Herausforderung, mich in diesem Umfeld auszudrücken.

Doch der Ernst der gegenwärtigen Situation und das Gewicht der anstehenden Probleme nötigen mich, meine Vorbehalte beiseitezulegen und direkt mit Ihnen zu sprechen.

Ich habe einen langen Weg zurückgelegt, buchstäblich und im übertragenen Sinne, um heute vor Ihnen stehen zu können.

Bevor wir ins Gespräch kommen oder ich jegliche Ihrer Fragen beantworte, die sie vielleicht haben, möchte ich der Parlamentarischen Versammlung für ihre Resolution 2020 (2317), danken, in der es heißt, dass meine Inhaftierung einen gefährlichen Präzedenzfall für Journalisten darstellt, und in der darauf hingewiesen wird, dass der UN-Sonderberichterstatter über Folter meine Freilassung gefordert hat.

Ich bin auch dankbar für die Erklärung der Parlamentarischen Versammlung von 2021, in der sie ihre Besorgnis über glaubwürdige Berichte zum Ausdruck brachte, wonach US-Beamte über die Möglichkeit meiner Ermordung gesprochen hätten, und erneut meine sofortige Freilassung forderte.

Und ich begrüße es, dass der Ausschuss für Recht und Menschenrechte eine renommierte Berichterstatterin, Sunna Ævarsdóttir, beauftragt hat, die Umstände meiner Inhaftierung und Verurteilung sowie die daraus resultierenden Auswirkungen auf die Menschenrechte zu untersuchen.

Doch all diese Anstrengungen, die in meinem Fall unternommen wurden – ob sie von Parlamentariern, Präsidenten, Premierministern, dem Papst, UN-Beamten und -Diplomaten, Gewerkschaften, Juristen und Medizinern, Akademikern, Aktivisten oder Bürgern ausgingen – keine von ihnen hätte notwendig sein dürfen.

Keine der Erklärungen, Resolutionen, Berichte, Filme, Artikel, Veranstaltungen, Spendenaktionen, Proteste und Briefe der letzten 14 Jahre hätte notwendig sein dürfen.

Aber sie alle waren notwendig, denn ohne sie hätte ich nie wieder das Tageslicht erblickt.

Diese beispiellose globale Anstrengung war notwendig, trotz vorhandenen rechtlichen Schutzes, von dem vieles allerdings nur auf dem Papier stand oder nicht in einem auch nur annähernd vernünftigen Zeitrahmen wirksam geworden wäre.

Schließlich entschied ich mich für die Freiheit an Stelle nicht zu erlangender Gerechtigkeit, nachdem ich jahrelang inhaftiert war und mit einer 175-jährigen Haftstrafe ohne die Möglichkeit der Revision rechnen musste. Gerechtigkeit zu erlangen ist für mich jetzt ausgeschlossen, da die US-Regierung in ihrer Vereinbarung schriftlich darauf bestanden hat, dass ich keine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen darf, und auch keinen Antrag nach dem Freedom of Information Act (FOIA – US-Bundesgesetz zur Informationsfreiheit) stellen kann, um offenlegen zu lassen, was sie mir mit ihrem Auslieferungsersuchen angetan hat.

Ich möchte ganz klar sein. Ich bin heute nicht frei, weil das System funktioniert hat. Ich bin heute frei, weil ich nach jahrelanger Inhaftierung mich des Journalismus schuldig bekannt habe. Ich habe mich schuldig bekannt, bei einer Quelle nach Informationen gesucht zu haben. Ich habe mich schuldig bekannt, Informationen von einer Quelle erhalten zu haben. Und ich habe mich schuldig bekannt, die Öffentlichkeit über diese Informationen informiert zu haben. Für etwas anderes habe ich mich nicht schuldig bekannt. Ich hoffe, dass meine heutige Aussage dazu beitragen kann, die Schwächen der bestehenden Schutzmaßnahmen aufzuzeigen und so denjenigen zu helfen, deren Fälle weniger sichtbar, die aber in gleicher Weise verwundbar sind.

Jetzt, wo ich aus dem Kerker von Belmarsh herauskomme, scheint die Wahrheit in geringerem Maße wahrnehmbar zu sein, und ich bedauere, wie viel Boden in dieser ganzen Zeit verloren gegangen ist, in der das Aussprechen der Wahrheit untergraben, angegriffen, geschwächt und vermindert wurde.

Ich sehe mehr Straflosigkeit, mehr Geheimhaltung, mehr Vergeltungsmaßnahmen, wenn die Wahrheit gesagt wird, und mehr Selbstzensur. Es fällt schwer, nicht eine Verbindung herzustellen, zwischen der Strafverfolgung durch die US-Regierung gegen – die damit durch die internationale Kriminalisierung des Journalismus den Rubikon überschritten hat – und dem jetzigen abgekühlten Klima bezogen auf Meinungsfreiheit.

Als ich WikiLeaks gründete, wurde dies von einem einfachen Traum angetrieben: Menschen darüber aufzuklären, wie die Welt funktioniert, damit wir durch Verständnis etwas Besseres hervorbringen können.

Eine Karte von dem Ort zu haben, an dem wir uns befinden, lässt uns verstehen, wohin wir gehen könnten.

Wissen befähigt uns, Mächtige zur Rechenschaft zu ziehen und Gerechtigkeit dort einzufordern, wo es sie nicht gibt.

Wir beschafften und veröffentlichten Fakten über Zehntausende von versteckten Opfern des Krieges und anderer unsichtbarer Schrecken, über Programme für Ermordungen, Überstellungen, Folter und Massenüberwachung.

Wir haben nicht nur aufgedeckt, wann und wo diese Dinge passiert sind, sondern häufig auch die Richtlinien, Vereinbarungen und Strukturen, die dahinterstehen.

Als wir Collateral Murder veröffentlichten, die berüchtigten Kameraaufnahmen einer US-Apache-Hubschrauberbesatzung, die diensteifrig irakische Journalisten und ihre Retter in Stücke sprengt, schockierte diese visuelle Realität der modernen Kriegsführung die Welt.

Aber wir haben das Interesse an diesem Video auch dazu genutzt, um die Menschen auf die geheimen Richtlinien hinzuweisen, die festlegen, wann US-Militärangehörige tödliche Gewalt im Irak einsetzen dürfen und wie viele Zivilisten getötet werden können, bevor eine Genehmigung durch eine höhere Dienststelle hierfür eingeholt werden muss.

Tatsächlich beziehen sich 40 Jahre der mir möglichen 175-jährigen Haftstrafe auf die Erlangung und Offenlegung dieser Bestimmungen.

Die praktische politische Vision, die mir geblieben ist, nachdem ich in die schmutzigen Kriege und geheimen Operationen der Welt eingetaucht war, ist einfach: Hören wir zur Abwechslung auf, uns gegenseitig zu knebeln, zu foltern und zu töten. Diese Grundlagen gilt es umzusetzen, dann werden andere politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Prozesse Raum haben, sich um den Rest zu kümmern.

Die Arbeit von WikiLeaks war tief in den Prinzipien verwurzelt, für die diese Versammlung steht.

Ein Journalismus, der die Informationsfreiheit und das Recht der Öffentlichkeit auf Information verstärkte, fand in Europa seine natürliche operative Heimat.

Ich lebte in Paris und wir hatten formelle Firmenregistrierungen in Frankreich und Island. Unser journalistisches und technisches Personal war über ganz Europa verteilt.

Wir veröffentlichten weltweit von Servern in Frankreich, Deutschland und Norwegen.

Doch vor 14 Jahren verhaftete das US-Militär einen unserer führenden Whistleblower, Private First Class Manning, einen im Irak stationierten US-Geheimdienstanalysten.

Gleichzeitig hat die US-Regierung ein Ermittlungsverfahren gegen mich und meine Kollegen eingeleitet.

Die US-Regierung schickte illegal zahlreiche Agenten nach Island, zahlte Bestechungsgelder an einen Informanten, um unsere legale und journalistische Arbeit zu stehlen, und setzte Banken und Finanzdienstleister ohne formellen Prozess unter Druck, unsere Abonnements zu blockieren und unsere Konten einzufrieren.

Die britische Regierung beteiligte sich an einem Teil dieser Strafmaßnahmen. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestand sie ein, dass sie in dieser Zeit meine britischen Anwälte unrechtmäßig ausspioniert hat.

Letztlich war diese Schikane rechtlich unbegründet. Das Justizministerium von Präsident Obama entschied, mich nicht anzuklagen, weil es anerkannte, dass kein Verbrechen begangen worden war.

Noch nie zuvor hatten die Vereinigten Staaten einen Verleger wegen der Veröffentlichung oder Beschaffung von Regierungsinformationen strafrechtlich verfolgt.

Um solches tun zu können, wäre eine radikale und bedenkliche Neuinterpretation der US-Verfassung erforderlich.

Im Januar 2017 reduzierte Obama auch das Strafmaß von Manning, der verurteilt worden war, weil er eine meiner Quellen gewesen wäre.

Im Februar 2017 änderte sich die Landschaft jedoch dramatisch.

Präsident Trump war gewählt worden. Er ernannte zwei „Wölfe“ aus der MAGA-Bewegung (Make America Great Again): Mike Pompeo, einen Kongressabgeordneten aus Kansas und ehemaligen Manager der Rüstungsindustrie, zum CIA-Direktor und William Barr, einen ehemaligen CIA-Offizier, zum US-Justizminister.

Im März 2017 hatte WikiLeaks die Unterwanderung französischer politischer Parteien durch die CIA, ihre Bespitzelung französischer und deutscher Politiker, ihre Bespitzelung der Europäischen Zentralbank und der europäischen Wirtschaftsministerien und ihres Dauerauftrags der Bespitzelung der französischen Industrie als Ganzes aufgedeckt.

Wir enthüllten die ungeheuer große Produktion von Schadsoftware und Viren durch die CIA, die Unterwanderung von Lieferketten, die Unterwanderung von Antivirensoftware, Autos, Smart-TVs und iPhones.

CIA-Direktor Pompeo startete einen Vergeltungsfeldzug.

Es ist jetzt öffentlich bekannt, dass die CIA auf Grund Pompeos ausdrücklicher Anweisung Pläne ausarbeitete, mich aus der ecuadorianischen Botschaft in London zu entführen und zu ermorden, und die Verfolgung meiner europäischen Kollegen genehmigte, uns Diebstahl, Hackerangriffen und falschen Informationen aussetzend.

Auch meine Frau und mein kleiner Sohn wurden ins Visier genommen. Ein CIA-Agent wurde permanent beauftragt, meine Frau zu verfolgen, und es wurden Anweisungen gegeben, DNA aus der Windel meines sechs Monate alten Sohnes zu entnehmen.

So die Aussagen von mehr als 30 aktuellen und ehemaligen US-Geheimdienstmitarbeitern, die mit der US-Presse gesprochen haben, und die zusätzlich durch Aufzeichnungen bestätigt wurden, die im Rahmen einer Strafverfolgung gegen einige der beteiligten CIA-Agenten beschlagnahmt wurden.

Dass die CIA mich, meine Familie und meine Verbündeten mit aggressiven außergerichtlichen und außerstaatlichen Mitteln ins Visier nimmt, gibt einen seltenen Einblick in die Art und Weise, wie mächtige Geheimdienstorganisationen nationenübergreifende Unterdrückung betreiben. Diese Art der Unterdrückung ist nicht einzigartig. Einzigartig ist, dass wir aufgrund zahlreicher Informanten sowie gerichtlicher Ermittlungen in Spanien so viel über diesen Fall wissen.

Dieser Versammlung sind außerstaatliche Übergriffe durch die CIA nicht fremd.

Der bahnbrechende Bericht der Parlamentarischen Versammlung über CIA-Überstellungen in Europa enthüllte, wie die CIA geheime Haftanstalten betrieb und rechtswidrige Überstellungen auf europäischem Boden durchführte und damit gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht verstieß.

Im Februar dieses Jahres wurde die angebliche Quelle einiger unserer CIA-Enthüllungen, der ehemalige CIA-Offizier Joshua Schulte, zu vierzig Jahren Gefängnis unter extremen Isolationsbedingungen verurteilt.

Seine Fenster sind verdunkelt und eine Maschine über seiner Zellentür erzeugt 24 Stunden am Tag weißes Rauschen, so dass er nicht einmal durch die Tür hinausschreien kann.

Diese Bedingungen sind schlimmer als in Guantanamo Bay.

Nationenübergreifende Unterdrückung wird auch durch den Missbrauch rechtlicher Verfahren ausgeübt.

Das Fehlen wirksamer Schutzmaßnahmen dagegen bedeutet, dass Europa anfällig dafür ist, dass seine Rechtshilfe- und Auslieferungsverträge von ausländischen Mächten gekapert werden, um abweichende Äußerungen in Europa zu verfolgen.

In Mike Pompeos Memoiren, die ich in meiner Gefängniszelle las, prahlte der ehemalige CIA-Direktor damit, wie er den US-Justizminister unter Druck gesetzt habe, ein Auslieferungsverfahren gegen mich als Reaktion auf unsere Veröffentlichungen über die CIA einzuleiten.

Tatsächlich gab der US-Justizminister Pompeos Bemühungen nach und nahm die von Obama gegen mich eingestellten Ermittlungen wieder auf und verhaftete Manning erneut, diesmal als Zeuge.

Manning wurde über ein Jahr lang im Gefängnis festgehalten und zu einer Geldstrafe von tausend Dollar pro Tag verurteilt, um sie zu einer vertraulichen Aussage gegen mich zu zwingen.

Am Ende versuchte sie, sich das Leben zu nehmen.

Üblicherweise wird versucht, Journalisten dazu zu bringen, gegen ihre Quellen auszusagen.

Aber nun war Manning eine Quelle, die gezwungen war, gegen ihren Journalisten auszusagen.

Im Dezember 2017 hatte sich CIA-Direktor Pompeo durchgesetzt, und die US-Regierung übergab dem Vereinigten Königreich einen Haftbefehl, um meine Auslieferung zu erreichen.

Die britische Regierung hielt diesen Haftbefehl zwei weitere Jahre lang vor der Öffentlichkeit geheim, während sie, die US-Regierung und der neue Präsident Ecuadors den politischen, rechtlichen und diplomatischen Boden für meine Verhaftung ausarbeiteten.

Wenn mächtige Nationen sich dazu berechtigt fühlen, Personen außerhalb ihrer Grenzen ins Visier zu nehmen, haben diese Personen keine Chance, es sei denn, es gibt starke Sicherheitsvorkehrungen und einen Staat, der bereit ist, diese auch durchzusetzen. Ohne sie hat kein Einzelner die Hoffnung, sich gegen die enormen Ressourcen zu verteidigen, die ein staatlicher Aggressor einsetzen kann.

Als wäre die Situation in meinem Fall nicht schon schlimm genug, machte die US-Regierung eine gefährliche neue globale Rechtsauffassung geltend. Nur US-Bürger haben das Recht auf freie Meinungsäußerung. Europäer und andere Nationalitäten haben kein Recht auf freie Meinungsäußerung. Aber die USA nehmen in Anspruch, dass ihr Spionagegesetz immer noch für jeden gilt, unabhängig davon, wo man sich befindet. Nach Ansicht der US-Regierung müssen sich die Europäer in Europa also an das US-Geheimhaltungsrecht halten, ohne jegliche Möglichkeit einer Verteidigung. Ein Amerikaner in Paris kann darüber reden, was die US-Regierung vorhat – vielleicht. Aber für einen Franzosen in Paris ist das ein Verbrechen ohne jede Verteidigungsmöglichkeit, und er kann ebenso ausgeliefert werden wie ich.

Jetzt, da eine ausländische Regierung formell behauptet hat, dass die Europäer kein Recht auf freie Meinungsäußerung haben, ist ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen.

Andere mächtige Staaten werden unweigerlich nachziehen.

Der Krieg in der Ukraine hat bereits zur Kriminalisierung von Journalisten in Russland geführt, aber auf der Grundlage des Präzedenzfalls, der mit meiner Auslieferung geschaffen wurde, gibt es nichts, was Russland oder auch jeden anderen Staat daran hindert, europäische Journalisten, Verleger oder sogar Nutzer sozialer Medien ins Visier zu nehmen, indem sie behaupten, dass ihre Geheimhaltungsgesetze verletzt wurden.

Die Rechte von Journalisten und Verlegern im europäischen Raum sind ernsthaft bedroht.

Nationenübergreifende Unterdrückung darf hier nicht zur Norm werden.

Als eine der beiden großen Regeln festlegenden Institutionen der Welt muss die Parlamentarische Versammlung handeln.

Eine Kriminalisierung von Berichterstattung ist eine Bedrohung für den investigativen Journalismus überall.

Ich wurde von einer ausländischen Macht formell verurteilt, weil ich während meines Aufenthalts in Europa wahrheitsgemäße Informationen über diese Macht angefordert, erhalten und veröffentlicht habe.

Der grundlegende Kernpunkt ist einfach: Journalisten sollten nicht dafür belangt werden, dass sie ihre Arbeit machen.

Journalismus ist kein Verbrechen; er ist eine Säule einer freien und informierten Gesellschaft.

Herr Vorsitzender, verehrte Delegierte! Wenn Europa eine Zukunft haben soll, in der die Redefreiheit und die Freiheit, die Wahrheit zu verbreiten, keine Privilegien einiger weniger sind, sondern Rechte, die allen garantiert werden, dann muss Europa so handeln, dass das, was in meinem Fall geschehen ist, niemals jemand anderem passiert.

Ich möchte dieser Versammlung, den Konservativen, Sozialdemokraten, Liberalen, Linken, Grünen und Unabhängigen – die mich während dieser Tortur unterstützt haben, und den unzähligen Menschen, die sich unermüdlich für meine Freilassung eingesetzt haben, meinen tiefsten Dank aussprechen.

Es ist ermutigend zu wissen, dass es in einer Welt, die oft durch Ideologien und Interessen gespalten ist, ein gemeinsames Engagement für den Schutz grundlegender menschlicher Freiheiten gibt.

Die Meinungsfreiheit und alles, was sich daraus ergibt, steht an einem dunklen Scheideweg. Ich befürchte, dass es zu spät sein wird, wenn Regeln festlegende Institutionen wie die Parlamentarische Versammlung nicht den Ernst der Lage erkennen.

Verpflichten wir uns alle, unseren Teil dazu beizutragen, dass das Licht der Freiheit nie erlischt, dass das Streben nach der Wahrheit weiterlebt und dass die Stimmen der Vielen nicht durch die Interessen der Wenigen zum Schweigen gebracht werden.“

Sehen Sie sich die gesamte Anhörung hier an (mit Einführungen und anschließender Frage- und Antwortrunde):



Dieser bei Presenza erschienene Artikel ist auch auf Englisch, Italienisch verfügbar.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Ulrich Karthaus vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. 


Kriegsverbrechen in Beer Sheva: Rede zur Demonstration „Free Palestine“ in Wuppertal am 17. August 2024

Guten Tag,

Mein Name ist Sebastian Schröder und ich bin Vertreter in der Bezirksvertretung Elberfeld-West in Wuppertal für die Partei Die Linke.

Laut offiziellen Zahlen wurden mindestens 40.000 Menschen seit Oktober durch die israelische Armee getötet. Wissenschaftliche Artikel gehen von einer weitaus höheren Opferzahlen aus (The Lancet, Juli 2024).

In Deutschland wird jede Kritik an diesem Kriegsverbrechen häufig entweder mit Diffamierung oder mit Totschweigen beantwortet.

Luftbild von Be’er Scheva
Luftbild von Be’er Scheva
Quelle: Chumchum14, Lizenz: CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons
In Wuppertal herrscht Schweigen zu einem konkreten Kriegsverbrechen, verübt von Shimon Tobol. Er war bis zum 7. Oktober stellvertretender Bürgermeister der israelischen Grossstadt Beer Sheva.

Beer Sheva ist seit 1977 israelische Partnerstadt von Wuppertal. Es war die erste Städtepartnerschaft zwischen der Bundesrepublik und Israel.

Der israelische Botschafter Ron Prosper hat am 24. Mai 2024 Wuppertal besucht. Dieser Besuch fand ohne Ankündigung statt.

Wenige Tage zuvor hat die israelische Zeitung Haaretz und im Anschluss weitere Medien über die Verbrechen von Shimon Tobol berichtet, dem ehemaligen stellvertretenden Bürgermeister von Beer Sheva.

E hat als Soldat in Hebron und Umgebung von Oktober 2023 bis Januar 2024 menschenverachtende Fotos und Kommentare auf der Internetplatform X gepostet. Auf einigen Fotos zeigt sich Tobol mit Gefangenen, die verbundene Augen haben und gefesselt sind. Tobol selbst dokumentiert die Erniedrigung gefangener palästinensischer Männer durch Zurschaustellung und äussert rassistische Beschimpfungen.

Tobol rühmt sich am 9. November (!) 2023 der Beteiligung am Tod von Anas Nasser Muhammad Abu Atwan aus Dura. Es folgt seine Drohung, auch die Familie von Abu Atwan zu töten.

Tobol ist Mitglied eines Ablegers der Partei „Degel HaTorah“, einer ultraorthodoxen Partei aus dem konservativen Spektrum.

Er äussert in seinen Posts Vernichtungsphantasien, die er religiös begründet: Zur Rechtfertigung seines Verhaltens beruft er sich auf eine zentrale Geschichte in der hebräischen Bibel, auf „Amalek“ (vgl. Deborah Feldman: Judenfetisch, München 2023, 2-. Auflage, S. 154).

Die Geschichte ruft zur Vernichtung der Amalekiner auf, um das jüdische Volk vor diesen „Todfeinden“ zu retten. Nethanjahu hat in einer TV-Ansprache Ende Oktober darauf Bezug genommen und so bewusst einen Zusammenhang zwischen den Amalekinern und den palästinensischen Menschen in Gaza hergestellt. Diese Äusserung wurde in der Völkermord-Klage von Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof als Beispiel für genozidale Hassrede gegen die palästinensische Bevölkerung genannt.

Das zeigt: Dies ist kein Einzelfall, es sind unzählige Verbrechen der israelischen Armee vor und seit dem 7. Oktober dokumentiert, in Gaza und im Westjordanland.

Btselem hat ausführlich über das Lager Sde Teiman berichtet, über Todesfälle und systematische Folter. Tausende palästinensische Menschen befinden sich in unbefristeter Haft ohne Rechtsgrundlage. Diese sogenannte „Administrativhaft“ gibt es nur für palästinensische Menschen, nicht für Israelis.

Die Stadtverwaltung Beer Sheva schreibt auf Nachfrage von Haaretz zum Fall Tobol lediglich, dass Shimon Tobol zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Fotos nicht mehr für sie tätig war.

Die israelische Armee weist lediglich darauf hin, dass es aus Sicherheitsgründen verboten ist, Fotos von Gefangenen zu veröffentlichen. Seit Januar 2024 postet Shimon Tobol nicht mehr, aber was macht er heute?

Ist er immer noch Soldat in der israelischen Armee?

Droht er weiter mit Folter?

Verübt er weiter Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen?

Was ist aus den verhafteten Männern geworden?

Wo sind sie eingesperrt?

Gibt es gegen sie rechtstaatliche Verfahren oder sind sie in der rassistischen Administrativhaft?

Werden sie gefoltert?

Leben sie?

Wie geht es ihren Familien?

Wir fragen die lokalen Medien: Warum wurde in Wuppertal bisher nicht über den weltweit beachteten Fall Tobol berichtet ?!

Wir fragen die politischen Parteien hier in Wuppertal: Wie stehen sie dazu, dass ein hochrangiger Lokalpolitiker einer verpartnerten Stadt stolz seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit in aller Öffentlichkeit präsentiert ?!

Wir fragen die antifaschistische Zivilgesellschaft hier in Wuppertal: Wie könnt Ihr in Deutschland gegen die Rechten kämpfen und über die Gräueltaten der Rechten in Israel schweigen ?!

Wir verurteilen Euer Schweigen und Eure Doppelmoral!

„Gezwungen, das Richtige so zu tun, dass es falsch aussieht“

Das Foto zeigt das Buchcover mit Titel und HerausgeberInnen vor dem Hintergrund eines zerstörten Gebäudes
© Sebastian Schröder
Anfang dieses Jahres erschien in der Edition Tiamat der Sammelband „Nach dem 7. Oktober - Essays über das genozidale Massaker und seine Folgen“, herausgeben von Tania Martini und Klaus Bittermann. Es war das erste im deutschsprachigen Raum erschienene Buch, das den 7. Oktober zum Thema hat. Aber wer nach Informationen und Analysen sucht - in diesem Buch findet mensch sie nicht.

Adressiert ist das Buch an die linke Öffentlichkeit in Deutschland. Die vielen linken Organisationen und Menschen in Deutschland, die verschämt oder passiv-aggressiv schweigen oder die sogar die israelische Politik rechtfertigen, sollen durch das Buch genau darin bestätigt und bestärkt werden.

Nach rechtsstaatlichen Maßstäben hätten die Verbrechen vom 7. Oktober durch ein unvoreingenommenes Justizsystem untersucht und dann über die Täter*innen und die Verantwortlichen geurteilt werden müssen. In einem zweiten Schritt hätten die Ursachen - die systematische Ungleichheit und die historische Ungerechtigkeit - verhandelt und im Kompromiss überwunden werden müssen. Nur dieser Prozess der Versöhnung kann den Konflikt lösen.

Stattdessen sieht die ganze Welt in Gaza in allen Einzelheiten ein außergewöhnliches Kriegsverbrechen, das in Heftigkeit, Ausmaß und Dauer so zuletzt im Zweiten Weltkrieg - bei der Belagerung von Leningrad 1941-44 - verübt wurde. Blockade, Bombardierung, Vertreibung, Verschleppung und Ermordung, Zerstörung ganzer Stadtteile und jeglicher Infrastruktur charakterisieren das Vorgehen der israelischen Armee. Es sind unzählige rassistische und gewalttätige Erklärungen höchster Politiker*innen und Militärs belegt, ebenso ist die vollkommen entgrenzte Kriegsführung der israelischen Armee dokumentiert.

„Nach dem 7. Oktober“ bietet keine Analysen zum Verständnis der Ereignisse, sondern ausschließlich eine radikal pro-israelische Position, die der Rechtfertigung von Unverhältnismäßigkeit und Entmenschlichung dient, wie im Folgenden dargelegt werden soll.

Nur vier der Texte wurden für das Buch geschrieben, alle anderen Beiträge sind ursprünglich Veröffentlichungen in der deutschen Presse aus dem Zeitraum von Oktober bis Dezember 2023. „Sie bezeugen einen bestimmten historischen Moment“, so Martini und Bittermann Und vor allen Dingen zeigen sie einen einseitigen Standpunkt.

Die zentralen Argumente werden von Martini und Bittermann im Vorwort knapp formuliert. Indem der 7. Oktober als „genozidales Massaker“ gelabelt wird, soll es als heutige Verlängerung des historischen Judenmordes des deutschen Faschismus gesehen werden. Das „Charakteristische der Shoah“ sei der „Antisemitismus und das Totale der Tat“. Die Herausgeber*innen sehen deshalb den „Zionismus als legitimes Projekt einer verfolgten und versprengten Minderheit“. Diese Position ist zentral für die Rechtfertigung der israelischen Politik gegenüber den Palästinenser*innen.

Der Gegner ist die postkoloniale Theorie, die nach Meinung der Herausgeber*innen die Delegitimierung des Staates Israel zum Ziel hat. Denn durch Kritik an Unrecht und Ungerechtigkeit wird die herausragende Bedeutung des Staates Israel als Folge von einzigartiger Verfolgung und Ermordung relativiert. „Israel […] als siedlerkolonialistischen Staat zu beschreiben, der Rassismus, gar Apartheid praktiziere und schlimmer noch, sich eines Genozids an den Palästinensern schuldig mache, soll diesen Staat delegitimieren.“ Im Kontext der anderen Thesen von Martini/Bittermann ist klar, dass jede kritische Äußerung als substantielle Gefährdung des Staates Israel, und damit des Staates der Überlebenden der Shoa, gelesen werden soll. Israelkritik und Antisemitismus werden gleichgesetzt. Auf die analytische Kategorie „siedlerkolonialistischer Staat“ wird nichts weiter entgegnet, auch nicht auf die Vorwürfe von systemischem Rassismus.

Während also der israelische Staat „als sichere Heimstätte und Resultat aus der von Diskriminierung, Verfolgung und Mord geprägten Geschichte der Juden und Jüdinnen“ gesehen wird, seien die Taten des 7. Oktober „unbeschreibbar“: „Das Morden der Hamas war derart hassvoll, sadistisch und entmenschlichend, dass die richtigen Worte fehlen, um zu beschreiben, was geschehen war.“

Israel ist das Opfer der Hamas, die „das Töten aller Juden“ zum Ziel hat. Obwohl die Hamas „seit 2007 die Palästinenser regelrecht enteignet und unterdrückt hat“ - was immer das auch genau heißen mag - werden jetzt Hamas und Gaza von Martini/Bittermann gleichgesetzt. „Dieses Massaker war lange und im Detail geplant - mit immens viel Geld und einer ungeahnt perfekten Infrastruktur in Gaza im Rücken.“ Nach dieser Argumentationskette sind alle Taten der israelischen Armee - obwohl Martini/Bittermann zugeben, dass die „Folgen der Bombardierung […] fürchterlich“ sind - gerechtfertigt: „Dennoch ist die Zerstörung der terroristischen Infrastruktur und der Hamas alternativlos.“ Stützen wollen die Autorinnen ihre kollektive Dämonisierung der Palästinenser*innen mit den Ergebnissen einer Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung, nach der die Mehrheit der befragten Palästinenser*innen die Taten des 7. Oktobers gutheiße.

Nicht nur werden Hamas und Gaza gleichgesetzt, sondern die Kritik an der israelischen Regierung wird pauschal mit dem Antisemitismus-Verdacht belegt: „Andere […] betrieben eine perfide Täter-Opfer-Umkehr. Weltweit kam es zu antisemitischen Äußerungen und Übergriffen.“ Damit die klassische Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus diffamierend wirken kann, müssen die Autor*innen unkonkret bleiben. „Oft wurden Plakate, die ihre Gesichter [der israelischen Geiseln] zeigten und in vielen Metropolen plakatiert waren, um an sie zu erinnern, heruntergerissen.“

Dass die israelische Regierung rechtsradikal ist, kann von den Autor*innen nicht ignoriert werden. Im Gegensatz zur „rechtsextremen Hamas“ gibt es in Israel anscheinend aber nur zwei Faschisten, und deren Agieren ist dysfunktional: „Ein Finanzminister Bezalel Smotrich oder ein Itamar Ben-Gvir […] sind längst auch ein Risiko für Israels innere Sicherheit.“ Die völkerrechtswidrige Besatzung oder die Einteilung der Menschen anhand ethnischer Kriterien werden nicht angesprochen. Stattdessen werden der israelische Staat und die israelische Gesellschaft als vorbildlich demokratisch beschrieben. Mit dem Verzicht auf die reaktionäre Justizreform und dem Erhalt der Rolle des Obersten Gerichts, mit dem Einsetzen einer Kommission zur Untersuchung der Fehler der Armee und mit einer Meinungsumfrage, in der dem Rücktritt von Netanjahu - nach Kriegsende - mehrheitlich zugestimmt wird, beweist sich nach Martini/Bittermann Israel als zivilisiertes Ganzes, das unter den Fehlern von Netanjahus Regierung leidet.

Sie rekurrieren auf das Bild von Israel als der einzigen Demokratie im Nahen Osten; so wollen sie davon ablenken, dass die Mehrheit der Bürger*innen rechts bis rechtsaußen gewählt hat, dass die Mehrheit der jüdisch-israelischen Bevölkerung rechts ist. Israel ist nicht nur das Opfer der Hamas, sondern auch der feindlichen arabischen Nachbarländer: „Dem Beschuss aus Gaza folgten Raketen aus Jemen und Libanon. Israel blieb keine Zeit für Trauer.“

Diese Thesen - israelische Harmlosigkeit gegen palästinensisch-arabische Totalaggression - sind der Grundkonsens aller Beiträge des Buches. Viele Artikel sind nicht der Rede wert; aus einigen Beiträgen sollen aber exemplarische Passagen zitiert werden.

Der Artikel „Wir, die Linken? Nicht mehr!“ der französischen Soziologin Eva Illouz gehört zu den bekanntesten Texten in der Diskussion in Deutschland, auch weil die Süddeutsche Zeitung auf eine Bezahlschranke verzichtet. Die linksliberale Intellektuelle beruft sich als Einzige auf rechtliche Kategorien: „Moralisches Empfinden, bürgerliches Recht und internationales Recht machen eine klare Unterscheidung zwischen verschiedenen Tötungsarten. Kollateralschäden […] unterscheiden sich moralisch und rechtlich von der Enthauptung von Kindern, weil ein anderes Maß an Absicht und direkter Verantwortung dahinter steht. Diese Unterscheidung zu leugnen, käme einer Leugnung der Voraussetzungen unseres Rechtssystems gleich.“ Da schon mit den ersten Erklärungen israelischer Politiker*innen und Generäle nach dem 7. Oktober offen der Bruch des Völkerrechts angekündigt wurde, richtet sich jede Forderung nach der Einhaltung internationalen Rechtes immer gegen Israel, das hat Eva Illouz wohl als eine von wenigen nicht erkannt. Und auch der Mythos der durch die Hamas enthaupteten Kinder wurde bekanntlich kurz nach dem 7. Oktober zweifelsfrei widerlegt. Trotzdem macht Illouz diese Lüge zu einem wichtigen Bild in ihrer Argumentation. Natürlich schweigt sie gleichzeitig zu den Fotos und Videos der durch israelische Bomben geköpften Kinder in Gaza.

Sie besteht auch darauf, dass es zwischen dem allgemeinen Konflikt zwischen Palästinenser*innen und Israelis einerseits und der Intention der Hamas andererseits keinen Zusammenhang gäbe: „Aber wir haben es hier mit mehreren […] Narrativen ohne feste oder ursächliche Verbindung zu tun.“ Sie sagt daraus folgernd: „[…] ich weigere [mich], das Leiden der Palästinenser am Verlust ihres Landes zu kontextualisieren. Wenn ich ihre Tragödie erfassen will, muss ich den Kontext ausblenden.“ Nicht verstehen wollen als Erkenntnismethode: So versucht sie, die israelische Regierung und Armee zu decken, und gleichzeitig das rechtswidrige und grausame Verbrechen an den palästinensischen Menschen zu relativieren.

Der Soziologe Armin Nassehi ist in der deutschen Öffentlichkeit als konservative Stimme sehr präsent. Bei ihm heißt es: Israel „kann nach dem Überfall der Hamas nur alles falsch machen. Die Hamas nicht zu zerstören, wäre eine Garantie für bereits angekündigte Wiederholungen des Überfalls. Es zu tun, erzeugt Bilder, die Israel ästhetisch in die Nähe eines Aggressors bringen. Die asymmetrische Kriegsführung der Hamas macht die eigene Bevölkerung nicht nur zur Geisel, sondern führt den Gegner als moralisches Monster vor. Die Kategorien verschwimmen, und das nicht, weil Israel prinzipiell etwas falsch machen würde, sondern weil es gezwungen wird, das Richtige so zu tun, dass es falsch aussieht.“ Offener kann die bedingungslose Unterstützung der israelischen Kriegsverbrechen nicht formuliert werden.

Seyla Benhabib, weltbekannte Politologin, Philosophin und Mitherausgeberin der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, fordert: „Es darf nicht zu einer zweiten Nakba kommen.“ Allerdings sind die von ihr geforderten Maßnahmen ja gerade zentrale Elemente der systematischen Vertreibung: „Der Waffenstillstand muss mit der sofortigen Evakuierung der Verwundeten, Alten und Jungen aus dem Gazastreifen einhergehen. […] Die Nachbarländer und die Gemeinden im Westjordanland sowie Jordanien und Ägypten und andere Länder müssen sich bereit erklären, palästinensische Flüchtlinge aufzunehmen, die den Kampfhandlungen entkommen wollen.“

Der Historiker Volker Weiß hat ein Standardwerk zur Neuen Rechten geschrieben. Er behauptet in „Nach dem 7. Oktober“: „Hinter einer pro-israelischen Fassade der Partei gibt es […] ganz andere Präferenzen.“ Die AfD, die im Bundestag 2019 den Anstoß für den berüchtigten Pro-Israel-Beschluss zu BDS (Boykott, Desinvestition, Sanktion) gegeben hat, ist „als Bollwerk gegen Antisemitismus […] unglaubwürdig.“ Das bürgerliche Pro-Israel-Lager möchte anscheinend nicht mit der AfD zusammen gesehen werden. Gewöhnlicher Rassismus darf bei Weiß auch nicht fehlen: Antisemitische Thesen „rufen im Netz begeisterte Reaktionen bei Nutzern mit türkischen und arabischen Namen hervor“.

Vier Beiträge wurden in „Nach dem 7. Oktober“ zum ersten Mal veröffentlicht. Zu Doron Rabinovici „Im Morgengrauen“ und Natan Snaider „Die Wunde Israel“ wird in Kürze ein eigener Artikel erscheinen, da dies die beiden programmatischen Texte des Buches sind.

Phillipp Lenhards nichtssagender Aufsatz „Worte finden“ folgt ganz der oben beschriebenen Argumentationskette. Neuartig ist allerdings seine These, die der Abwertung der Menschen mit palästinensischem Hintergrund in Deutschland dient: „Palästinenser stellen […] mit geschätzten 200.000 Personen […] eine vergleichsweise kleine Gruppe dar. […] Die Forderung, endlich den ‚migrantischen Stimmen‘ zuzuhören, diente also nicht selten dem Zweck, unter Verweis auf palästinensische Kronzeugen die deutsche Unterstützung Israels zu delegitimieren.“

Es folgen jetzt Zitate aus „Vom UN-Podium in den Gaza-Tunnel“ von Thomas von der Osten-Sacken und Oliver M. Piecha, eigens für das Buch „Nach dem 7. Oktober“ geschrieben:

„Da hocken sie nun im Dunklen der Tunnel von Gaza […] sie tragen ihr grünes Band um die Stirn und eine Balaclava macht sie gesichtslos. Bis sich irgendwo eine Falltür öffnet, der Himmel sichtbar wird und etwas Furchtbares auf die Welt losgelassen wird. Quälen, Töten, Vergewaltigen und Beutemachen: So verweist ihr Stammbaum doch eher auf die Orks, dieses Fußvolk des Bösen aus Tolkiens ‚Herr der Ringe‘. […] Es fällt schwer, solche Gestalten ob ihrer stumpfen, ungeheuren Brutalität nicht zu entmenschlichen.“

„Die hohe Kunst der Palästinenser bestand über Jahrzehnte im Sich-oben-Halten; möglichst ganz oben auf der Agenda, immer getrieben von der Angst, unter die Aufmerksamkeitsschwelle zu rutschen. ‚Palästina‘ wurde so zu einer extrem erfolgreichen Marke.“

„Wenn der Palästinenser nicht um Aufmerksamkeit heischt, ist er praktisch schon vergessen.“

„Der Palästinenser harrt als Ork im Tunnel oder liegt als Kind unter Haustrümmern begraben, ob Täter oder Opfer, er ist gesichtslos.“

„Wie ein Heer von Golems stehen sie [gemeint sind Pro-Palästina-Demonstrierende] plötzlich massenhaft herum, weil der Hass auf Israel einen Funken Lebendigkeit in ihnen erregt hat. Wirklich relevant ist dabei wohl einzig die Frage nach dem Identifikationsangebot ‚Palästina‘ als Ausdruck diverser Frustrationserfahrungen muslimisch geprägter Einwanderer.“

Wir fragen die anderen Autor*innen in „Nach dem 7. Oktober“: Macht es Ihnen nichts aus, im gleichen Buch wie Osten-Sacken/Pliecha zu veröffentlichen?

Wir fragen die Rezensent:innen des Buches „Nach dem 7. Oktober“: Warum haben Sie nicht auf die Aussagen von Osten-Sacken/Pliecha hingewiesen?!?

Dieses Buch unterstützt voll und ganz die brutale Vertreibung, Unterdrückung und Vernichtung des palästinensischen Volkes durch die israelische Politik. Nirgendwo Zweifel, nirgendwo Debatte - alle Autor*innen stehen felsenfest an der Seite des israelischen Staates. Ihre Beiträge erklären nichts und rechtfertigen alles.

Eine Rezension von Sebastian Schröder, Diplom-Soziologe

Erstveröffentlichung auf Die Freiheitsliebe.


Wie Israel seine Kriegsverbrechen in Gaza beschönigen will

Die israelische Armee nutzt den Anschein einer internen Rechenschaftspflicht, um Kritik von außen abzuwehren. Doch ihre Bilanz zeigt, wie wenig die Täter bestraft werden.

Palästinenser eilen zur Rettung von Verletzten unmittelbar nach einem israelischen Luftangriff auf das Haus der Familie Salah im Gebiet Al-Batn Al-Thameen in Khan Yunis, südlicher Gazastreifen, 7. Dezember 2023.
Palästinenser eilen zur Rettung von Verletzten unmittelbar nach einem israelischen Luftangriff auf das Haus der Familie Salah im Gebiet Al-Batn Al-Thameen in Khan Yunis, südlicher Gazastreifen, 7. Dezember 2023.
Foto © Mohammed Zaanoun
Das Ausmaß des Grauens, das Israel in den letzten neun Monaten in Gaza angerichtet hat, ist kaum zu fassen. Die Entscheidung der israelischen Armee, ihre Befugnisse zur Bombardierung nichtmilitärischer Ziele und zur Schädigung der Zivilbevölkerung von Beginn des Krieges an erheblich auszuweiten, hat zur Tötung von Zehntausenden von Palästinensern geführt und den Gazastreifen bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Die überlebende Bevölkerung ist infolge der vorsätzlichen israelischen Politik, die gegen das internationale Kriegsrecht verstößt, mit Massenhunger und Vertreibung konfrontiert.

Jeden Tag tauchen mehr und mehr entsetzliche Beweise auf, die offenlegen, was viele Israelis zu verdrängen versuchen. Der südafrikanische Fall, in dem Israel des Völkermords beschuldigt wird, wird vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) fortgesetzt. Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) hat Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beantragt. Eine Kommission des UN-Menschenrechtsrates hat festgestellt, dass israelische Sicherheitskräfte Verbrechen wie Hunger, Mord, vorsätzliche Schädigung von Zivilisten, Zwangsverschleppung, sexuelle Gewalt und Folter begangen haben. Selbst die Vereinigten Staaten, Israels engster Verbündeter, kamen zu dem Schluss, dass Israels Waffeneinsatz im Gazastreifen mit den Menschenrechten unvereinbar" ist.

Während sich diese Anschuldigungen häufen, beginnt Israel neben seiner laufenden Militärkampagne mit einer weiteren groß angelegten Operation: der größten Verbrechensvertuschung in der Geschichte des Landes.

Israelische Politiker und Diplomaten wiederholen bis zum Überdruss das altbekannte Mantra, Israels Armee sei die moralischste der Welt. Diese Behauptung stützt sich unter anderem auf die angeblich robusten Rechtsmechanismen des Militärs, die angeblich jeden Angriff genehmigen und Verdachtsfällen von Völkerrechtsverletzungen nachgehen. In ihren Argumenten vor dem IGH gegen den Vorwurf, Israel begehe Völkermord, lobte Israels Verteidigungsteam wiederholt diese Rechtsmechanismen: Selbst wenn israelische Soldaten Kriegsverbrechen begehen, so argumentierten die Anwälte, sei das System in der Lage, sie selbst zu untersuchen.

Trauernde werfen einen letzten Blick auf die Familie des Leiters des Gaza-Büros von Al-Jazeera, Wael Al-Dahdouh, im Krankenhaus der Al-Aqsa-Märtyrer in Deir Al-Balah, 26. Oktober 2023.
Trauernde werfen einen letzten Blick auf die Familie des Leiters des Gaza-Büros von Al-Jazeera, Wael Al-Dahdouh, im Krankenhaus der Al-Aqsa-Märtyrer in Deir Al-Balah, 26. Oktober 2023.
Foto © Mohammed Zaanoun
Ein neuer Bericht, den ich für die Menschenrechtsgruppe Yesh Din verfasst habe, zeigt jedoch, dass die Hauptaufgabe des israelischen militärischen Strafverfolgungssystems darin besteht, den Anschein einer internen Rechenschaftspflicht aufrechtzuerhalten, um sich vor externer Kritik zu schützen. Das Magazin +972 und der Guardian haben kürzlich aufgedeckt, dass israelische Geheimdienste die Aktivitäten des IStGH überwachen, zum Teil um festzustellen, welche Vorfälle an die Staatsanwaltschaft zur Untersuchung weitergeleitet werden; auf diese Weise könnte Israel rückwirkend Untersuchungen in denselben Fällen einleiten und dann das Mandat des IStGH unter Berufung auf den "Grundsatz der Komplementarität" ablehnen.

Illusion der Rechenschaftspflicht
Ende Mai gab Israels Militärgeneralanwältin (MAG), Yifat Tomer-Yerushalmi, bekannt, dass sie strafrechtliche Ermittlungen in mindestens 70 Fällen von mutmaßlichen Kriegsverbrechen im Gazastreifen angeordnet habe. Dies geschah, nachdem das Militär Hunderte von Vorfällen an den "Fact-Finding Assessment Mechanism" (FFAM) des Generalstabs verwiesen hatte, ein militärisches Gremium, das eine erste und schnelle Untersuchung mutmaßlicher Verstöße gegen das Völkerrecht durchführen soll, bevor das MAG entscheidet, ob eine strafrechtliche Untersuchung eingeleitet wird oder nicht.

Angeblich sind dies Zeichen für Israels Engagement für die Einhaltung der Kriegsgesetze. Eine Untersuchung der letzten zehn Jahre israelischer Angriffe auf den Gazastreifen - einschließlich der als "Protective Edge" bekannten Offensive 2014, der Unterdrückung des Großen Marsches der Rückkehr 2018/19 und der als "Guardian of the Walls" bekannten Operation 2021 - zeigt jedoch, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass Israel die Absicht hat, Kriegsverbrechen ordnungsgemäß zu untersuchen, zu bestrafen oder zu verhindern.

Verteidigungsminister Yoav Gallant mit Premierminister Netanjahu, US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, US-Militärchef CQ Brown und IDF-Chef Herzi Halevi in Tel Aviv, 18. Dezember 2023
Foto: U.S. Embassy Jerusalem, Lizenz: CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons, via Wikimedia Commons
Seit 2014 wurden Hunderte von Vorfällen, die den Verdacht auf Kriegsverbrechen aufkommen ließen, dem Militär zur Kenntnis gebracht. Die überwiegende Mehrheit davon wurde an das FFAM weitergeleitet, aber ohne strafrechtliche Ermittlungen eingestellt, nachdem sie von den Mitarbeitern des Mechanismus über unangemessen lange Zeiträume "überprüft" wurden. So wurden beispielsweise einige Fälle, die potenzielle Verstöße aus dem Jahr 2014 betrafen, vom FFAM noch im Jahr 2022 geprüft.

Die Arbeit des FFAM und die Zusammensetzung seiner Mitglieder sind nach wie vor vertraulich, so dass wir die Einzelheiten seines Prüfungsverfahrens oder die Gründe für die Einstellung von Fällen ohne Ermittlungen wahrscheinlich nie erfahren werden. Unabhängig davon, ob die FFAM Empfehlungen ausspricht oder nicht, wurden die meisten von der MAG eingeleiteten und von der Militärpolizei durchgeführten strafrechtlichen Ermittlungen eingestellt, ohne dass Soldaten oder Kommandeure angeklagt wurden.

Von fast 600 Vorfällen im Gazastreifen in den letzten 10 Jahren, bei denen der Verdacht auf Gesetzesverstöße bestand und deren Ergebnisse bekannt sind, führten nur drei Ermittlungen - eine pro Militäroffensive - zu einer Anklageerhebung. Selbst in diesen seltenen Fällen bleibt die Beschönigung zentraler Bestandteil der Taktik des Militärs, wobei die Täter einer harten Bestrafung entgehen.

Zum ständigen Versagen des Militärs im Umgang mit dem Verdacht auf Kriegsverbrechen kommt hinzu, dass sich das israelische Strafverfolgungssystem bis heute nicht mit der israelischen Politik der Gewaltanwendung befasst und es unterlassen hat, gegen Entscheidungsträger in Regierung und Militär zu ermitteln. Mit anderen Worten: Diejenigen, die direkt für die sich abzeichnende Katastrophe im Gazastreifen verantwortlich sind - die das Vorgehen der Armee gegen unschuldige Zivilisten ausgeweitet, Israels Richtlinien für die Bombardierung und das offene Feuer diktiert, die humanitäre Hilfe eingeschränkt und ganze Gebiete im Gazastreifen als Tötungszonen ausgewiesen haben - werden in Israel wahrscheinlich straffrei bleiben.

Dies ist zum Teil auf einen inhärenten Interessenkonflikt innerhalb des Strafverfolgungssystems zurückzuführen. Der Generalstaatsanwalt und der Generalstaatsanwalt des Militärs, die mit der Untersuchung und Verfolgung mutmaßlicher Verstöße gegen das Völkerrecht beauftragt sind, dienen auch als Rechtsberater für die Genehmigung der tödlichen Maßnahmen Israels in Gaza. Es ist schwer vorstellbar, wie eines dieser Gremien nun eine echte und gründliche Untersuchung einer Politik einleiten will, die sie selbst mitgestaltet haben.

Vermutlich werden einige der kürzlich eingeleiteten Untersuchungen zu Anklagen gegen untergeordnete Soldaten führen, die palästinensische Häuser geplündert oder palästinensische Gefangene misshandelt haben. Es ist jedoch zu bedenken, dass diese Fälle das Image der Armee verbessern könnten, indem sie nach außen hin den Anschein einer internen Rechenschaftspflicht erwecken.

Aber das sind nur die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. In den allermeisten Fällen wird das System dazu dienen, Kriegsverbrechen zu beschönigen. Und wenn es dies tut, sollten die israelischen Führer nicht überrascht sein, wenn sie als Angeklagte vor internationalen Gerichten landen.

Eine Version dieses Artikels wurde zuerst auf Hebräisch in Local Call veröffentlicht. Lesen Sie ihn hier.

Von Dan Owen 24. Juli 2024, Dan Owen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Yesh Din und Autor des Berichts "The General Staff Whitewashing Mechanism: Das israelische Strafverfolgungssystem und Verstöße gegen das Völkerrecht und Kriegsverbrechen in Gaza".

Quelle: +972mag

[Nicht authorisierte] Übersetzung: Thomas Trueten

186.000 Getötete in Gaza

An die Wuppertaler Unterstützenden des offenen Briefes „ Aus aktuellem Anlass: Kein Platz für Antisemitismus an Hochschulen“

Sehr geehrter Herr Lutter, sehr geehrter Herr Bedenbender, sehr geehrter Herr Freudenberg, sehr geehrte Frau Gräsel, sehr geehrter Herr Hartung, sehr geehrter Herr Heinen, sehr geehrter Herr Johrendt, sehr geehrter Herr Jürges, sehr geehrte Frau König, sehr geehrte Frau Schneider, sehr geehrter Herr Grimm, sehr geehrter Herr Hunze, sehr geehrte Frau Lütke-Harmann,

Das Foto zeigt Zerstörungen in Rafah
Foto © Mohamed Zanoun via activestills.org
Sie haben am 2. Juli 2024 den offenen Brief „ Aus aktuellem Anlass: Kein Platz für Antisemitismus an Hochschulen“ unterzeichnet.

Ich möchte Sie auf die folgende Veröffentlichung aufmerksam machen:

„Counting the dead in Gaza: difficult but essential“ - Artikel von Rasha Khatib, Martin McKee und Salim Yusuf, erschienen am 5. Juli 2024 in The Lancet.

Der Artikel bezieht sich auf die grosse Studie „Global burden of armed violence“, Geneva Declaratian Secretariat, Geneva 2008

Es wird angenommen, dass die Zahl indirekter Todesfälle in modernen bewaffneten Auseinandersetzungen die Zahl direkter Todesfälle um den Faktor drei bis fünfzehn übersteigt. Die Autor:innen setzen für Gaza das Ergebnis konservativ mit dem Faktor vier an. Sie kommen unter dieser Annahme, bei Berücksichtigung von Unsicherheiten, zu dem Ergebnis, dass von Oktober 2023 bis zum 19. Juni 2024 circa 186.000 Menschen getötet wurden.

Als angemessener historischer Vergleich der Belagerung einer Millionenstadt ist die Blockade von Leningrad 1941 bis 1944 heranzuziehen. Hier wurde innerhalb von 28 Monaten schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung durch Hunger, Krankheit und Beschuss getötet. Dabei starben von den circa 1,1 Millionen Opfern etwa 16.000 direkt durch Waffengewalt. Die systematische Zerstörung der Infrastruktur durch die deutsche Armee war integraler Teil der deutschen Kriegsführung.

Es gibt allerdings auch signifikante Unterschiede zwischen Leningrad und Gaza: Während Leningrad eine weitläufige Metropole mit Umland war, umfasst Gaza lediglich eine Fläche von 45 Quadratkilometern.

Gaza ist mit über 12.000 Einwohner:innen pro Quadratkilometer der am dichtesten besiedelte Ort der Welt. Etwa die Hälfte der Bevölkerung sind Kinder und Jugendliche. Durch diese Faktoren liegt eine hohe Vulnerabilität vor.

Durch die Blockade und die Bombardierung seit dem 10. Oktober wurden alle Bereiche der Infrastruktur zerstört. Elektrizität, Wasser und Abwasser, Strassen, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten sind Ziele systematischer Angriffe durch die israelische Armee.

Daraus resultiert ein eklatanter Mangel an Wasser, an Nahrungsmitteln, an Medizin, an Dingen des täglichen Bedarfs. Durch gravierenden und langhaltenden Mangel hervorgerufene Schwäche führt zu Verbreitung vermeidbarer Krankheiten, zum zunehmenden Sterben von Kranken, Alten und Kindern.

Nahezu alle Bewohner:innen sind Binnenvertriebene. Mehr als fünfzig Prozent der Wohngebäude sind zerstört. Unter den Trümmern werden mindestens 10.000 nicht geborgene Leichen vermutet.

Alle Bürger:innen in Gaza sind seit neun Monaten in einer körperlicher und psychischen Extremsitation, die durch Verlust und Todesangst gekennzeichnet ist.

Israel hat eine der modernsten Streitkräfte weltweit. Armee, Luftwaffe und Marine setzen Waffen aller Gattungen und Munition aller Kaliber in Gaza ein. 1000 Pfund Bomben und 2000 Pfund Bomben werden in die Stadt mit der welthöchsten Bevölkerungsdichte abgeworfen.

Es muss davon ausgegangen werden, dass die Kombination aller dieser Faktoren zu einer Beschleunigung der Sterblichkeit, führen wird.

Es wäre deshalb die These zu prüfen, ob die Zahl an Getöteten in Gaza höher als Faktor vier, wie bei Khatib, McKee, Yusuf, anzusetzen ist. Dann wäre die Zahl von 186.000 getöteten Einwohner:innen in Gaza überschritten.

Der Stichtag des Artikels war der 19. Juni, seitdem ein weiterer Monat mit Blockade und unverminderter Bombardierung vergangen.

Als Lehrende und Forschende sind Sie aufgefordert, die Hypothese von Khatib, McKee, Yusuf nach den Grundsätzen der Wissenschaftlichkeit zu diskutieren.

Geben Sie Ihre einseitige Position auf und ziehen Sie die einzige mögliche Schlussfolgerung aus der Analyse - verurteilen Sie dieses enorme Kriegsverbrechen!

Wuppertal, 20. Juli 2024

"Mir ist langweilig, also schieße ich": Die Zustimmung der israelischen Armee zur freien Gewalt in Gaza

Israelische Soldaten beschreiben, dass es im Gaza-Krieg so gut wie keine Schießvorschriften gibt. Die Truppen schossen nach Belieben, steckten Häuser in Brand und ließen Leichen auf den Straßen liegen - alles mit der Erlaubnis ihrer Kommandeure.

Anfang Juni strahlte Al Jazeera eine Reihe beunruhigender Videos aus, die von "Exekutionen im Schnellverfahren" berichteten: Israelische Soldaten erschossen bei drei verschiedenen Gelegenheiten mehrere Palästinenser, die in der Nähe der Küstenstraße im Gaza-Streifen spazieren gingen. In jedem Fall waren die Palästinenser offenbar unbewaffnet und stellten keine unmittelbare Bedrohung für die Soldaten dar.

Solche Aufnahmen sind selten, da Journalisten in der belagerten Enklave nur sehr eingeschränkt arbeiten können und ständig in Lebensgefahr schweben. Diese Hinrichtungen, für die es offenbar keine Sicherheitsgründe gab, stimmen jedoch mit den Aussagen von sechs israelischen Soldaten überein, die nach ihrer Entlassung aus dem aktiven Dienst in Gaza in den letzten Monaten mit +972 Magazine und Local Call sprachen. In Übereinstimmung mit den Aussagen palästinensischer Augenzeugen und Ärzte während des Krieges beschrieben die Soldaten, dass sie befugt waren, praktisch nach Belieben das Feuer auf Palästinenser, einschließlich Zivilisten, zu eröffnen.

Die sechs Quellen - alle bis auf eine, die unter der Bedingung der Anonymität sprach - berichteten, wie israelische Soldaten routinemäßig palästinensische Zivilisten hinrichteten, nur weil sie ein Gebiet betraten, das vom Militär als "No-go-Zone" definiert wurde. Die Zeugenaussagen zeichnen das Bild einer Landschaft, die mit zivilen Leichen übersät ist, die der Verwesung überlassen oder von streunenden Tieren gefressen werden; die Armee versteckt sie nur vor der Ankunft internationaler Hilfskonvois, damit "keine Bilder von Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung an die Öffentlichkeit gelangen". Zwei der Soldaten bezeugten auch eine systematische Politik, palästinensische Häuser in Brand zu setzen, nachdem sie sie besetzt hatten.

Mehrere Quellen schilderten, wie die Möglichkeit, ohne Einschränkungen zu schießen, den Soldaten eine Möglichkeit bot, Dampf abzulassen oder die Tristesse ihrer täglichen Routine zu lindern. "Die Leute wollen das Ereignis [vollständig] erleben", erinnerte sich S., ein Reservist, der im nördlichen Gazastreifen diente. "Ich habe selbst ein paar Kugeln ohne Grund abgefeuert, ins Meer, auf den Bürgersteig oder ein verlassenes Gebäude. Sie melden es als 'normales Feuer', was ein Codename für 'Mir ist langweilig, also schieße ich' ist."

Seit den 1980er Jahren weigert sich das israelische Militär, seine Vorschriften für offenes Feuer offenzulegen, trotz mehrerer Petitionen an den Obersten Gerichtshof. Dem politischen Soziologen Yagil Levy zufolge hat die Armee seit der Zweiten Intifada "den Soldaten keine schriftlichen Einsatzregeln gegeben", so dass vieles der Interpretation der Soldaten im Feld und ihrer Kommandeure überlassen bleibt. Diese laxen Richtlinien haben nicht nur zur Tötung von mehr als 38.000 Palästinensern beigetragen, sondern sind auch mitverantwortlich für die hohe Zahl von Soldaten, die in den letzten Monaten durch eigenen Beschuss getötet wurden.

"Es gab völlige Handlungsfreiheit", sagte B., ein anderer Soldat, der monatelang in den regulären Streitkräften in Gaza diente, auch in der Kommandozentrale seines Bataillons. "Wenn es [auch nur] ein Gefühl der Bedrohung gibt, braucht man nichts zu erklären - man schießt einfach. Wenn Soldaten sehen, dass sich jemand nähert, "ist es erlaubt, auf den Mittelpunkt der Masse [des Körpers] zu schießen, nicht in die Luft", so B. weiter. "Es ist erlaubt, jeden zu erschießen, ein junges Mädchen, eine alte Frau."

B. beschrieb einen Vorfall im November, als Soldaten bei der Evakuierung einer Schule in der Nähe des Zeitoun-Viertels von Gaza-Stadt, die als Unterkunft für vertriebene Palästinenser diente, mehrere Zivilisten töteten. Die Armee wies die Evakuierten an, die Schule auf der linken Seite in Richtung Meer zu verlassen, anstatt auf der rechten Seite, wo die Soldaten stationiert waren. Als in der Schule ein Feuergefecht ausbrach, wurde auf diejenigen, die in dem darauf folgenden Chaos nach links auswichen, sofort geschossen.

"Es gab Informationen, dass die Hamas Panik verbreiten wollte", sagte B.. "Ein Kampf begann im Inneren; die Leute rannten weg. Einige flohen nach links in Richtung Meer, [aber] einige rannten nach rechts, darunter auch Kinder. Jeder, der nach rechts lief, wurde getötet - 15 bis 20 Menschen. Es gab einen Haufen von Leichen.

"Die Leute schossen, wie es ihnen gefiel, mit aller Macht".

B. sagte, dass es schwierig sei, Zivilisten von Kämpfern im Gazastreifen zu unterscheiden und behauptete, dass Hamas-Mitglieder oft "ohne Waffen herumlaufen". Das habe aber zur Folge, dass "jeder Mann zwischen 16 und 50 Jahren verdächtigt wird, ein Terrorist zu sein".

"Es ist verboten, herumzulaufen, und jeder, der sich draußen aufhält, ist verdächtig", so B. weiter. "Wenn wir jemanden sehen, der aus dem Fenster schaut, ist er ein Verdächtiger. Man schießt. Die [Armee] ist der Ansicht, dass jeder Kontakt [mit der Bevölkerung] die Streitkräfte gefährdet, und es muss eine Situation geschaffen werden, in der es unter allen Umständen verboten ist, sich [den Soldaten] zu nähern. [Die Palästinenser] haben gelernt, dass sie weglaufen, wenn wir eindringen.

Selbst in scheinbar unbewohnten oder verlassenen Gebieten des Gazastreifens schossen die Soldaten ausgiebig in einem Verfahren, das als "Anwesenheitsdemonstration" bekannt ist. S. sagte aus, dass seine Kameraden "viel schießen würden, auch ohne Grund - jeder, der schießen will, egal aus welchem Grund, schießt." In einigen Fällen sei dies "beabsichtigt gewesen, um ... Leute [aus ihren Verstecken] zu holen oder um Präsenz zu zeigen."


M., ein weiterer Reservist, der im Gazastreifen diente, erklärte, dass solche Befehle direkt von den Kommandanten der Kompanie oder des Bataillons im Einsatz kommen würden. "Wenn keine IDF-Kräfte [in der Gegend] sind ... wird wie verrückt und uneingeschränkt geschossen. Und nicht nur auf Handfeuerwaffen: Maschinengewehre, Panzer und Mörser."

Selbst wenn es keine Befehle von oben gibt, sagte M. aus, dass die Soldaten im Feld regelmäßig das Gesetz in die eigenen Hände nehmen. "Normale Soldaten, Unteroffiziere, Bataillonskommandeure - die unteren Ränge, die schießen wollen, bekommen die Erlaubnis."

S. erinnerte sich daran, dass er über das Radio von einem Soldaten hörte, der in einem Schutzgebiet stationiert war und eine palästinensische Familie erschoss, die in der Nähe herumlief. "Zuerst sagen sie 'vier Personen'. Daraus werden dann zwei Kinder und zwei Erwachsene, und am Ende sind es ein Mann, eine Frau und zwei Kinder. Sie können sich das Bild selbst zusammenstellen."

Nur einer der für diese Untersuchung befragten Soldaten war bereit, namentlich genannt zu werden: Yuval Green, ein 26-jähriger Reservist aus Jerusalem, der im November und Dezember letzten Jahres in der 55. Fallschirmjägerbrigade diente (Green hat kürzlich einen Brief von 41 Reservisten unterzeichnet, in dem sie erklären, dass sie nach dem Einmarsch der Armee in Rafah ihren Dienst in Gaza verweigern). "Es gab keine Munitionsbeschränkungen", sagte Green gegenüber +972 und Local Call. "Die Leute schossen einfach, um die Langeweile zu vertreiben."

Green beschrieb einen Vorfall, der sich in einer Nacht während des jüdischen Chanukka-Festes im Dezember ereignete, als "das ganze Bataillon gemeinsam das Feuer eröffnete, wie ein Feuerwerk, einschließlich Leuchtspurmunition [die ein helles Licht erzeugt]. Es gab eine verrückte Farbe, die den Himmel erleuchtete, und weil [Chanukka] das 'Fest der Lichter' ist, wurde es symbolisch."

C., ein weiterer Soldat, der im Gazastreifen diente, erklärte, dass die Soldaten, wenn sie Schüsse hörten, über Funk klärten, ob sich eine andere israelische Militäreinheit in der Nähe befand, und wenn nicht, eröffneten sie das Feuer. "Die Leute schossen nach Belieben und mit aller Kraft. Aber wie C. feststellte, bedeutete das uneingeschränkte Schießen, dass die Soldaten oft dem großen Risiko des Beschusses durch eigene Truppen ausgesetzt waren - was er als "gefährlicher als die Hamas" bezeichnete. "Bei mehreren Gelegenheiten schossen die IDF-Kräfte in unsere Richtung. Wir haben nicht darauf reagiert, wir haben uns über Funk informiert, und niemand wurde verletzt."

Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts wurden seit Beginn der Bodeninvasion 324 israelische Soldaten im Gazastreifen getötet, davon nach Angaben der Armee mindestens 28 durch eigenen Beschuss. Nach Greens Erfahrung waren solche Vorfälle das "Hauptproblem", das das Leben der Soldaten gefährdete. "Es gab eine ganze Menge [Friendly Fire]; das hat mich verrückt gemacht", sagte er.

Für Green zeugten die Einsatzregeln auch von einer tiefen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Geiseln. "Sie erzählten mir von der Praxis, Tunnel zu sprengen, und ich dachte mir, wenn Geiseln [darin] wären, würde das sie töten. Nachdem israelische Soldaten im Dezember in Shuja'iyya drei Geiseln töteten, die weiße Fahnen schwenkten, weil sie sie für Palästinenser hielten, sagte Green, er sei wütend, aber man habe ihm gesagt, "wir können nichts tun". "[Die Kommandeure] verschärften die Verfahren und sagten: 'Ihr müsst aufpassen und sensibel sein, aber wir befinden uns in einer Kampfzone und müssen wachsam sein.'"

B. bestätigte, dass auch nach dem Zwischenfall in Shuja'iyya, der als "befehlswidrig" bezeichnet wurde, die Vorschriften für offenes Feuer nicht geändert wurden. "Was die Geiseln betrifft, so hatten wir keine spezielle Anweisung", erinnerte er sich. "[Die Armeeführung] sagte, dass sie nach der Erschießung der Geiseln [die Soldaten vor Ort] unterrichtet hätten. [Aber sie haben nicht mit uns gesprochen." Er und die Soldaten, die bei ihm waren, erfuhren von der Erschießung der Geiseln erst zweieinhalb Wochen nach dem Vorfall, nachdem sie Gaza verlassen hatten.

"Ich habe Aussagen [von anderen Soldaten] gehört, dass die Geiseln tot sind, dass sie keine Chance haben, dass sie aufgegeben werden müssen", so Green. "Das hat mich am meisten gestört ... dass sie immer wieder sagten: 'Wir sind wegen der Geiseln hier', aber es ist klar, dass der Krieg den Geiseln schadet. Das war damals mein Gedanke; heute hat sich das bewahrheitet."

Ein Gebäude stürzt ein, und das Gefühl ist: "Wow, was für ein Spaß".

A., ein Offizier, der in der Operationsdirektion der Armee diente, sagte aus, dass die Operationszentrale seiner Brigade - die die Kämpfe von außerhalb des Gazastreifens koordiniert, Ziele genehmigt und den Beschuss durch eigene Truppen verhindert - keine klaren Befehle für offenes Feuer erhielt, die sie an die Soldaten vor Ort weitergeben konnte. "Von dem Moment an, in dem man den Raum betritt, gibt es zu keinem Zeitpunkt ein Briefing", sagte er. "Wir haben keine Anweisungen von höherer Stelle erhalten, die wir an die Soldaten und Bataillonskommandeure weitergeben konnten.

Er wies darauf hin, dass es Anweisungen gab, nicht entlang der humanitären Routen zu schießen, aber ansonsten "füllt man die Lücken aus, wenn es keine anderen Anweisungen gibt. Das ist der Ansatz: 'Wenn es dort verboten ist, dann ist es hier erlaubt.'"

A. erklärte, dass das Schießen auf "Krankenhäuser, Kliniken, Schulen, religiöse Einrichtungen [und] Gebäude internationaler Organisationen" eine höhere Genehmigung erfordere. Aber in der Praxis "kann ich die Fälle an einer Hand abzählen, in denen uns gesagt wurde, wir dürften nicht schießen. Selbst bei so sensiblen Dingen wie Schulen scheint die Genehmigung nur eine Formalität zu sein".

Im Allgemeinen, so A. weiter, "herrschte in der Einsatzzentrale die Einstellung 'Erst schießen, dann Fragen stellen'. Das war der Konsens ... Niemand wird eine Träne vergießen, wenn wir ein Haus dem Erdboden gleichmachen, obwohl das nicht nötig war, oder wenn wir jemanden erschießen, den wir nicht hätten erschießen müssen."

A. sagte, ihm seien Fälle bekannt, in denen israelische Soldaten auf palästinensische Zivilisten schossen, die ihr Operationsgebiet betraten, was mit einer Untersuchung von Haaretz über "Tötungszonen" in den von der Armee besetzten Gebieten des Gazastreifens übereinstimmt. "Das ist der Standard. Es sollten sich keine Zivilisten in diesem Gebiet aufhalten, das ist die Perspektive. Wir haben jemanden in einem Fenster gesehen, also haben sie geschossen und ihn getötet." A. fügte hinzu, dass aus den Berichten oft nicht klar hervorging, ob die Soldaten Kämpfer oder unbewaffnete Zivilisten erschossen hatten - und "oft hörte es sich so an, als ob jemand in einer Situation gefangen war und wir das Feuer eröffneten".

Aber diese Unklarheit über die Identität der Opfer bedeutete für A., dass man den Berichten des Militärs über die Zahl der getöteten Hamas-Mitglieder nicht trauen konnte. "Das Gefühl im Kriegsraum war, und das ist eine abgeschwächte Version, dass wir jede Person, die wir töteten, als Terrorist zählten", sagte er aus.

"Das Ziel war, zu zählen, wie viele [Terroristen] wir heute getötet haben", so A. weiter. "Jeder [Soldat] will zeigen, dass er der große Mann ist. Die Wahrnehmung war, dass alle Männer Terroristen waren. Manchmal fragte ein Kommandeur plötzlich nach Zahlen, und dann lief der Divisionsoffizier von Brigade zu Brigade und ging die Liste im Computersystem des Militärs durch und zählte."

Die Aussage von A. deckt sich mit einem kürzlich erschienenen Bericht des israelischen Magazins Mako über einen Drohnenangriff einer Brigade, bei dem Palästinenser im Einsatzgebiet einer anderen Brigade getötet wurden. Offiziere beider Brigaden berieten sich darüber, welche der beiden Brigaden die Tötungen registrieren sollte. "Was macht das für einen Unterschied? Registrieren Sie es für uns beide", sagte einer von ihnen dem anderen, so die Veröffentlichung.

In den ersten Wochen nach dem von der Hamas angeführten Anschlag vom 7. Oktober, so erinnert sich A., "fühlten sich die Menschen sehr schuldig, dass dies unter unserer Aufsicht geschah", ein Gefühl, das in der israelischen Öffentlichkeit allgemein geteilt wurde - und sich schnell in den Wunsch nach Vergeltung verwandelte. "Es gab keinen direkten Befehl, Rache zu üben", sagte A., "aber wenn man an Entscheidungspunkte gelangt, haben die Anweisungen, Befehle und Protokolle [in Bezug auf 'sensible' Fälle] nur so viel Einfluss."

Wenn Drohnen Aufnahmen von Angriffen im Gazastreifen live übertrugen, "gab es im Kriegsraum Jubelschreie", so A.. "Hin und wieder stürzt ein Gebäude ein ... und das Gefühl ist: 'Wow, wie verrückt, was für ein Spaß.'"

A. wies auf die Ironie hin, dass ein Teil der Motivation für die israelischen Rufe nach Rache darin bestand, dass die Palästinenser in Gaza sich über den Tod und die Zerstörung am 7. Oktober freuten. Um die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern zu rechtfertigen, griffen die Leute zu Aussagen wie "'Sie haben Süßigkeiten verteilt', 'Sie haben nach dem 7. Oktober getanzt' oder 'Sie haben die Hamas gewählt' ... Nicht alle, aber auch nicht wenige, dachten, dass das Kind von heute der Terrorist von morgen ist.

"Auch ich, ein eher linker Soldat, vergesse sehr schnell, dass es sich um echte Häuser [in Gaza] handelt", sagte A. über seine Erfahrungen im Einsatzraum. "Es fühlte sich an wie ein Computerspiel. Erst nach zwei Wochen wurde mir klar, dass es sich um [tatsächliche] Gebäude handelt, die einstürzen: Wenn es [darin] Bewohner gibt, dann stürzen [die Gebäude] auf ihren Köpfen ein, und selbst wenn nicht, dann mit allem, was darin ist."

Ein entsetzlicher Geruch des Todes

Mehrere Soldaten sagten aus, dass die Politik des freien Schießens es israelischen Einheiten ermöglicht hat, palästinensische Zivilisten zu töten, selbst wenn sie vorher als solche identifiziert wurden. D., ein Reservist, sagte, dass seine Brigade neben zwei so genannten "humanitären" Reisekorridoren stationiert war, einem für Hilfsorganisationen und einem für Zivilisten, die vom Norden in den Süden des Streifens flohen. Innerhalb des Einsatzgebiets seiner Brigade wurde eine "rote Linie, grüne Linie" eingeführt, die Zonen abgrenzt, in die Zivilisten nicht eindringen durften.

Laut D. durften Hilfsorganisationen nach vorheriger Absprache in diese Zonen reisen (unser Interview wurde geführt, bevor eine Reihe israelischer Präzisionsschläge sieben Mitarbeiter der World Central Kitchen töteten ), aber für Palästinenser galt etwas anderes. "Jeder, der die grüne Zone überquerte, wurde zu einem potenziellen Ziel", sagte D. und behauptete, dass diese Gebiete für Zivilisten ausgeschildert seien. "Wenn sie die rote Linie überschreiten, meldet man das über Funk und braucht nicht auf eine Erlaubnis zu warten, man kann schießen."

Dennoch sagte D., dass Zivilisten oft in Gebiete kamen, durch die Hilfskonvois fuhren, um nach Resten zu suchen, die von den Lastwagen fallen könnten; dennoch war es die Politik, jeden zu erschießen, der versuchte, einzudringen. "Die Zivilisten sind eindeutig Flüchtlinge, sie sind verzweifelt, sie haben nichts", sagte er. Dennoch gab es in den ersten Monaten des Krieges "jeden Tag zwei oder drei Zwischenfälle mit unschuldigen Menschen oder [Menschen], die im Verdacht standen, von der Hamas als Späher geschickt worden zu sein", die von Soldaten seines Bataillons erschossen wurden.

Die Soldaten sagten aus, dass im gesamten Gazastreifen Leichen von Palästinensern in Zivilkleidung entlang der Straßen und auf offenem Gelände verstreut lagen. "Die ganze Gegend war voller Leichen", sagte S., ein Reservist. "Es gibt auch Hunde, Kühe und Pferde, die die Bombardierungen überlebt haben und nirgendwo mehr hin können. Wir können sie nicht füttern, und wir wollen auch nicht, dass sie zu nahe kommen. So sieht man gelegentlich Hunde mit verrottenden Körperteilen herumlaufen. Es gibt einen schrecklichen Geruch des Todes.

Doch bevor die humanitären Konvois eintreffen, werden die Leichen entfernt. "Ein D-9 [Caterpillar-Bulldozer] fährt mit einem Panzer hinunter und säubert das Gebiet von Leichen, vergräbt sie unter den Trümmern und kippt sie zur Seite, damit die Konvois sie nicht sehen - [damit] die Bilder von Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung nicht an die Öffentlichkeit gelangen", beschreibt er.

"Ich habe eine Menge [palästinensischer] Zivilisten gesehen - Familien, Frauen, Kinder", fuhr S. fort. "Es gibt mehr Todesopfer als gemeldet. Wir waren in einem kleinen Gebiet. Jeden Tag werden mindestens ein oder zwei [Zivilisten] getötet, [weil] sie in eine verbotene Zone gegangen sind. Ich weiß nicht, wer ein Terrorist ist und wer nicht, aber die meisten von ihnen trugen keine Waffen."

Green sagte, als er Ende Dezember in Khan Younis ankam, "sahen wir eine undeutliche Masse vor einem Haus. Wir erkannten, dass es eine Leiche war; wir sahen ein Bein. In der Nacht fraßen es Katzen. Dann kam jemand und brachte sie weg.

Eine nicht-militärische Quelle, die mit +972 und Local Call sprach, nachdem sie den nördlichen Gazastreifen besucht hatte, berichtete ebenfalls von Leichen, die in dem Gebiet verstreut waren. "In der Nähe des Armeegeländes zwischen dem nördlichen und dem südlichen Gazastreifen sahen wir etwa 10 Leichen, denen in den Kopf geschossen wurde, offenbar von einem Scharfschützen, als sie versuchten, in den Norden zurückzukehren", sagte er. "Die Leichen waren verwest, und es waren Hunde und Katzen um sie herum".

"Sie kümmern sich nicht um die Leichen", sagte B. über die israelischen Soldaten in Gaza. "Wenn sie im Weg sind, werden sie zur Seite geschoben. Es gibt keine Beerdigung der Toten. Die Soldaten sind aus Versehen auf die Leichen getreten."

Letzten Monat sagte Guy Zaken, ein Soldat, der D-9 Bulldozer in Gaza bediente, vor einem Knessetausschuss aus, dass er und seine Mannschaft "Hunderte von Terroristen überfahren haben, tot und lebendig". Ein anderer Soldat, mit dem er zusammen diente, beging anschließend Selbstmord.


Bevor du gehst, brennst du das Haus nieder

Zwei der für diesen Artikel befragten Soldaten schilderten auch, wie das Niederbrennen palästinensischer Häuser unter israelischen Soldaten zur gängigen Praxis geworden ist, worüber Haaretz im Januar erstmals ausführlich berichtete. Green hat zwei solcher Fälle persönlich miterlebt - der erste war eine eigenständige Initiative eines Soldaten, der zweite ein Befehl der Kommandeure - und seine Frustration über diese Politik ist einer der Gründe, die ihn schließlich dazu brachten, den weiteren Militärdienst zu verweigern.

Wenn Soldaten Häuser besetzten, so sagte er aus, galt der Grundsatz: "Wenn du dich bewegst, musst du das Haus niederbrennen". Für Green machte dies jedoch keinen Sinn: In "keinem Szenario" konnte die Mitte des Flüchtlingslagers Teil einer israelischen Sicherheitszone sein, die eine solche Zerstörung rechtfertigen würde. "Wir sind in diesen Häusern nicht, weil sie Hamas-Aktivisten gehören, sondern weil sie uns operativ dienen", stellte er fest. "Es ist ein Haus für zwei oder drei Familien - es zu zerstören bedeutet, dass sie obdachlos werden.

"Ich fragte den Kommandanten der Kompanie, der sagte, dass keine militärische Ausrüstung zurückgelassen werden dürfe und dass wir nicht wollten, dass der Feind unsere Kampfmethoden sehe", so Green weiter. "Ich sagte, ich würde eine Durchsuchung vornehmen, um sicher zu gehen, dass keine Kampfmethoden zurückgelassen wurden. [Der Kompaniechef] gab mir Erklärungen aus der Welt der Rache. Er sagte, sie würden sie verbrennen, weil es keine D-9s oder IEDs von einer Ingenieursgruppe gäbe [die das Haus mit anderen Mitteln zerstören könnten]. Er hat einen Befehl erhalten und es hat ihn nicht gestört."

"Bevor du gehst, brennst du das Haus nieder - jedes Haus", wiederholte B.. "Das wird auf der Ebene der Bataillonskommandeure unterstützt. Es ist so, dass [Palästinenser] nicht zurückkehren können, und wenn wir Munition oder Lebensmittel zurückgelassen haben, können die Terroristen sie nicht benutzen."
Bevor sie abzogen, stapelten die Soldaten Matratzen, Möbel und Decken auf, und "mit etwas Brennstoff oder Gasflaschen", so B., "brennt das Haus leicht ab, es ist wie ein Ofen." Zu Beginn der Bodeninvasion besetzte seine Kompanie einige Tage lang Häuser und zog dann weiter; laut B. brannten sie "Hunderte von Häusern nieder". Es gab Fälle, in denen Soldaten ein Stockwerk in Brand setzten und andere Soldaten in einem höheren Stockwerk waren und durch die Flammen auf der Treppe fliehen mussten oder am Rauch erstickten."

Green sagte, die Zerstörung, die das Militär in Gaza hinterlassen hat, sei "unvorstellbar". Zu Beginn der Kämpfe, so berichtete er, rückten sie zwischen Häusern vor, die 50 Meter voneinander entfernt waren, und viele Soldaten "behandelten die Häuser wie einen Souvenirladen" und plünderten alles, was die Bewohner nicht mitnehmen konnten.

"Am Ende stirbt man vor Langeweile, wenn man dort tagelang wartet", sagte Green. "Man malt an den Wänden, macht grobe Sachen. Man spielt mit Kleidern, findet Passfotos, die sie zurückgelassen haben, hängt ein Bild von jemandem auf, weil es lustig ist. Wir haben alles benutzt, was wir gefunden haben: Matratzen, Essen, einer hat einen 100-NIS-Schein [etwa 27 Dollar] gefunden und ihn mitgenommen."

"Wir haben alles zerstört, was wir wollten", sagte Green aus. "Das geschah nicht aus dem Wunsch heraus, zu zerstören, sondern aus völliger Gleichgültigkeit gegenüber allem, was [den Palästinensern] gehört. Jeden Tag reißt eine D-9 Häuser ab. Ich habe keine Vorher-Nachher-Fotos gemacht, aber ich werde nie vergessen, wie eine Nachbarschaft, die wirklich schön war ... auf Sand reduziert wird."

Der IDF-Sprecher antwortete auf unsere Bitte um einen Kommentar mit folgender Erklärung: "Alle IDF-Soldaten, die im Gazastreifen und an den Grenzen kämpfen, haben beim Eintritt in den Kampf die Anweisung erhalten, offen zu schießen. Diese Anweisungen spiegeln das internationale Recht wider, an das die IDF gebunden ist. Die Anweisungen für den offenen Beschuss werden regelmäßig überprüft und angesichts der sich ändernden operativen und nachrichtendienstlichen Situation aktualisiert und von den ranghöchsten Beamten der IDF genehmigt.

"Die Anweisungen für den offenen Beschuss bieten eine angemessene Reaktion auf alle operativen Situationen und die Möglichkeit, in jedem Fall, in dem unsere Streitkräfte gefährdet sind, die volle operative Handlungsfreiheit zur Beseitigung von Bedrohungen zu nutzen. Gleichzeitig werden den Streitkräften Instrumente an die Hand gegeben, um mit komplexen Situationen in Anwesenheit der Zivilbevölkerung umzugehen, und es wird Wert darauf gelegt, dass Menschen, die nicht als Feinde identifiziert werden oder die keine Gefahr für ihr Leben darstellen, nicht zu Schaden kommen. Allgemeine Anweisungen für den Einsatz von offenem Feuer, wie sie in der Anfrage beschrieben werden, sind nicht bekannt und stehen, sofern sie gegeben wurden, im Widerspruch zu den Befehlen der Armee.

"Die IDF untersucht ihre Aktivitäten und zieht Lehren aus operativen Ereignissen, einschließlich des tragischen Ereignisses der versehentlichen Tötung von Yotam Haim, Alon Shamriz und Samer Talalka. Die aus der Untersuchung des Vorfalls gezogenen Lehren wurden an die Kampftruppen vor Ort weitergegeben, um zu verhindern, dass sich ein derartiger Vorfall in Zukunft wiederholt.

"Im Rahmen der Zerstörung der militärischen Fähigkeiten der Hamas ergibt sich unter anderem die operative Notwendigkeit, Gebäude zu zerstören oder anzugreifen, in denen die Terrororganisation ihre Kampfinfrastruktur untergebracht hat. Dazu gehören auch Gebäude, die die Hamas regelmäßig für Kampfhandlungen umbaut. Inzwischen nutzt die Hamas systematisch öffentliche Gebäude, die eigentlich für zivile Zwecke genutzt werden sollten, militärisch. Die Befehle der Armee regeln das Genehmigungsverfahren, so dass die Beschädigung sensibler Stätten von hochrangigen Befehlshabern genehmigt werden muss, die die Auswirkungen der Beschädigung des Gebäudes auf die Zivilbevölkerung berücksichtigen, und dies angesichts der militärischen Notwendigkeit, das Gebäude anzugreifen oder abzureißen. Die Entscheidungsfindung dieser höheren Befehlshaber erfolgt in geordneter und ausgewogener Weise.

"Das Verbrennen von Gebäuden, die nicht für operative Zwecke notwendig sind, verstößt gegen die Befehle der Armee und die Werte der IDF.

"Im Rahmen der Kampfhandlungen und auf Befehl der Armee ist es möglich, feindliches Eigentum für wichtige militärische Zwecke zu nutzen sowie Eigentum terroristischer Organisationen auf Befehl als Kriegsbeute zu nehmen. Gleichzeitig stellt die Entnahme von Eigentum für private Zwecke eine Plünderung dar und ist nach dem Gesetz über die Militärgerichtsbarkeit verboten. Vorfälle, in denen die Streitkräfte nicht in Übereinstimmung mit den Befehlen und dem Gesetz gehandelt haben, werden untersucht.

Oren Ziv ist Fotojournalist, Reporter für Local Call und Gründungsmitglied des Fotokollektivs Activestills.

Quelle: +972mag, 8. Juli 2024

Übersetzung [Nicht authorisiert]: Thomas Trueten


Landesweite Demonstration am 22. Juni 2024, 14 Uhr Hauptbahnhof in Pforzheim Keine Bezahlkarte! Solidarisiert euch mit Geflüchteten, Bürgergeldempfänger*innen, Arbeits- und Wohnungslosen

Die Grafik zeigt das SharePic zur Demo mit den EckdatenWir erleben mit dem GEAS und nationalen Kampagnen intensive Angriffe auf die Rechte und Lebensbedingungen von Geflüchteten. Die Mauern zur Abschottung und Ausgrenzung werden noch höher gezogen. Von Abschiebeoffensive ist die Rede und die Anordnung von Abschiebehaft wurde jüngst erleichtert.

In diesem Zusammenhang finden massive Angriffe auf die ohnehin schon prekären Sozialleistungen statt. Legitimiert werden diese Kürzungen - mal wieder - indem Geflüchtete gegen Nicht-Geflüchtete, "Faule" gegen "Fleißige" und Leistungsempfänger*innen gegen Arbeitende ausgespielt werden. Dabei wird versucht, die Krisen der kapitalistischen Wirtschaft zu personalisieren. Schuld an allen aktuellen Krisen und wirtschaftlichen Unsicherheiten sind nach dieser Auffassung entweder die "Totalverweigerer" oder eben die Flüchtlinge. Der Wert eines Menschen wird nur nach seiner Leistungsfähigkeit, sprich Verwertbarkeit bemessen. Wer (vermeintlich) nichts leistet, wird aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Der Zwang, sich selbst verwerten und seine Haut zum (Arbeits-)Markt tragen zu müssen, ist der eigentliche Skandal, der abgeschafft gehört. Sozialleistungen sind kein Almosen, sondern für viele schlicht überlebensnotwendig. Daran darf nicht gespart werden! Soziale Leistungen müssen ohne staatlichen Druck gewährt werden, deshalb müssen wir die noch verbliebenen Sozialsysteme verteidigen und vor allem neue, bessere erkämpfen. Für alle Lohnabhängigen gilt, kein Arbeitsplatz ist sicher. Arbeitslosigkeit kann jede*n treffen.

Das rassistische Asylbewerberleistungsgesetz wird weiter verschärft - NEIN zu Bezahlkarte und Arbeitspflicht

Das bereits verminderte Existenzgeld für Geflüchtete (Asylbewerberleistungsgesetz, AsylbLG) wird weiter angegriffen. Geflüchtete sollen noch stärker bevormundet und kontrolliert und ihre Rechte weiter beschnitten werden. Wo, wie und für was das wenige Geld ausgegeben werden darf, soll die Behörde bestimmen. Dazu wird bundesweit eine „Bezahlkarte“ für Geflüchtete eingeführt. Alle, die Leistungen nach dem AsylbLG beziehen, werden zu einer Bezahlkarte verpflichtet. Davon betroffen sind auch Personen, die bereits über ein deutsches Bankkonto verfügen und schon seit vielen Jahren in Deutschland leben. Mittlerweile können Geflüchtete bei staatlichen, kommunalen und gemeinnützigen Trägern zu Arbeiten für 80 Cent pro Stunde verpflichtet werden, wenn die Arbeit „der Allgemeinheit dient“. Der Landkreistag von Baden-Württemberg will noch weiter gehen und die ausbeuterische Arbeitspflicht auf private Unternehmen ausdehnen. Das wäre Zwangsarbeit und ist entschieden abzulehnen: „Geflüchtete dürfen nicht zu Zweite-Klasse-Beschäftigten degradiert werden, die zu Dumping-Löhnen ausgebeutet werden.“ (ver.di)

Die Sozialsysteme sollen national-autoritär umgebaut werden - NEIN zur Einführung von zwei Existenzminima 

Aber es kann noch schlimmer kommen: Von konservativer Seite wird eine Grundgesetzergänzung angedacht, mit der zwei Existenzminima in Deutschland eingeführt werden sollen. Geduldeten und Ausreisepflichtigen sollen damit die Gelder noch weiter gekürzt werden. Dazu wurde bereits ein Gesetzentwurf im Bundestag eingebracht. Noch hat der Antrag keine Mehrheit bekommen. Wie lange noch?

Das Bürgergeld wird angegriffen - NEIN zur Gängelung von Arbeitslosen

Gleichzeitig wird von verschiedenen politischen Seiten offen das Bürgergeld angegriffen und in Frage gestellt, vor allem was die Höhe der Leistungen angeht. So fordert der ‚BDA-Die Arbeitgeber‘ eine „Grundsanierung“ des Bürgergelds, das unter den Bedingungen von „härteren Sanktionen“ gewährt werden soll. Sogenannten „Totalverweigerern“ sollen Miete und Strom auf Null gestrichen werden, d.h. sie werden in die Wohnungslosigkeit entlassen. Generell sollen die Leistungen für alle stärker auf das „tatsächliche“ Existenzminimum begrenzt werden. Eine Sprache, die bereits aus der Diskussion gegen Geflüchtete bekannt ist. Ebenso wird auch die Einführung einer Bürgergeld-Bezahlkarte gefordert. In Bochum laufen dazu Anfragen bei Geschäften, ob sie eine Bürgergeld-Bezahlkarte als Zahlungsmittel akzeptieren würden. Ähnliches ist aus Hessen zu hören. Die FDP fordert die Wieder-Einführung des „1 Euro Jobs“ und für 2025 soll es keine Bürgergeldanpassungen geben.

Wir befinden uns mitten in einer wichtigen politischen Auseinandersetzung, in der marginalisierte Gruppen gegeneinander ausgespielt und die Sozialsysteme in eine national-autoritäre Richtung entwickelt werden. Dabei spielen rassistische Ressentiments, vor allem gegen Geflüchtete eine wichtige Rolle. Das Asylbewerberleistungsgesetz zeigt sich als ein Versuchslabor für einen Umbau der Sozialsysteme mit dem Ziel, soziale Rechte für Geflüchtete und Nicht-Lohn-Arbeitende weiter zu beschneiden. Das müssen wir gemeinsam in einer außerparlamentarischen Bewegung verhindern. Beschränken wir uns nicht darauf, das bisherige schon Unzureichende zu erhalten. Das System, das zunehmend Armut, Ausgrenzung und Rassismus hervorbringt, muss selbst in Frage gestellt werden. In dieser Auseinandersetzung muss klar sein, dass die Schwachen, die Armen, die Ausgegrenzten, all jene, die als Billiglöhner*innen hier schuften, auf ein funktionierendes Sozialsystem und damit auf soziale Rechte angewiesen sind. Erkämpfen wir das gute Leben für alle! Gehen wir am 22. Juni 2024 in Pforzheim gemeinsam auf die Straße. Fordern wir neue, bessere Sozialsysteme ein. Unser Ziel muss es sein das gute Leben für alle zu erkämpfen. Dafür muss als erster Schritt das ausgrenzende Asylbewerberleistungsgesetz ersatzlos gestrichen werden.

Wir rufen euch zur Unterstützung einer landesweiten Demo gegen rassistische Hetze, Bezahlkarte, Arbeitspflicht, Duldung, Asylbewerberleistungsgesetz und alle anderen Demütigungen und Entmündigungen, denen Flüchtlinge, Arbeits- und Wohnungslose ausgesetzt sind, auf.

Gruppen, die den Aufruf unterstützen, bitte eine Mail an: info@stop-deportation.de senden. Gruppen die bis zum 26. Mai 2024 ihre Unterstützung anmelden, werden auf dem Flyer, der Anfang Juni herausgegeben wird, berücksichtigt. Alle weiteren Gruppen werden auf der Homepage genannt.

Antira Baden-Württemberg



Der Feind steht links!

Vergleich Todesopfer in Deutschland durch linke (4) bzw. rechte (219) Gewalt
Quelle: Knicker / Katapult, 2022
Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0 (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International)

#FreeThemAll: 69. Geburtstag von Mumia Abu-Jamal - 42 Jahre im Knast

Mumia Abu-Jamal
Mumia Abu-Jamal
Der politische Gefangene Mumia Abu-Jamal wird am heutigen 24. April 69 Jahre alt. Mehr als 42 Jahre seines Lebens hat er inzwischen im Gefängnis verbracht, beinahe 28 Jahre davon in der Todeszelle. Nachdem 2020 der juristische Weg dafür freigemacht wurde, die Rechtmäßigkeit seines Verfahrens neu zu bewerten und damit letztlich vielleicht auch seine Freiheit zu erlangen, hat sich seine Lage Ende März wieder verschlechtert: Sein Wiederaufnahmeverfahren wurde abgelehnt. Vergangenes Jahr verstarb seine Ehefrau Wadiya (1953-“2022).

Am 09. Dezember 1981 wurde Mumia Abu Jamal in Philadelphia, USA verhaftet, nachdem bei einem Schusswechsel ein Polizist getötet und er selbst schwer verletzt wurde. Er wurde verurteilt für einen Polizistenmord, der ihm untergeschoben wurde, wie ein bereits vor Jahren bekannt gewordenes Geständnis des mutmaßlichen Täters deutlich machte. Der afroamerikanische Aktivist kämpft seit seiner frühesten Jugend - damals als Pressesprecher der Black Panther Party - und bis heute als freier Journalist - gegen Rassismus, Polizeigewalt, Klassenherrschaft und Krieg. Dabei ist Mumia „nur“ einer von zahlreichen Gefangenen, die vom rassistischem Apparat der USA in die Knäste gesteckt wurden. Unter anderem zahlreiche AktivistInnen der Black Panther Party oder des American Indian Movement sitzen bereits mehrere Jahrzehnte hinter Gittern ohne dass ihnen jemals etwas nachgewiesen werden konnte.

Seine staatliche Hinrichtung konnte zwar 2011 endgültig verhindert werden, Mumia Abu-Jamal schwebt dennoch in Gefahr. So erkrankte er schwer an Covid 19 und überstand eine Herzoperation.

Mumia Abu-Jamal betonte seinerseits stets, dass es ihm nicht um sich, sondern um die zahlreichen anderen InsassInnen in den Todestrakten und Knästen geht. Eine breite und weltweit aktive Solidariätsbewegung fordert seit seiner Festnahme seine Freiheit:

Die Forderung nach Freiheit für Mumia Abu-Jamal beinhaltet auch die Analyse der Gründe für seine Verurteilung, die alle in der Gesellschaftsordnung der USA begründet liegen:

• institutioneller Rassismus in Verfassung, Justiz und Polizei
• Klassenjustiz durch „Nichtverteidigung“ (oft auch Pflichtverteidigung genannt) armer Angeklagter, hauptsächlich People Of Color
• Kriminalisierung von People Of Color (stop and search policies)
• Anpassung der US Verfassung durch „Plea Bargains“ und „Three Strikes“ Regeln
• Fortführung der Sklaverei unter anderem Namen (der Gefängnisindustrielle Komplex inhaftiert überwiegend People Of Color und das ist systematisch)
• die Todesstrafe
• politische Repression und (ehemals geheimdienstliche - COINTELPRO - inzwischen aber offizielle) Aufstandsbekämpfung"

Mehr Information www.freiheit-fuer-mumia.de

Um in den USA die Bewegung zu seiner Freilassung bei den politischen und juristischen Auseinandersetzungen zu unterstützen, werden dringend Spenden gebraucht:

Rote Hilfe e.V.
Sparkasse Göttingen
IBAN:
DE25 2605 0001 0056 0362 39
BIC: NOLADE21GOE
Stichwort: "Mumia"

Darüber hinaus freut Mumia sich über Geburtstagspost:

Smart Communications / PADOC
Mumia Abu-Jamal, #AM 8335
SCI Mahanoy
P. O. Box 33028
St Petersburg, FL 33733
USA
cronjob