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Stadtteilzentrum Gasparitsch: 10 Jahresfest am 19. Oktober 2024

Das SharePic zum 10 järigen Jubiläumsfest zeigt eine Zeichnung mit Hans Gasparitsch, dem Namensgeber des Zentrums sowie die Eckdaten aus dem TextbeitragDas selbstverwaltete Stadtteilzentrum Gasparitsch feiert mit einem Straßenfest nicht nur das eigene Jubiläum, sondern vor allem all diejenigen, die das Gasparitsch überhaupt erst möglich machen: die Nachbarschaft und ganz Stuttgart-Ost.

Kommt vorbei und feiern wir gemeinsam die vergangenen und kommenden großartigen Jahre im Stuttgarter Osten!

Samstag, 19. Oktober, 14-22 Uhr (+ Aftershow Party)
Stadtteilzentrum Gasparitsch
Rotenbergstr. 125, U4 Ostendplatz, U9 Raitelsberg (gegenüber der Gaststätte Friedenau)

Hier findet ihr den geplanten groben Ablauf für unser Fest… Es kann aber auch immer zu kleinen und größeren Verschiebungen kommen.

Ablauf

ab 14 Uhr:
  • Kinderprogramm
  • Kaffee & Kuchen
  • kaltes Buffet
  • Quiz

16:00 Uhr: Live-Musik mit Dave Collide (Singer/Songwriter)

ab 18:30 Uhr:
  • warmes leckeres Essen
  • bis 18:30 Uhr: Quizabgabe

ab 19:30 Uhr
  • Quizauflösung

ab 20:15 Uhr
  • Live Musik mit bellalebwohl (kantig, roh & tanzbar)

Information zum Namensgeber des Stadtteilzentrums

Urteil im Rondenbarg-Verfahren: Ein Symbol der Kriminalisierung von Protest

Das Logo der Roten Hilfe zeigt zwei stilisierte Personen, die ihre Arme untergehakt haben.
Logo der Roten Hilfe
Heute wurde im Rondenbarg-Verfahren das Urteil verkündet: Die Angeklagten wurden zu 90 Tagessätzen verurteilt. Dieses Urteil ist ein weiterer trauriger Höhepunkt in der systematischen Kriminalisierung legitimen Protests, die den G20-Gipfel 2017 in Hamburg und seine Nachwirkungen geprägt haben.

Der G20-Gipfel war von Anfang an begleitet von staatlicher Repression auf einem bislang ungekannten Niveau. In einem Gebiet von fast 40 Quadratkilometern wurde das Demonstrationsrecht de facto außer Kraft gesetzt. Genehmigte Protestcamps wurden ignoriert und aufgelöst, die „Welcome to Hell“-Demonstration wurde von der Polizei brutal zerschlagen, und selbst harmlose Aktionen wie das Cornern wurden mit massiver Gewalt unterbunden – ein klarer Gipfel der staatlichen Repression.

Nachdem es einigen trotzdem gelang, ihren Protest gegen den G20-Gipfel mit seinen autoritären Regimes zum Ausdruck zu bringen, folgte eine beispiellose Verfolgungswelle. Die SOKO „Schwarzer Block“ verfolgte unter dem Motto „Wir kriegen euch alle“ Demonstrant*innen mit einer Öffentlichkeitsfahndung, grenzüberschreitenden Ermittlungen und zahlreichen Razzien. In diesem Zusammenhang wurden mehrere Verfahren nach den Paragraphen 129 und 129a StGB eingeleitet, es folgten lange Haftstrafen und das Verbot der Internetplattform Linksunten. Der G20-Gipfel setzte damit neue Maßstäbe in der Verfolgung linker Aktivist*innen.

Das Rondenbarg-Verfahren, das nun mit der erstinstanzlichen Verurteilung von zwei Angeklagten endete, reiht sich in eine lange Folge staatlichen Verfolgungswillens ein. Trotz der Tatsache, dass keine individuellen Straftaten nachgewiesen werden konnten, wurden die Angeklagten für ihre bloße Anwesenheit während der Proteste bestraft – ein beispielloser Angriff auf die Demonstrationsfreiheit. Während des Prozesses, der sich über 24 Verhandlungstage erstreckte, wurden nicht nur die Polizeigewalt und die Rolle der Einsatzkräfte ignoriert, sondern auch neue, beunruhigende Erkenntnisse über den Einsatz von V-Leuten während der Proteste bekannt. Diese Personen, die sich als Demonstrierende tarnten, könnten aktiv zur Eskalation beigetragen haben – Fragen, die der Prozess unbeantwortet ließ.

Trotz des heutigen Urteils laufen weitere Verfahren gegen insgesamt 86 Personen, die ebenfalls im Kontext mit der Demonstration am Rondenbarg verfolgt werden. Einige von ihnen erlitten durch den brutalen Polizeieinsatz an diesem Tag schwere Verletzungen, unter denen sie teils bis heute leiden. Die Hamburger Staatsanwaltschaft betreibt einen massiven Aufwand, um diese Verfahren durchzusetzen, oft gegen Menschen, die inzwischen in völlig neuen Lebenssituationen stehen.

„Dies ist ein klarer Versuch, ein Exempel zu statuieren und die linke Bewegung zu spalten“, sagt Anja Sommerfeld, Mitglied im Bundesvorstand der Rote Hilfe e. V. „Doch wir stehen geschlossen gegen diese Repression. Wir werden uns nicht vorschreiben lassen, wie und mit wem wir unsere Grundrechte ausüben.“

„Das heutige Urteil im Rondenbarg-Verfahren ist ein weiterer Tiefpunkt in der Kriminalisierung von Protesten. Die Demonstrationsfreiheit wird durch solche Urteile massiv gefährdet. Wir fordern die sofortige Einstellung aller G20-Verfahren und stehen solidarisch mit allen, die von dieser Repression betroffen sind. Diese Urteile werden linken Protest nicht brechen – im Gegenteil, sie machen uns stärker. Denn: Solidarität bleibt unsere stärkste Waffe.“

Quelle: Pressemitteilung 03. September 2024


k9 - combatiente zeigt geschichtsbewußt: „Rottet die Bestien aus!“

Flyer für den ersten von vier Teilen mit den Textangaben sowie einem Foto einer Maske aus Stein (saure Lava) in Form eines menschlichen Gesichts der aztekischen Gottheit Xipe Totec, die eine gehäutete menschliche Haut trägt, mit Ohrstöpseln.
Flyer für den ersten von vier Teilen mit den Textangaben sowie einem Foto einer Maske aus Stein (saure Lava) in Form eines menschlichen Gesichts der aztekischen Gottheit Xipe Totec, die eine gehäutete menschliche Haut trägt, mit Ohrstöpseln.
„Die verstörende Überheblichkeit der Ignoranz“
Der international renommierte Dokumentarfilmregisseur Raoul Peck beleuchtet den engen Zusammenhang zwischen Rassenhierarchisierung und Völkermorden in der europäischen Geschichte: Ausgehend vom kolonialen Ursprung der Vereinigten Staaten von Amerika zeigt er, wie der Rassenbegriff mitsamt seinen dramatischen Folgen einen institutionellen Status erlangte. Ein mörderischer Geist, der auch die Ausplünderung des afrikanischen Kontinents begleitete und sich letztlich im NS-Programm der „Endlösung“ durch die Vernichtung der europäischen Juden niederschlug.

Den Vergessenen ein Gesicht geben

Gestalterisch sticht auch hervor, dass die Menschen, die Peck zeigt, immer direkt in die Kamera blicken. „Das sind die Vergessenen, die Opfer der Geschichte, die hier quasi eine Stimme oder zumindest ein Gesicht bekommen“ - „Er möchte das
Vergessene zu Wort kommen lassen, er möchte das Vergessene zeigen. Er möchte die Geschichte nicht den Siegern überlassen.“
Letztendlich entwicklt Peck daraus ein ziemlich starkes Argument: „Nämlich in dieser Geschichte ist Neutralität keine relevante Haltung.“ (Text: arte)

4teilige Dokumentation von Raoul Peck, USA 2021
22.09.2024
20.10.2024
24.11.2024
15.12.2024
jeweils um 19 Uhr. Filmdauer: 57min.


Ein filmischer Streifzug durch 600 Jahre Menschheitsgeschichte, von der Besiedelung Amerikas durch Europäer über die Kolonisierung Afrikas bis zum Holocaust in Europa, erzählt aus einer radikal anderen Perspektive als der des Westens. Das Selbstbild Europas als „Wiege des Fortschritts“ - für den Regisseur so bigott wie der Gründungsmythos der USA als „Land der Freien“: „Vom selbst ernannten Sieger aufgezwungen sind diese Geschichtserzählungen falsch oder zumindest nicht vollständig“, so Peck. Seine Filmreihe ist Versuch, diese Narrative zu dekonstruieren.

combatiente zeigt geschichtsbewußt: revolucion muß sein! filme aus aktivem widerstand & revolutionären kämpfen

kinzigstraße 9 + 10247 berlin + U5 samariterstraße + S frankfurter allee

97 Jahre Justizmord an Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti

Sacco (rechts) und Vanzetti (links) als Angeklagte, mit Handschellen aneinander gefesselt
Heute vor 97 Jahren, am 9. April 1927, wurde das Todesurteil gegen die beiden aus Italien in die USA eingewanderten Arbeiter Ferdinando „Nicola“ Sacco und Bartolomeo Vanzetti, die sich der anarchistischen Arbeiterbewegung angeschlossen hatten, verkündet. In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1927 wurden beide im Staatsgefängnis von Charlestown, Massachusetts, hingerichtet.

Morde an Revolutionären und Arbeiterführern mit Hilfe der Justiz sind eng mit der Geschichte der USA verbunden: Die Chicagoer Arbeiterführer Parsons, Spies, Engels und Fischer wurden am 11. November 1887 als Reaktion auf die große Streikwelle Opfer der Klassenjustiz. Die Tradition setzte sich mit den in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts trotz weltweiter Solidaritätskampagnen hingerichteten anarchistischen Arbeitern Sacco und Vanzetti fort. Auch heute gehört die Todesstrafe zu den Mitteln der rassistischen Klassenjustiz in den USA.

„Ich habe nicht nur mein ganzes Leben lang kein wirkliches Verbrechen begangen, wohl einige Sünden, aber keine Verbrechen, sondern auch das Verbrechen bekämpft, das die offizielle Moral und das offizielle Gesetz billigen und heiligen: Die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Wenn es einen Grund gibt, warum Sie mich in wenigen Minuten vernichten können, dann ist dies der Grund und kein anderer.“

Bartolomeo Vanzetti

Kurt Tucholsky widmete ihnen das Gedicht 7,7 („Sieben Jahre und sieben Minuten mussten zwei Arbeiterherzen bluten“).

Sieben Jahre und sieben Minuten
mußten zwei Arbeiterherzen bluten.

Sieben Jahre?

Zellenenge,
Nächte –“ Luft! –“ Visionengedränge.

Zehnmal in die Todeskammer –“
zehnmal den allerletzten Jammer –“
zehnmal: jetzt ist alles aus.

Zehnmal: Grüßt uns die zu Haus!

Zehnmal: vor der eignen Bahre.

Zum Tode verurteilt sieben Jahre.

Sieben Minuten:
Das Blut gerinnt.

Wißt ihr, wie lang sieben Minuten sind –“?
Sieben Minuten Krampf und Qual,

Muskeln zucken noch ein Mal –“
Blut kocht in Venen –“ Hebelgekreisch –“
es riecht nach angesengtem Fleisch –“
irr drehn sich Pupillen –“ das Ding sitzt gebunden
420 lange Sekunden . . .

Strom weg. Tot? Hallelujah!
Bravo! Bravo, U.S.A. –“!

Sieben Jahre und sieben Minuten
mußten zwei Arbeiterherzen bluten.
Sieben Minuten und sieben Jahre –“
Diesen Schwur an ihrer Bahre:

Alle für zwei. Ihr starbt nicht allein.
Es soll ihnen nichts vergessen sein.

(Theobald Tiger, Die Weltbühne, 30.08.1927, Nr. 35, S. 342.)


Warum ich den Industrial Workers of the World beigetreten bin

Damals, 2004, vielleicht 2005, arbeitete ich in Portland, Oregon, als Landschaftsgärtner. Es war ein kleines Team, nur drei von uns und unser Chef. Unser Chef war im Großen und Ganzen ziemlich cool. Er hat uns nicht bis auf die Knochen geschuftet. Er war flexibel, was freie Tage anging. Er nannte mich sogar Magpie. Er bezahlte uns unter dem Tisch. Manchmal ließ er die Arbeit sausen, um surfen zu gehen. So ein Typ.

Tatsächlich sagte ich ihm nach meiner ersten Arbeitswoche: "Hey, ich werde für etwa einen Monat weggehen, um Straßen in Süd-Oregon zu blockieren, um den Verkauf von Altholz zu stoppen, und vielleicht ein bisschen Baumsitting zu betreiben. Wenn ich zurückkomme, kann ich dann meinen Job wiederhaben?", und er sagte ja, und so ging ich für einen Monat weg, und dann kam ich zurück und bekam meinen Job wieder. Eines Morgens rief er mich vor der Arbeit an und sagte: "Hey, du brauchst heute nicht zur Arbeit zu kommen, wenn du nicht willst, wir werden einen Baum fällen." Ich sagte ihm, dass ich ein Problem mit der Abholzung von altem Baumbestand habe, nicht mit dem Fällen von Bäumen, aber ich wusste seine Sorge zu schätzen.

Doch eines Tages entdeckten wir ein Problem. Wir waren zu dritt in seinem Team. Ich war noch nicht als Transsexueller unterwegs, also war ich ein Junge, ein anderer Junge und ein Mädchen. Das Mädchen war die Größte und Stärkste von uns dreien. Wir fanden heraus, dass sie 25 Cent weniger pro Stunde bekam als ich. Das würde nicht reichen. Da wir alle drei Anarchisten waren, marschierten wir zum Red & Black Cafe, wo wir einige Wobblies trafen... einige Leute von der Industrial Workers of the World. "Die anarchistische Gewerkschaft", so stand es da, obwohl das nur halb stimmt. "Die anarchistenfreundliche, auf direkte Aktionen ausgerichtete Gewerkschaft, die vor hundert Jahren von einer Kombination aus Anarchisten und Sozialisten gegründet wurde", wäre eine genauere, wenn auch wortreiche, Beschreibung.

Wir marschierten dorthin, gingen zu den Wobblies und sagten: "Wir sind 100 % unseres Arbeitsplatzes und wir sind bereit, morgen in den Streik zu treten, um gleichen Lohn für Frauen und Männer zu fordern."

Die Wobblies sahen uns an, und einer von ihnen sagte: "Ja, cool, wir haben unsere offenen Treffen für neue Mitglieder am ersten Sonntag jedes zweiten Monats, und das letzte war nächste Woche, also kommt in sieben Wochen wieder und wir werden euch anmelden."

An diesem Tag wurde ich also nicht zu einem Wackelkandidaten.

Stattdessen meldeten wir drei uns am nächsten Morgen bei der Arbeit und sagten unserem Chef: "Sie haben die Wahl. Entweder du zahlst ihr dasselbe wie Magpie, oder du hast keine Angestellten mehr."

Also bekam sie eine Gehaltserhöhung, und ich grub wieder Löcher für 10 Dollar die Stunde, und ich lernte etwas Einfaches und allgemein Wahres: Eine Gewerkschaft hat Macht.

Dann sparte ich erfolgreich genug Geld für ein Flugticket in die Niederlande, kündigte meinen Job und flog über den Ozean, um in einem besetzten Haus zu leben und zu versuchen, mich zu verlieben, was nicht gelang.

Die Geschichte der Gewerkschaften im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten ist, offen gesagt, erschreckend. Wie so oft fungierten die Gewerkschaften eher als Organisationen der weißen Vorherrschaft denn als Instrumente zur Förderung der Interessen der Arbeiterklasse. Wenn man eine Gewerkschaft hat, die nicht-weiße Arbeiter ausschließt, was bei den meisten Gewerkschaften der Fall war, dann hat man eine Organisation, deren Zweck es ist, die Machtstruktur der weißen Vorherrschaft zu erhalten. So einfach ist das.

Natürlich gab es Ausnahmen von diesem expliziten Rassismus, aber insgesamt sahen die ersten Gewerkschaften in den USA nicht gut aus.

Das Bild zeigt das Cover der Broschüre
One Big Union - Eine große Gewerkschaft, Grundlagentext zum Konzept der IWW

Erschienen: Erste Publikation im Jahre 1911.
Überarbeitet und mit einem neuen Nachwort versehen.

Klick auf das Bild führt zur Webseite der Wobblies und der Downloadmöglichkeit der Einführung in die Theorie und Praxis der IWW und ihrer Grundprinzipien als PDF Datei.
Dann, 1905, traf sich eine Gruppe von Sozialisten und Anarchisten in Chicago und gründete die Industrial Workers of the World, eine syndikalistische, antirassistische und antisexistische Gewerkschaft. Sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer und organisierte Menschen, die von den traditionellen Gewerkschaften abgelehnt oder ignoriert worden waren - Wanderarbeiter, Landstreicher und eingewanderte Arbeiter aus den "schlechten" Teilen Europas, wie Italien und Osteuropa, sowie Menschen aus China und Mexiko.

Als ich das erste Mal von den IWW hörte, verwirrte mich der Name. Ich hatte angenommen, dass sie Arbeiter organisierten, die "industrielle" Arbeit verrichteten. Leute, die, ich weiß nicht, Metall in Öfen schmelzen oder mit Hämmern auf Dinge einschlagen. Leute, die Nitzer Ebb und Nine Inch Nails hörten, vielleicht, oder zumindest die Leute, die Nägel herstellten.
Das ist überhaupt nicht die Idee hinter der Industriegewerkschaft. "Industriell" bedeutet in diesem Zusammenhang "ganze Industrien". Dies wird mit "Trade Unionism" verglichen. In der Handelsgewerkschaft gibt es vielleicht eine Bremsergewerkschaft, eine Schaffnergewerkschaft und eine Gewerkschaft der Gleisbauer, die alle voneinander getrennt sind. In der Industriegewerkschaft ist jeder, der bei der Bahn arbeitet, in derselben großen Gewerkschaft.
Damit entfällt eines der wichtigsten Mittel, mit denen die Chefs die Gewerkschaft brechen können. Sie können nicht mehr getrennt mit den Schaffnern verhandeln und somit deren Interessen gegen die der Bremser ausspielen.

Der Antirassismus und Antisexismus der IWW diente dazu, eine andere Art der Spaltung der Arbeiterklasse zu verhindern: Die Vorherrschaft der Weißen war lange Zeit eines der wirksamsten Mittel des Kapitalismus gegen die Arbeiterklasse, und immer wenn weiße Arbeiter streikten, holten die Bosse schwarze (oder chinesische oder mexikanische, je nach Region des Landes) Streikbrecher und schürten einen kleinen Ethnienkrieg.
Infolge der Organisierung durch die IWW gab es Orte wie die Docks in Philadelphia, wo sich in den 1910er Jahren schwarze und weiße Langarbeiter gemeinsam organisierten. Alle, die auf den Docks arbeiteten, organisierten sich gemeinsam, von denen, die auf den Tiefseedocks arbeiteten (die früher am besten bezahlt wurden) bis hin zu den Feuerwehrleuten des Docks, alle in Local 8 der IWW. Sie waren demokratisch, scheuten sich nicht vor direkten Aktionen und verbesserten ihr eigenes Leben durch die gemeinsame Arbeit erheblich.

Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts in Amerika ist peinlich, weil die Gewerkschaften in erster Linie als Vertreter der weißen Vorherrschaft fungierten. Die Gewerkschaftsbewegung in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat keinen viel besseren Ruf, weil die Gewerkschaften, sobald sie sich etabliert hatten, zu einer eigenen Machtstruktur wurden, die für ihre eigene Korruption anfällig war. Ihre Verbindungen zum organisierten Verbrechen wurden immer enger, und einige machten sogar gemeinsame Sache mit den Bossen. Trotz der Korruption war ein gewerkschaftlich organisierter Arbeitsplatz immer besser für den Arbeitnehmer als ein nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeitsplatz, und viele der großen Gewerkschaften haben schließlich ihre eigene Korruption ausgemerzt. Dennoch hebt sich die Arbeit der IWW zu Beginn des 20. Jahrhunderts leuchtend von der Mehrheit der gewerkschaftlichen Organisierung ab, die davor und danach stattfand.

Die Wobblies waren und sind Menschen, die kein Interesse am Aufbau korrumpierbarer Strukturen hatten, die keine Angst vor dem eigentlichen Kampf hatten und haben.
Bei meinen Recherchen für meinen Geschichtspodcast kamen die IWW immer wieder zur Sprache. Einiges davon war mir bekannt, wie z. B. die Kämpfe um die Meinungsfreiheit im Westen, wo Landstreicher zu Hunderten und Tausenden auftauchten, um verhaftet zu werden, weil sie sich in Boomtowns organisierten und ins Gefängnis geworfen wurden, bis die Stadt sie schließlich alle freilassen und die Meinungsfreiheit wieder zulassen musste. Bei diesen Kämpfen starben Menschen, weil sie in den Gefängnissen misshandelt wurden. Andere wurden von rechtsgerichteten Mobs angegriffen und gefoltert. Aber sie gewannen.

Ein anderes Mal tauchten die IWW bei meinen Recherchen an Stellen auf, an denen ich sie überhaupt nicht erwartet hatte. Zum Beispiel, wie einflussreich sie in der mexikanischen Revolution waren: Kurz vor der mexikanischen Revolution inszenierte eine massive anarchistische Fraktion, die sich ironischerweise "Liberale Partei" nannte und zum Teil von einem indigenen Anarchisten namens Ricardo Flores Magón angeführt wurde, bewaffnete Aufstände im ganzen Land. Am Ende brachen diese Aufstände zusammen, aber sie ebneten innerhalb weniger Jahre den Weg für eine liberalere Revolution. Ein großer Teil der Organisation dieser Revolutionen fand in den USA jenseits der Grenze statt und wurde von den multirassischen, internationalen IWW geleistet, die sich damals stark für die Organisierung von eingewanderten und mexikanischen Minenarbeitern engagierten. Das bedeutet, dass deutsche Anarchisten mit dem Gewehr in der Hand neben ihren mexikanischen Kollegen stehen und für die Befreiung Mexikos von der Unterdrückung kämpfen, was ein cooles Bild ist.

Manchmal reichten die Fäden, die zu den IWW zurückführten, länger. Die Gründung der IWW hat den Lauf der Geschichte in der ganzen Welt entscheidend verändert. Ihre Ideen waren revolutionär, und zwar nicht nur, weil sie für die Revolution eintraten, sondern weil sie revolutionierten, was Gewerkschaftsarbeit sein konnte. Sie brachten die Ideen des Syndikalismus in den Vordergrund, und überall auf der Welt begannen die Menschen, sich entlang der Linien von Industriegewerkschaftern und Syndikalisten - oft Anarchosyndikalisten - zu organisieren.

Ich kann zum Beispiel eine direkte Linie von der schwarzen und indigenen Anarchistin Lucy Parsons, einer der Gründerinnen der IWW, zu der Art und Weise ziehen, wie die Anarchosyndikalisten in den 1920er Jahren in Deutschland Hunderte oder Tausende von unterirdischen Abtreibungskliniken errichteten, in denen Millionen von Abtreibungen vorgenommen wurden. Ich kann eine Linie von Lucy Parsons zu dem deutschen Anarcho-Syndikalisten Rudolph Rocker ziehen, der in den 1910er Jahren für einige Jahre nach England ging und dort irische und jüdische Arbeitsmigranten zusammenbrachte. Da die irischen Hafenarbeiter gestreikt hatten, schickten sie ihre Kinder zu den jüdischen Schneidern, um sie zu ernähren. Als die britischen Faschisten in den 1930er Jahren versuchten, die Iren gegen die Juden aufzuhetzen, wollten die Iren nichts davon wissen, und gemeinsam schlugen die Juden und die Iren die Faschisten in der Schlacht in der CableStreet vernichtend, was der faschistischen Organisation auf der Straße im England der 1930er Jahre den Todesstoß versetzte. Ich kann mir das ansehen und sagen: "Das geschah, weil eine Frau namens Lucy Parsons in den Vereinigten Staaten in die Sklaverei hineingeboren wurde und nach ihrer Befreiung ihr Leben der Entwicklung von Strategien widmete, mit denen wir alle nicht nur von der Sklaverei, sondern auch vom Kapitalismus befreit werden können."

Ich fand mehr und mehr dieser Themen. Die IWW tauchten immer wieder an den unwahrscheinlichsten Orten auf.
Vor ein paar Wochen, als ich über die Gewerkschaft Local 8 in Philadelphia recherchierte, beschloss ich, dass ich ein Heuchler wäre, wenn ich nicht beitreten würde, und ich trat den IWW bei.

Die erste Blütezeit der IWW brach während der ersten Roten Panik 1917 oder so zusammen, als Anarchisten und Wobblies massenweise verhaftet oder deportiert wurden. Die Gewerkschaft hielt sich wacker, aber die politische Landschaft Amerikas wurde für immer verändert. Einer der Kerngedanken der IWW war es, die Arbeiter auch entlang linker ideologischer Linien zu vereinen, aber nach dem russischen Bürgerkrieg, als die Bolschewiki ihre linken Mitstreiter zerschlugen, wurde die Vorstellung, was es bedeutet, ein Linker, Kommunist oder Sozialist zu sein, ebenfalls für immer verändert. Die Bolschewiki hielten nicht viel von den IWW, da sie zu demokratisch und zu schwer zu beeinflussen waren, und unterstützten stattdessen die liberaleren Gewerkschaften, da diese leichter zu kontrollieren waren.

Der Stern der IWW ging unter. Die liberaleren Gewerkschaften beanspruchten einen größeren Anteil der Arbeiterklasse für sich. Mit der Zeit wurden diese Gewerkschaften natürlich auch rassenübergreifend, und es war immer noch besser, einen gewerkschaftlichen Arbeitsplatz zu haben als einen nicht gewerkschaftlichen Arbeitsplatz.

Die IWW sind jedoch nie verschwunden. Ich weiß weniger über ihr Wiederaufleben, aber ich weiß, dass sie stattgefunden hat, und seit Jahrzehnten beobachte ich, wie die IWW Dinge erreichen, die ich nie für möglich gehalten hätte. Die vielleicht beeindruckendste Errungenschaft der IWW ist das IWOC, das "Incarcerated Workers Organizing Committee". Die IWW organisieren die Gefängnisarbeit. Und das ist keine Sache von oben nach unten... die Gefangenen selbst organisieren sich drinnen, während die Organisatoren draußen ihre Unterstützung anbieten.

Ich bin ein Freiberufler ohne eine traditionelle Belegschaft, aber die FJU, die Gewerkschaft der freien Journalisten, vertritt, nun ja, freie Journalisten. Sie kämpft, oft erfolgreich, für die Auszahlung nicht gezahlter Löhne. Sie arbeitet an der Festlegung von Standards für Medien, die Freiberufler veröffentlichen.

Um ehrlich zu sein, brauche ich selbst keine Gewerkschaft. Meine Kunden sind in der Regel selbst ziemlich radikal und bezahlen mich pünktlich und so gut sie können. Es ist immer schön, wenn Menschen hinter einem stehen, und ich bin froh, dass ich jetzt diese große, horizontale Organisation an meiner Seite habe, aber ich bin den IWW nicht wegen mir beigetreten. Ich bin beigetreten, weil ich an ihre Mission glaube - die Arbeiterklasse zu organisieren, um ihre eigenen Bedingungen zu verbessern und schließlich die Lohnarbeit ganz abzuschaffen. Ich bin beigetreten, weil ich an die Arbeit glaube, die sie leisten, indem sie traditionelle und nicht-traditionelle Arbeitsplätze gleichermaßen organisieren.

Und ja, es war immer noch ärgerlich, dass vor 20 Jahren die ersten Wobblies, die ich kennenlernte, nicht gerade auf der Höhe der Zeit waren. Ich bin froh, dass ich gelernt habe, dass direkte Aktionen wichtiger sind als institutioneller Rückhalt. Aber was wäre, wenn unser Chef gesagt hätte: "Gut, ihr seid alle gefeuert." Was dann? Hätten wir drei dann die nötige Erfahrung gehabt, um eine Beschwerde einzureichen, oder den nötigen Rückhalt, um Druck auf ihn auszuüben, damit er uns unseren nicht gezahlten Lohn auszahlt? (Die Antwort auf beide Fragen ist nein.)

Die IWW scheint eine unvollkommene Organisation zu sein, und sie ist derzeit nicht auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Aber sie erlebt ein Wiederaufleben, und sie ist notwendiger denn je. Immer mehr Menschen arbeiten an nicht-traditionellen Arbeitsplätzen, und es braucht eine flexible, kämpferische Gewerkschaft, um die Menschen zu organisieren, die von den traditionellen Gewerkschaften ignoriert werden.

Also bin ich den Wobblies beigetreten. Das kannst du auch. Wenn du dich anmeldest und deinen Beitrag bezahlst (der je nach Einkommen gestaffelt ist), wird sich jemand mit dir in Verbindung setzen, um mit dir darüber zu sprechen, was auf lokaler Ebene passiert und wie du dich engagieren kannst.

Die Präambel der IWW-Satzung wurde von Thomas Hagerty verfasst, einem katholischen Wanderprediger, der wegen seiner politischen Aktivitäten aus der Kirche geworfen wurde und als Mystiker auf den Straßen Chicagos landete. Wie könnte ich es nicht lieben?

"Die Arbeiterklasse und die Klasse der Ausbeuter haben nichts gemeinsam.

Es kann keinen Frieden geben, solange Hunger und Not unter Millionen von Arbeitern herrschen und die wenigen, die die Ausbeuterklasse bilden, über alle Güter des Lebens verfügen.

Zwischen diesen beiden Klassen muss ein Kampf geführt werden, bis sich die Arbeiter der Welt als Klasse organisieren, die Produktionsmittel in Besitz nehmen, das Lohnsystem abschaffen und in Harmonie mit der Erde leben.

Wir stellen fest, dass die Zentralisierung der Verwaltung der Industrien in immer weniger Händen die Gewerkschaften unfähig macht, mit der immer größer werdenden Macht der Ausbeuterklasse fertig zu werden.

Die Gewerkschaften fördern einen Zustand, der es ermöglicht, eine Gruppe von Arbeitnehmern gegen eine andere Gruppe von Arbeitnehmern in derselben Branche auszuspielen und so dazu beizutragen, sich gegenseitig in Lohnkriegen zu besiegen.

Darüber hinaus helfen die Gewerkschaften der Ausbeuterklasse, die Arbeiter in dem Glauben zu lassen, dass die Arbeiterklasse gemeinsame Interessen mit ihren Ausbeutern hat.

Diese Verhältnisse können nur durch eine Organisation geändert und die Interessen der Arbeiterklasse gewahrt werden, die so beschaffen ist, dass alle ihre Mitglieder in einem Industriezweig oder, falls erforderlich, in allen Industriezweigen die Arbeit niederlegen, wenn in irgendeiner Abteilung ein Streik oder eine Aussperrung stattfindet, so dass die Schädigung eines Einzelnen eine Schädigung aller ist.

Anstelle des konservativen Mottos "Gerechter Tageslohn für gerechte Arbeit" müssen wir die revolutionäre Losung auf unsere Fahne schreiben: "Abschaffung des Lohnsystems".

Es ist die historische Aufgabe der Arbeiterklasse, den Kapitalismus abzuschaffen.

Die Armee der Produktion muss organisiert werden, nicht nur für den täglichen Kampf mit den Kapitalisten, sondern auch um die Produktion fortzuführen, wenn der Kapitalismus gestürzt ist.

Indem wir uns industriell organisieren, bilden wir die Struktur der neuen Gesellschaft innerhalb der Schale der alten."

Margaret Killjoy, Birds Before the Storm, 14. August 2024

Übersetzung mit freundlicher Genehmigung: Thomas Trueten

Links:

Industrial Workers of the World (IWW) im deutschsprachigen Raum

Für palästinensische Eltern löst jeder Tag dieses Krieges existenzielle Ängste aus

In der Vernichtung des Gazastreifens sehen wir eine Vision unserer Zukunft als Palästinenser innerhalb Israels. Sollen wir uns an unser Land klammern oder für die Sicherheit unserer Kinder sorgen und das Land verlassen?

Meine 3-jährige Tochter spielt gerne das, was wir das "Kartoffelspiel" nennen. Sie sitzt in einer Decke, während ich sie hochhebe und schwinge und dabei rufe: "Fünf Kilo Kartoffeln! Fünf Kilo Kartoffel!" Heutzutage finde ich dieses Spiel erschreckend. Es erinnert mich an die Videos von Kindern im Gazastreifen, die die Leichenteile ihrer Geschwister in eine Decke einwickeln und sie so lange tragen, bis sie eine Beerdigung durchführen können. Vielleicht will ich meiner Tochter beweisen, wie stark ich bin, oder sie zum Lachen bringen, weil ich immer noch zustimme, dieses Spiel mit ihr zu spielen, wenn sie darum bittet. Aber ich verstehe, warum meine Frau versucht hat, uns das Spiel zu verbieten, wenn sie sieht, wie ich mich meinen Traumata ergebe.

Das Foto zeigt ein Flüchtlingslager im südlichen Gazastreifen. Kinder sitzen in einem aus Plastikplanen gebildeten Zelt vor einer Feuerstelle. Andere Menschen laufen umher.
Das Foto von © MohammedZaanoun / Activestills zeigt ein Flüchtlingslager Anfang Januar 2024 im südlichen Gazastreifen. Kinder sitzen in einem aus Plastikplanen gebildeten Zelt vor einer Feuerstelle. Andere Menschen laufen umher.
Für die Palästinenser in Gaza waren es mehr als neun Monate unerbittlicher Bombardierung. Für mich, einen Palästinenser in Israel, waren es mehr als neun Monate ständiger Angst um meine Tochter und ihre Zukunft. Ich bin gegenüber den schrecklichen Videos noch nicht unempfindlich geworden: Jedes Bild eines palästinensischen Vaters, der den leblosen Körper seines Kindes hält, erinnert mich an die Gefahr, der meine Tochter hier ausgesetzt ist. Wenn mich der Krieg etwas gelehrt hat, dann die traurige Wahrheit, dass das Leben unserer Kinder wertlos ist, nicht nur für die israelische Gesellschaft, sondern für die ganze Welt - eine Welt, in der sie unerwünscht sind, die sie nach ihrer Hautfarbe, Religion und Nationalität beurteilt und ihre Existenz als "demografisches Problem" betrachtet.

Wie egoistisch und unbeteiligt muss ich klingen, wenn ich unsere Situation mit dem Ausmaß der Katastrophe in Gaza vergleiche, wo die Eltern mit den schlimmsten Albträumen konfrontiert sind, die man sich vorstellen kann. Und wir Palästinenser in Israel und im besetzten Westjordanland sind nicht in Massen auf die Straße gegangen, um gegen die anhaltenden Massaker zu protestieren - sei es aus Angst vor Verfolgung oder einfach aus Lähmung. Dies ist ein Zeichen der Schande, mit dem wir leben müssen.

Ich kann mich nicht dazu durchringen, andere Palästinenser dafür zu kritisieren, dass sie in ihren Häusern bleiben, obwohl ich die Rücksichtslosigkeit des israelischen Militärs sehe und wie diese Kriegsverbrechen in den israelischen Medien gerechtfertigt werden. Als Eltern haben wir alle mit den gleichen existenziellen Ängsten zu kämpfen. Was wird mit meiner Tochter geschehen, wenn ich verhaftet werde? Was wird ihr durch den Kopf gehen, wenn sie sieht, wie die Polizei mich gewaltsam in Gewahrsam nimmt? Oder wenn wir von einem israelischen Mob körperlich angegriffen werden? Könnte ich die Vorstellung ertragen, dass sie zusieht, wie ich brutal gedemütigt werde, wie die unzähligen Väter in Gaza, die in israelischer Haft verhungern?

Für mich und meine Familie als Bewohner von Jaffa - der einzigen palästinensischen Gemeinde inmitten von etwa 4 Millionen Juden im Großraum Tel Aviv - stellt sich die Frage: Was werden sie mit uns machen? Vielleicht werden sie uns in ein Ghetto stecken, wie sie es nach 1948 getan haben? Vielleicht werden sich bewaffnete jüdische Gruppen organisieren, um uns zu schaden, wie sie es während der Einheitsintifada im Mai 2021 getan haben - und wie sie es jeden Tag im Westjordanland tun?

Nur drei Jahre nach dem Mai 2021 und seinen Folgen, als Palästinenser in Jaffa und anderen so genannten "gemischten Städten" Zeugen staatlicher Gewalt wurden, die sich mit der Gewalt des zionistischen Mobs synchronisierte, werden wir daran erinnert, wie hohl unsere Staatsbürgerschaft ist - besonders in Krisenzeiten.

Unser ständiges Dilemma
Meine Tochter liebt es, Videos auf YouTube anzusehen, aber als verantwortungsbewusste Eltern beschränken wir ihre Bildschirmzeit auf 15 Minuten pro Tag. Gelegentlich, wenn ich mit ihr zusammen sitze und sie anschaue, taucht erschreckende Werbung auf: staatliche Propaganda, die für den Krieg wirbt, oder Lieder, die zu mehr palästinensischem Blut aufrufen. Zum Glück versteht sie kein Hebräisch und kann nicht begreifen, wie gefährlich unsere Situation ist.

Jedes Mal, wenn wir mit ihr in die örtlichen Parks gehen, sehen wir jüdisch-israelische Eltern mit ihren Sturmgewehren - eine Mischung aus Soldaten, die nicht im Dienst sind, und normalen Bürgern, die von der Entscheidung des Ministers für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, profitiert haben, nach dem 7. Oktober mehr als 100.000 Waffenscheine zu verteilen. Ich kann nicht anders als zu denken: Welches Kriegsverbrechen haben diese Eltern während ihres Militärdienstes begangen, und ist es für uns sicher, in ihrer Nähe zu sein?

Auf TikTok sehen wir, wie unsere jüdisch-israelischen Nachbarn den Gazastreifen zerstören und die Palästinenser misshandeln und demütigen - ein Ausdruck des hemmungslosen Bösen, der in der israelischen Gesellschaft nicht einmal mit einem leisen Protest quittiert wird. So dystopisch es auch klingen mag, diese Bilder sind unsere Zukunft auf Film gebannt. Das wirft weitere Fragen auf: Wohin würden wir fliehen? Werden uns die arabischen Länder aufnehmen? Wird man uns humanitäre Hilfe schicken?

Ein Mann sitzt mit 12 Kindern vor einem Geburtstagskchen. Die Kinder sind mit Luftballons und spitzen Geburtstagshüten ausstaffiert
Im Krieg von 2021 feiert ein palästinensischer Mann den Geburtstag seines Sohnes über den Trümmern seines von israelischen Flugzeugen zerstörten Hauses.

Foto: © Mouhammed Zanoun
Jeden Tag stehen palästinensische Eltern vor diesem ständigen Dilemma: Halten wir an unserem Land fest oder sorgen wir für die Sicherheit unserer Kinder und verlassen es? Trotz unserer relativen Sicherheit sind auch wir Palästinenser innerhalb Israels verwundbar, da es keine Institution gibt, die uns schützt oder in unserem Namen auf internationaler Ebene spricht. Andererseits wird unser Leben sinnlos, wenn wir unser Land und unsere Gemeinschaft aufgeben.

Die Welt sympathisiert nur so lange mit den Palästinensern, wie sie in Palästina sind. Sobald wir das Land verlassen, werden wir zu einem Ärgernis - sei es als Flüchtlinge in arabischen Ländern, die uns als politische Bedrohung und Quelle der Instabilität betrachten, oder im Westen, dessen Regierungen sich weigern, unsere Menschlichkeit anzuerkennen. Würde meine Tochter es mir verübeln, wenn ich sie als Flüchtling in ein fremdes Land mitnehme?

Die Kriegsverbrechen und Massaker in Gaza haben die harte Realität enthüllt, wie gefährlich das Leben hier für alle Palästinenser ist, die der Willkür Israels ausgeliefert sind. Ich habe großen Respekt vor all denen, die sich trotz allem dafür entschieden haben, im Gazastreifen, im Westjordanland und in den Grenzen von 1948 zu bleiben, und mein Herz bricht für all die Eltern, die für diese Entscheidung einen hohen Preis bezahlt haben. Aber ich verstehe auch diejenigen, die alles getan haben, um ihre Kinder zu schützen, selbst um den Preis, dass sie zu Flüchtlingen wurden. Wir sind schließlich Menschen, die ihr Land und ihre Kinder zutiefst lieben.

Quelle: Von Abed Abou Shhadeh 15. Juli 2024 via +972mag

Abed Abou Shhadeh ist ein politischer Aktivist aus Jaffa. Er war von 2018 bis 2024 Vertreter der palästinensischen Gemeinde in Jaffa-Tel Aviv im Stadtrat und moderiert derzeit den Al-Midan (الميدان)-Podcast bei Arab48.
Übersetzung: Thomas Trueten

186.000 Getötete in Gaza

An die Wuppertaler Unterstützenden des offenen Briefes „ Aus aktuellem Anlass: Kein Platz für Antisemitismus an Hochschulen“

Sehr geehrter Herr Lutter, sehr geehrter Herr Bedenbender, sehr geehrter Herr Freudenberg, sehr geehrte Frau Gräsel, sehr geehrter Herr Hartung, sehr geehrter Herr Heinen, sehr geehrter Herr Johrendt, sehr geehrter Herr Jürges, sehr geehrte Frau König, sehr geehrte Frau Schneider, sehr geehrter Herr Grimm, sehr geehrter Herr Hunze, sehr geehrte Frau Lütke-Harmann,

Das Foto zeigt Zerstörungen in Rafah
Foto © Mohamed Zanoun via activestills.org
Sie haben am 2. Juli 2024 den offenen Brief „ Aus aktuellem Anlass: Kein Platz für Antisemitismus an Hochschulen“ unterzeichnet.

Ich möchte Sie auf die folgende Veröffentlichung aufmerksam machen:

„Counting the dead in Gaza: difficult but essential“ - Artikel von Rasha Khatib, Martin McKee und Salim Yusuf, erschienen am 5. Juli 2024 in The Lancet.

Der Artikel bezieht sich auf die grosse Studie „Global burden of armed violence“, Geneva Declaratian Secretariat, Geneva 2008

Es wird angenommen, dass die Zahl indirekter Todesfälle in modernen bewaffneten Auseinandersetzungen die Zahl direkter Todesfälle um den Faktor drei bis fünfzehn übersteigt. Die Autor:innen setzen für Gaza das Ergebnis konservativ mit dem Faktor vier an. Sie kommen unter dieser Annahme, bei Berücksichtigung von Unsicherheiten, zu dem Ergebnis, dass von Oktober 2023 bis zum 19. Juni 2024 circa 186.000 Menschen getötet wurden.

Als angemessener historischer Vergleich der Belagerung einer Millionenstadt ist die Blockade von Leningrad 1941 bis 1944 heranzuziehen. Hier wurde innerhalb von 28 Monaten schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung durch Hunger, Krankheit und Beschuss getötet. Dabei starben von den circa 1,1 Millionen Opfern etwa 16.000 direkt durch Waffengewalt. Die systematische Zerstörung der Infrastruktur durch die deutsche Armee war integraler Teil der deutschen Kriegsführung.

Es gibt allerdings auch signifikante Unterschiede zwischen Leningrad und Gaza: Während Leningrad eine weitläufige Metropole mit Umland war, umfasst Gaza lediglich eine Fläche von 45 Quadratkilometern.

Gaza ist mit über 12.000 Einwohner:innen pro Quadratkilometer der am dichtesten besiedelte Ort der Welt. Etwa die Hälfte der Bevölkerung sind Kinder und Jugendliche. Durch diese Faktoren liegt eine hohe Vulnerabilität vor.

Durch die Blockade und die Bombardierung seit dem 10. Oktober wurden alle Bereiche der Infrastruktur zerstört. Elektrizität, Wasser und Abwasser, Strassen, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten sind Ziele systematischer Angriffe durch die israelische Armee.

Daraus resultiert ein eklatanter Mangel an Wasser, an Nahrungsmitteln, an Medizin, an Dingen des täglichen Bedarfs. Durch gravierenden und langhaltenden Mangel hervorgerufene Schwäche führt zu Verbreitung vermeidbarer Krankheiten, zum zunehmenden Sterben von Kranken, Alten und Kindern.

Nahezu alle Bewohner:innen sind Binnenvertriebene. Mehr als fünfzig Prozent der Wohngebäude sind zerstört. Unter den Trümmern werden mindestens 10.000 nicht geborgene Leichen vermutet.

Alle Bürger:innen in Gaza sind seit neun Monaten in einer körperlicher und psychischen Extremsitation, die durch Verlust und Todesangst gekennzeichnet ist.

Israel hat eine der modernsten Streitkräfte weltweit. Armee, Luftwaffe und Marine setzen Waffen aller Gattungen und Munition aller Kaliber in Gaza ein. 1000 Pfund Bomben und 2000 Pfund Bomben werden in die Stadt mit der welthöchsten Bevölkerungsdichte abgeworfen.

Es muss davon ausgegangen werden, dass die Kombination aller dieser Faktoren zu einer Beschleunigung der Sterblichkeit, führen wird.

Es wäre deshalb die These zu prüfen, ob die Zahl an Getöteten in Gaza höher als Faktor vier, wie bei Khatib, McKee, Yusuf, anzusetzen ist. Dann wäre die Zahl von 186.000 getöteten Einwohner:innen in Gaza überschritten.

Der Stichtag des Artikels war der 19. Juni, seitdem ein weiterer Monat mit Blockade und unverminderter Bombardierung vergangen.

Als Lehrende und Forschende sind Sie aufgefordert, die Hypothese von Khatib, McKee, Yusuf nach den Grundsätzen der Wissenschaftlichkeit zu diskutieren.

Geben Sie Ihre einseitige Position auf und ziehen Sie die einzige mögliche Schlussfolgerung aus der Analyse - verurteilen Sie dieses enorme Kriegsverbrechen!

Wuppertal, 20. Juli 2024

Spenden für Mohammed Zanoun und seine Familie

Der preisgekrönte internationale und arabische Fotojournalist Mohammed Al-Zanoun aus Gaza bei der Arbeit mit blauer Pressejacke, Helm und Kamera beim Fotografieren in einem Trümmerfeld
Der preisgekrönte internationale und arabische Fotojournalist Mohammed Zanoun aus Gaza bei der Arbeit
Um Mohammed Zanoun, einen Fotografenkollegen, der unter anderem für activestills.org und die Nachrichtenagentur Ma'an arbeitet, aus dem Gaza Streifen bitte ich um Spenden via gofundme:

Hallo, mein Name ist Sarah Al Zanoun.
Ich bin eine Verwandte von Mohammed Zanoun und muss meiner Familie dringend helfen, den Gazastreifen sicher zu verlassen.
Mohammed ist ein international bekannter Fotograf, der alles in Gaza dokumentiert - Gutes und Schlechtes. Er hat schon viele Male den Tod überlebt. Im Jahr 2006 wurde Mohammed während seiner Arbeit für die Nachrichtenagentur Ma'an mehrmals von israelischen Scharfschützen angeschossen. Die Chancen, dass er überlebt, waren gering, aber er überlebte mit einer bleibenden Verletzung und zeigt der Welt weiterhin mutig die Gräueltaten, denen Gaza ausgesetzt ist.

Im Oktober zerstörten die israelischen Besatzungstruppen sein Haus, in dem 30 Familienmitglieder lebten. Die Bombardierungen haben ihm und seiner Familie alles genommen. Seine Frau und seine vier Kinder leben in der ständigen Angst, zur Zielscheibe des Militärs zu werden, während sie vertrieben werden, frieren und hungern.

Unser gemeinsames Ziel ist es, genügend Geldmittel zu sammeln, um ihm und seiner Familie die lebensnotwendige Versorgung und Unterkunft zu ermöglichen und sie sicher aus dem Gazastreifen zu bringen.

Mohammed ist ein leidenschaftlicher Fotograf, aber nach fast 120 Tagen Völkermord ist es wichtig, dass Mohammed sich in Sicherheit bringt, anstatt über die Geschehnisse in Gaza zu berichten. Jeder Beitrag, unabhängig von seiner Größe, hat eine tiefgreifende Wirkung.

Mohammed hat seine eigene Familie bereits viermal aus den Trümmern gerettet. Jetzt ist es an der Zeit, dass wir ihm und seiner Familie helfen, sich aus dieser schrecklichen Situation zu befreien.

Seine Familie und ihr Leben hängen im wahrsten Sinne des Wortes davon ab.



Text in Arabisch:

اسمي سارة زعنون

و أنا بحاجة ماسة لإخراج قريبي الصحفي محمد زعنون وعائلته من غزه قبل فوات الاوان.

محمد مصور معروف دولياً يوثق كل شيء في غزة (الجيد والسيء). لقد نجا من الموت مرات عديدة. وقد أطلق القناصة الإسرائيليون النار على محمد عدة مرات في عام 2006 بينما كان يعمل لدى وكالة معان الجديدة وكانت احتمالات بقائه على قيد الحياة ضئيلة، ولكنه نجا بإصابه دائمه واصر بكل شجاعه رغم كل التحديات الجسديه والنفسيه ان يواصل عمله ويُظهر للعالم الفظائع التي تواجهها غزة.

في تشرين الأول/أكتوبر، دمرت قوات الاحتلال الإسرائيلية منزله الذي يضم 30 فرداً من أفراد أسرته. واستولت عمليات القصف على كل شيء منه ومن أسرته. والآن تعيش عائلته واطفاله الاربعه رعب الاستهداف المباشر لمحمد وهم نازحين مشردين معرضين للموت بأي لحظه. والبرد القارص والجوع يلازمهم .

تتمثل مهمتنا الجماعية في جمع الأموال الكافية لإخراج محمد واطفاله من غزه والحصول على الرعاية الأساسية، والمأوى والأمان.

محمد لديه شغف بالتصوير الفوتوغرافي، ولكن بعد اكثر من 120 يوم من الإبادة الجماعية، فإنه من الأهم أن يسعى محمد إلى الأمان بدلاً من السعي إلى تغطية ما يحدث في غزة. ولكل مساهمة، بغض النظر عن حجمها، أثر عميق.

لقد سحب محمد أسرته من الأنقاض في أربع مناسبات مختلفة … حان الوقت الآن لكي نساعد على إخراجه وأسرته من هذه الحالة الأليمة.
عائلته وحياتهم يعتمدون عليها حرفياً.

Text in english:

Hi my name is Sarah Al Zanoun
I'm a relative of Mohammed Zanoun and I URGENTLY need to help my family safely get out of Gaza.
Mohammed is an internationally known photographer who documents everything in Gaza-good and bad. He has survived death many times. Mohammed was shot by Israeli snipers several times in 2006 while working for Ma'an new agency. The odds of him surviving were slim, but he did survive suffering a permanent injury and continues to bravely show the world the atrocities Gaza is facing.

In October, the Israeli Occupation Forces destroyed his home which housed 30 family members. The bombardments took everything from him and his family. His wife and four children live in the constant fear of being military targets whilst displaced, cold and hungry.

Our collective mission is to raise enough funds to get essential care, shelter, and help him and his family navigate out of Gaza SAFELY.

Mohammed has a passion for photography, but after nearly 120 days of genocide, it is crucial that Mohammed seeks safety rather than seeking coverage of what’s happening in Gaza. Every contribution, regardless of size, has a profound impact.

Mohammed has pulled his own family out of the rubble on four different occasions, it is now time for us to help pull him and his family out of this dire situation.
His family and their lives, quite literally depend on it.

Source: Gofundme

"Mir ist langweilig, also schieße ich": Die Zustimmung der israelischen Armee zur freien Gewalt in Gaza

Israelische Soldaten beschreiben, dass es im Gaza-Krieg so gut wie keine Schießvorschriften gibt. Die Truppen schossen nach Belieben, steckten Häuser in Brand und ließen Leichen auf den Straßen liegen - alles mit der Erlaubnis ihrer Kommandeure.

Anfang Juni strahlte Al Jazeera eine Reihe beunruhigender Videos aus, die von "Exekutionen im Schnellverfahren" berichteten: Israelische Soldaten erschossen bei drei verschiedenen Gelegenheiten mehrere Palästinenser, die in der Nähe der Küstenstraße im Gaza-Streifen spazieren gingen. In jedem Fall waren die Palästinenser offenbar unbewaffnet und stellten keine unmittelbare Bedrohung für die Soldaten dar.

Solche Aufnahmen sind selten, da Journalisten in der belagerten Enklave nur sehr eingeschränkt arbeiten können und ständig in Lebensgefahr schweben. Diese Hinrichtungen, für die es offenbar keine Sicherheitsgründe gab, stimmen jedoch mit den Aussagen von sechs israelischen Soldaten überein, die nach ihrer Entlassung aus dem aktiven Dienst in Gaza in den letzten Monaten mit +972 Magazine und Local Call sprachen. In Übereinstimmung mit den Aussagen palästinensischer Augenzeugen und Ärzte während des Krieges beschrieben die Soldaten, dass sie befugt waren, praktisch nach Belieben das Feuer auf Palästinenser, einschließlich Zivilisten, zu eröffnen.

Die sechs Quellen - alle bis auf eine, die unter der Bedingung der Anonymität sprach - berichteten, wie israelische Soldaten routinemäßig palästinensische Zivilisten hinrichteten, nur weil sie ein Gebiet betraten, das vom Militär als "No-go-Zone" definiert wurde. Die Zeugenaussagen zeichnen das Bild einer Landschaft, die mit zivilen Leichen übersät ist, die der Verwesung überlassen oder von streunenden Tieren gefressen werden; die Armee versteckt sie nur vor der Ankunft internationaler Hilfskonvois, damit "keine Bilder von Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung an die Öffentlichkeit gelangen". Zwei der Soldaten bezeugten auch eine systematische Politik, palästinensische Häuser in Brand zu setzen, nachdem sie sie besetzt hatten.

Mehrere Quellen schilderten, wie die Möglichkeit, ohne Einschränkungen zu schießen, den Soldaten eine Möglichkeit bot, Dampf abzulassen oder die Tristesse ihrer täglichen Routine zu lindern. "Die Leute wollen das Ereignis [vollständig] erleben", erinnerte sich S., ein Reservist, der im nördlichen Gazastreifen diente. "Ich habe selbst ein paar Kugeln ohne Grund abgefeuert, ins Meer, auf den Bürgersteig oder ein verlassenes Gebäude. Sie melden es als 'normales Feuer', was ein Codename für 'Mir ist langweilig, also schieße ich' ist."

Seit den 1980er Jahren weigert sich das israelische Militär, seine Vorschriften für offenes Feuer offenzulegen, trotz mehrerer Petitionen an den Obersten Gerichtshof. Dem politischen Soziologen Yagil Levy zufolge hat die Armee seit der Zweiten Intifada "den Soldaten keine schriftlichen Einsatzregeln gegeben", so dass vieles der Interpretation der Soldaten im Feld und ihrer Kommandeure überlassen bleibt. Diese laxen Richtlinien haben nicht nur zur Tötung von mehr als 38.000 Palästinensern beigetragen, sondern sind auch mitverantwortlich für die hohe Zahl von Soldaten, die in den letzten Monaten durch eigenen Beschuss getötet wurden.

"Es gab völlige Handlungsfreiheit", sagte B., ein anderer Soldat, der monatelang in den regulären Streitkräften in Gaza diente, auch in der Kommandozentrale seines Bataillons. "Wenn es [auch nur] ein Gefühl der Bedrohung gibt, braucht man nichts zu erklären - man schießt einfach. Wenn Soldaten sehen, dass sich jemand nähert, "ist es erlaubt, auf den Mittelpunkt der Masse [des Körpers] zu schießen, nicht in die Luft", so B. weiter. "Es ist erlaubt, jeden zu erschießen, ein junges Mädchen, eine alte Frau."

B. beschrieb einen Vorfall im November, als Soldaten bei der Evakuierung einer Schule in der Nähe des Zeitoun-Viertels von Gaza-Stadt, die als Unterkunft für vertriebene Palästinenser diente, mehrere Zivilisten töteten. Die Armee wies die Evakuierten an, die Schule auf der linken Seite in Richtung Meer zu verlassen, anstatt auf der rechten Seite, wo die Soldaten stationiert waren. Als in der Schule ein Feuergefecht ausbrach, wurde auf diejenigen, die in dem darauf folgenden Chaos nach links auswichen, sofort geschossen.

"Es gab Informationen, dass die Hamas Panik verbreiten wollte", sagte B.. "Ein Kampf begann im Inneren; die Leute rannten weg. Einige flohen nach links in Richtung Meer, [aber] einige rannten nach rechts, darunter auch Kinder. Jeder, der nach rechts lief, wurde getötet - 15 bis 20 Menschen. Es gab einen Haufen von Leichen.

"Die Leute schossen, wie es ihnen gefiel, mit aller Macht".

B. sagte, dass es schwierig sei, Zivilisten von Kämpfern im Gazastreifen zu unterscheiden und behauptete, dass Hamas-Mitglieder oft "ohne Waffen herumlaufen". Das habe aber zur Folge, dass "jeder Mann zwischen 16 und 50 Jahren verdächtigt wird, ein Terrorist zu sein".

"Es ist verboten, herumzulaufen, und jeder, der sich draußen aufhält, ist verdächtig", so B. weiter. "Wenn wir jemanden sehen, der aus dem Fenster schaut, ist er ein Verdächtiger. Man schießt. Die [Armee] ist der Ansicht, dass jeder Kontakt [mit der Bevölkerung] die Streitkräfte gefährdet, und es muss eine Situation geschaffen werden, in der es unter allen Umständen verboten ist, sich [den Soldaten] zu nähern. [Die Palästinenser] haben gelernt, dass sie weglaufen, wenn wir eindringen.

Selbst in scheinbar unbewohnten oder verlassenen Gebieten des Gazastreifens schossen die Soldaten ausgiebig in einem Verfahren, das als "Anwesenheitsdemonstration" bekannt ist. S. sagte aus, dass seine Kameraden "viel schießen würden, auch ohne Grund - jeder, der schießen will, egal aus welchem Grund, schießt." In einigen Fällen sei dies "beabsichtigt gewesen, um ... Leute [aus ihren Verstecken] zu holen oder um Präsenz zu zeigen."


M., ein weiterer Reservist, der im Gazastreifen diente, erklärte, dass solche Befehle direkt von den Kommandanten der Kompanie oder des Bataillons im Einsatz kommen würden. "Wenn keine IDF-Kräfte [in der Gegend] sind ... wird wie verrückt und uneingeschränkt geschossen. Und nicht nur auf Handfeuerwaffen: Maschinengewehre, Panzer und Mörser."

Selbst wenn es keine Befehle von oben gibt, sagte M. aus, dass die Soldaten im Feld regelmäßig das Gesetz in die eigenen Hände nehmen. "Normale Soldaten, Unteroffiziere, Bataillonskommandeure - die unteren Ränge, die schießen wollen, bekommen die Erlaubnis."

S. erinnerte sich daran, dass er über das Radio von einem Soldaten hörte, der in einem Schutzgebiet stationiert war und eine palästinensische Familie erschoss, die in der Nähe herumlief. "Zuerst sagen sie 'vier Personen'. Daraus werden dann zwei Kinder und zwei Erwachsene, und am Ende sind es ein Mann, eine Frau und zwei Kinder. Sie können sich das Bild selbst zusammenstellen."

Nur einer der für diese Untersuchung befragten Soldaten war bereit, namentlich genannt zu werden: Yuval Green, ein 26-jähriger Reservist aus Jerusalem, der im November und Dezember letzten Jahres in der 55. Fallschirmjägerbrigade diente (Green hat kürzlich einen Brief von 41 Reservisten unterzeichnet, in dem sie erklären, dass sie nach dem Einmarsch der Armee in Rafah ihren Dienst in Gaza verweigern). "Es gab keine Munitionsbeschränkungen", sagte Green gegenüber +972 und Local Call. "Die Leute schossen einfach, um die Langeweile zu vertreiben."

Green beschrieb einen Vorfall, der sich in einer Nacht während des jüdischen Chanukka-Festes im Dezember ereignete, als "das ganze Bataillon gemeinsam das Feuer eröffnete, wie ein Feuerwerk, einschließlich Leuchtspurmunition [die ein helles Licht erzeugt]. Es gab eine verrückte Farbe, die den Himmel erleuchtete, und weil [Chanukka] das 'Fest der Lichter' ist, wurde es symbolisch."

C., ein weiterer Soldat, der im Gazastreifen diente, erklärte, dass die Soldaten, wenn sie Schüsse hörten, über Funk klärten, ob sich eine andere israelische Militäreinheit in der Nähe befand, und wenn nicht, eröffneten sie das Feuer. "Die Leute schossen nach Belieben und mit aller Kraft. Aber wie C. feststellte, bedeutete das uneingeschränkte Schießen, dass die Soldaten oft dem großen Risiko des Beschusses durch eigene Truppen ausgesetzt waren - was er als "gefährlicher als die Hamas" bezeichnete. "Bei mehreren Gelegenheiten schossen die IDF-Kräfte in unsere Richtung. Wir haben nicht darauf reagiert, wir haben uns über Funk informiert, und niemand wurde verletzt."

Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts wurden seit Beginn der Bodeninvasion 324 israelische Soldaten im Gazastreifen getötet, davon nach Angaben der Armee mindestens 28 durch eigenen Beschuss. Nach Greens Erfahrung waren solche Vorfälle das "Hauptproblem", das das Leben der Soldaten gefährdete. "Es gab eine ganze Menge [Friendly Fire]; das hat mich verrückt gemacht", sagte er.

Für Green zeugten die Einsatzregeln auch von einer tiefen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Geiseln. "Sie erzählten mir von der Praxis, Tunnel zu sprengen, und ich dachte mir, wenn Geiseln [darin] wären, würde das sie töten. Nachdem israelische Soldaten im Dezember in Shuja'iyya drei Geiseln töteten, die weiße Fahnen schwenkten, weil sie sie für Palästinenser hielten, sagte Green, er sei wütend, aber man habe ihm gesagt, "wir können nichts tun". "[Die Kommandeure] verschärften die Verfahren und sagten: 'Ihr müsst aufpassen und sensibel sein, aber wir befinden uns in einer Kampfzone und müssen wachsam sein.'"

B. bestätigte, dass auch nach dem Zwischenfall in Shuja'iyya, der als "befehlswidrig" bezeichnet wurde, die Vorschriften für offenes Feuer nicht geändert wurden. "Was die Geiseln betrifft, so hatten wir keine spezielle Anweisung", erinnerte er sich. "[Die Armeeführung] sagte, dass sie nach der Erschießung der Geiseln [die Soldaten vor Ort] unterrichtet hätten. [Aber sie haben nicht mit uns gesprochen." Er und die Soldaten, die bei ihm waren, erfuhren von der Erschießung der Geiseln erst zweieinhalb Wochen nach dem Vorfall, nachdem sie Gaza verlassen hatten.

"Ich habe Aussagen [von anderen Soldaten] gehört, dass die Geiseln tot sind, dass sie keine Chance haben, dass sie aufgegeben werden müssen", so Green. "Das hat mich am meisten gestört ... dass sie immer wieder sagten: 'Wir sind wegen der Geiseln hier', aber es ist klar, dass der Krieg den Geiseln schadet. Das war damals mein Gedanke; heute hat sich das bewahrheitet."

Ein Gebäude stürzt ein, und das Gefühl ist: "Wow, was für ein Spaß".

A., ein Offizier, der in der Operationsdirektion der Armee diente, sagte aus, dass die Operationszentrale seiner Brigade - die die Kämpfe von außerhalb des Gazastreifens koordiniert, Ziele genehmigt und den Beschuss durch eigene Truppen verhindert - keine klaren Befehle für offenes Feuer erhielt, die sie an die Soldaten vor Ort weitergeben konnte. "Von dem Moment an, in dem man den Raum betritt, gibt es zu keinem Zeitpunkt ein Briefing", sagte er. "Wir haben keine Anweisungen von höherer Stelle erhalten, die wir an die Soldaten und Bataillonskommandeure weitergeben konnten.

Er wies darauf hin, dass es Anweisungen gab, nicht entlang der humanitären Routen zu schießen, aber ansonsten "füllt man die Lücken aus, wenn es keine anderen Anweisungen gibt. Das ist der Ansatz: 'Wenn es dort verboten ist, dann ist es hier erlaubt.'"

A. erklärte, dass das Schießen auf "Krankenhäuser, Kliniken, Schulen, religiöse Einrichtungen [und] Gebäude internationaler Organisationen" eine höhere Genehmigung erfordere. Aber in der Praxis "kann ich die Fälle an einer Hand abzählen, in denen uns gesagt wurde, wir dürften nicht schießen. Selbst bei so sensiblen Dingen wie Schulen scheint die Genehmigung nur eine Formalität zu sein".

Im Allgemeinen, so A. weiter, "herrschte in der Einsatzzentrale die Einstellung 'Erst schießen, dann Fragen stellen'. Das war der Konsens ... Niemand wird eine Träne vergießen, wenn wir ein Haus dem Erdboden gleichmachen, obwohl das nicht nötig war, oder wenn wir jemanden erschießen, den wir nicht hätten erschießen müssen."

A. sagte, ihm seien Fälle bekannt, in denen israelische Soldaten auf palästinensische Zivilisten schossen, die ihr Operationsgebiet betraten, was mit einer Untersuchung von Haaretz über "Tötungszonen" in den von der Armee besetzten Gebieten des Gazastreifens übereinstimmt. "Das ist der Standard. Es sollten sich keine Zivilisten in diesem Gebiet aufhalten, das ist die Perspektive. Wir haben jemanden in einem Fenster gesehen, also haben sie geschossen und ihn getötet." A. fügte hinzu, dass aus den Berichten oft nicht klar hervorging, ob die Soldaten Kämpfer oder unbewaffnete Zivilisten erschossen hatten - und "oft hörte es sich so an, als ob jemand in einer Situation gefangen war und wir das Feuer eröffneten".

Aber diese Unklarheit über die Identität der Opfer bedeutete für A., dass man den Berichten des Militärs über die Zahl der getöteten Hamas-Mitglieder nicht trauen konnte. "Das Gefühl im Kriegsraum war, und das ist eine abgeschwächte Version, dass wir jede Person, die wir töteten, als Terrorist zählten", sagte er aus.

"Das Ziel war, zu zählen, wie viele [Terroristen] wir heute getötet haben", so A. weiter. "Jeder [Soldat] will zeigen, dass er der große Mann ist. Die Wahrnehmung war, dass alle Männer Terroristen waren. Manchmal fragte ein Kommandeur plötzlich nach Zahlen, und dann lief der Divisionsoffizier von Brigade zu Brigade und ging die Liste im Computersystem des Militärs durch und zählte."

Die Aussage von A. deckt sich mit einem kürzlich erschienenen Bericht des israelischen Magazins Mako über einen Drohnenangriff einer Brigade, bei dem Palästinenser im Einsatzgebiet einer anderen Brigade getötet wurden. Offiziere beider Brigaden berieten sich darüber, welche der beiden Brigaden die Tötungen registrieren sollte. "Was macht das für einen Unterschied? Registrieren Sie es für uns beide", sagte einer von ihnen dem anderen, so die Veröffentlichung.

In den ersten Wochen nach dem von der Hamas angeführten Anschlag vom 7. Oktober, so erinnert sich A., "fühlten sich die Menschen sehr schuldig, dass dies unter unserer Aufsicht geschah", ein Gefühl, das in der israelischen Öffentlichkeit allgemein geteilt wurde - und sich schnell in den Wunsch nach Vergeltung verwandelte. "Es gab keinen direkten Befehl, Rache zu üben", sagte A., "aber wenn man an Entscheidungspunkte gelangt, haben die Anweisungen, Befehle und Protokolle [in Bezug auf 'sensible' Fälle] nur so viel Einfluss."

Wenn Drohnen Aufnahmen von Angriffen im Gazastreifen live übertrugen, "gab es im Kriegsraum Jubelschreie", so A.. "Hin und wieder stürzt ein Gebäude ein ... und das Gefühl ist: 'Wow, wie verrückt, was für ein Spaß.'"

A. wies auf die Ironie hin, dass ein Teil der Motivation für die israelischen Rufe nach Rache darin bestand, dass die Palästinenser in Gaza sich über den Tod und die Zerstörung am 7. Oktober freuten. Um die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern zu rechtfertigen, griffen die Leute zu Aussagen wie "'Sie haben Süßigkeiten verteilt', 'Sie haben nach dem 7. Oktober getanzt' oder 'Sie haben die Hamas gewählt' ... Nicht alle, aber auch nicht wenige, dachten, dass das Kind von heute der Terrorist von morgen ist.

"Auch ich, ein eher linker Soldat, vergesse sehr schnell, dass es sich um echte Häuser [in Gaza] handelt", sagte A. über seine Erfahrungen im Einsatzraum. "Es fühlte sich an wie ein Computerspiel. Erst nach zwei Wochen wurde mir klar, dass es sich um [tatsächliche] Gebäude handelt, die einstürzen: Wenn es [darin] Bewohner gibt, dann stürzen [die Gebäude] auf ihren Köpfen ein, und selbst wenn nicht, dann mit allem, was darin ist."

Ein entsetzlicher Geruch des Todes

Mehrere Soldaten sagten aus, dass die Politik des freien Schießens es israelischen Einheiten ermöglicht hat, palästinensische Zivilisten zu töten, selbst wenn sie vorher als solche identifiziert wurden. D., ein Reservist, sagte, dass seine Brigade neben zwei so genannten "humanitären" Reisekorridoren stationiert war, einem für Hilfsorganisationen und einem für Zivilisten, die vom Norden in den Süden des Streifens flohen. Innerhalb des Einsatzgebiets seiner Brigade wurde eine "rote Linie, grüne Linie" eingeführt, die Zonen abgrenzt, in die Zivilisten nicht eindringen durften.

Laut D. durften Hilfsorganisationen nach vorheriger Absprache in diese Zonen reisen (unser Interview wurde geführt, bevor eine Reihe israelischer Präzisionsschläge sieben Mitarbeiter der World Central Kitchen töteten ), aber für Palästinenser galt etwas anderes. "Jeder, der die grüne Zone überquerte, wurde zu einem potenziellen Ziel", sagte D. und behauptete, dass diese Gebiete für Zivilisten ausgeschildert seien. "Wenn sie die rote Linie überschreiten, meldet man das über Funk und braucht nicht auf eine Erlaubnis zu warten, man kann schießen."

Dennoch sagte D., dass Zivilisten oft in Gebiete kamen, durch die Hilfskonvois fuhren, um nach Resten zu suchen, die von den Lastwagen fallen könnten; dennoch war es die Politik, jeden zu erschießen, der versuchte, einzudringen. "Die Zivilisten sind eindeutig Flüchtlinge, sie sind verzweifelt, sie haben nichts", sagte er. Dennoch gab es in den ersten Monaten des Krieges "jeden Tag zwei oder drei Zwischenfälle mit unschuldigen Menschen oder [Menschen], die im Verdacht standen, von der Hamas als Späher geschickt worden zu sein", die von Soldaten seines Bataillons erschossen wurden.

Die Soldaten sagten aus, dass im gesamten Gazastreifen Leichen von Palästinensern in Zivilkleidung entlang der Straßen und auf offenem Gelände verstreut lagen. "Die ganze Gegend war voller Leichen", sagte S., ein Reservist. "Es gibt auch Hunde, Kühe und Pferde, die die Bombardierungen überlebt haben und nirgendwo mehr hin können. Wir können sie nicht füttern, und wir wollen auch nicht, dass sie zu nahe kommen. So sieht man gelegentlich Hunde mit verrottenden Körperteilen herumlaufen. Es gibt einen schrecklichen Geruch des Todes.

Doch bevor die humanitären Konvois eintreffen, werden die Leichen entfernt. "Ein D-9 [Caterpillar-Bulldozer] fährt mit einem Panzer hinunter und säubert das Gebiet von Leichen, vergräbt sie unter den Trümmern und kippt sie zur Seite, damit die Konvois sie nicht sehen - [damit] die Bilder von Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung nicht an die Öffentlichkeit gelangen", beschreibt er.

"Ich habe eine Menge [palästinensischer] Zivilisten gesehen - Familien, Frauen, Kinder", fuhr S. fort. "Es gibt mehr Todesopfer als gemeldet. Wir waren in einem kleinen Gebiet. Jeden Tag werden mindestens ein oder zwei [Zivilisten] getötet, [weil] sie in eine verbotene Zone gegangen sind. Ich weiß nicht, wer ein Terrorist ist und wer nicht, aber die meisten von ihnen trugen keine Waffen."

Green sagte, als er Ende Dezember in Khan Younis ankam, "sahen wir eine undeutliche Masse vor einem Haus. Wir erkannten, dass es eine Leiche war; wir sahen ein Bein. In der Nacht fraßen es Katzen. Dann kam jemand und brachte sie weg.

Eine nicht-militärische Quelle, die mit +972 und Local Call sprach, nachdem sie den nördlichen Gazastreifen besucht hatte, berichtete ebenfalls von Leichen, die in dem Gebiet verstreut waren. "In der Nähe des Armeegeländes zwischen dem nördlichen und dem südlichen Gazastreifen sahen wir etwa 10 Leichen, denen in den Kopf geschossen wurde, offenbar von einem Scharfschützen, als sie versuchten, in den Norden zurückzukehren", sagte er. "Die Leichen waren verwest, und es waren Hunde und Katzen um sie herum".

"Sie kümmern sich nicht um die Leichen", sagte B. über die israelischen Soldaten in Gaza. "Wenn sie im Weg sind, werden sie zur Seite geschoben. Es gibt keine Beerdigung der Toten. Die Soldaten sind aus Versehen auf die Leichen getreten."

Letzten Monat sagte Guy Zaken, ein Soldat, der D-9 Bulldozer in Gaza bediente, vor einem Knessetausschuss aus, dass er und seine Mannschaft "Hunderte von Terroristen überfahren haben, tot und lebendig". Ein anderer Soldat, mit dem er zusammen diente, beging anschließend Selbstmord.


Bevor du gehst, brennst du das Haus nieder

Zwei der für diesen Artikel befragten Soldaten schilderten auch, wie das Niederbrennen palästinensischer Häuser unter israelischen Soldaten zur gängigen Praxis geworden ist, worüber Haaretz im Januar erstmals ausführlich berichtete. Green hat zwei solcher Fälle persönlich miterlebt - der erste war eine eigenständige Initiative eines Soldaten, der zweite ein Befehl der Kommandeure - und seine Frustration über diese Politik ist einer der Gründe, die ihn schließlich dazu brachten, den weiteren Militärdienst zu verweigern.

Wenn Soldaten Häuser besetzten, so sagte er aus, galt der Grundsatz: "Wenn du dich bewegst, musst du das Haus niederbrennen". Für Green machte dies jedoch keinen Sinn: In "keinem Szenario" konnte die Mitte des Flüchtlingslagers Teil einer israelischen Sicherheitszone sein, die eine solche Zerstörung rechtfertigen würde. "Wir sind in diesen Häusern nicht, weil sie Hamas-Aktivisten gehören, sondern weil sie uns operativ dienen", stellte er fest. "Es ist ein Haus für zwei oder drei Familien - es zu zerstören bedeutet, dass sie obdachlos werden.

"Ich fragte den Kommandanten der Kompanie, der sagte, dass keine militärische Ausrüstung zurückgelassen werden dürfe und dass wir nicht wollten, dass der Feind unsere Kampfmethoden sehe", so Green weiter. "Ich sagte, ich würde eine Durchsuchung vornehmen, um sicher zu gehen, dass keine Kampfmethoden zurückgelassen wurden. [Der Kompaniechef] gab mir Erklärungen aus der Welt der Rache. Er sagte, sie würden sie verbrennen, weil es keine D-9s oder IEDs von einer Ingenieursgruppe gäbe [die das Haus mit anderen Mitteln zerstören könnten]. Er hat einen Befehl erhalten und es hat ihn nicht gestört."

"Bevor du gehst, brennst du das Haus nieder - jedes Haus", wiederholte B.. "Das wird auf der Ebene der Bataillonskommandeure unterstützt. Es ist so, dass [Palästinenser] nicht zurückkehren können, und wenn wir Munition oder Lebensmittel zurückgelassen haben, können die Terroristen sie nicht benutzen."
Bevor sie abzogen, stapelten die Soldaten Matratzen, Möbel und Decken auf, und "mit etwas Brennstoff oder Gasflaschen", so B., "brennt das Haus leicht ab, es ist wie ein Ofen." Zu Beginn der Bodeninvasion besetzte seine Kompanie einige Tage lang Häuser und zog dann weiter; laut B. brannten sie "Hunderte von Häusern nieder". Es gab Fälle, in denen Soldaten ein Stockwerk in Brand setzten und andere Soldaten in einem höheren Stockwerk waren und durch die Flammen auf der Treppe fliehen mussten oder am Rauch erstickten."

Green sagte, die Zerstörung, die das Militär in Gaza hinterlassen hat, sei "unvorstellbar". Zu Beginn der Kämpfe, so berichtete er, rückten sie zwischen Häusern vor, die 50 Meter voneinander entfernt waren, und viele Soldaten "behandelten die Häuser wie einen Souvenirladen" und plünderten alles, was die Bewohner nicht mitnehmen konnten.

"Am Ende stirbt man vor Langeweile, wenn man dort tagelang wartet", sagte Green. "Man malt an den Wänden, macht grobe Sachen. Man spielt mit Kleidern, findet Passfotos, die sie zurückgelassen haben, hängt ein Bild von jemandem auf, weil es lustig ist. Wir haben alles benutzt, was wir gefunden haben: Matratzen, Essen, einer hat einen 100-NIS-Schein [etwa 27 Dollar] gefunden und ihn mitgenommen."

"Wir haben alles zerstört, was wir wollten", sagte Green aus. "Das geschah nicht aus dem Wunsch heraus, zu zerstören, sondern aus völliger Gleichgültigkeit gegenüber allem, was [den Palästinensern] gehört. Jeden Tag reißt eine D-9 Häuser ab. Ich habe keine Vorher-Nachher-Fotos gemacht, aber ich werde nie vergessen, wie eine Nachbarschaft, die wirklich schön war ... auf Sand reduziert wird."

Der IDF-Sprecher antwortete auf unsere Bitte um einen Kommentar mit folgender Erklärung: "Alle IDF-Soldaten, die im Gazastreifen und an den Grenzen kämpfen, haben beim Eintritt in den Kampf die Anweisung erhalten, offen zu schießen. Diese Anweisungen spiegeln das internationale Recht wider, an das die IDF gebunden ist. Die Anweisungen für den offenen Beschuss werden regelmäßig überprüft und angesichts der sich ändernden operativen und nachrichtendienstlichen Situation aktualisiert und von den ranghöchsten Beamten der IDF genehmigt.

"Die Anweisungen für den offenen Beschuss bieten eine angemessene Reaktion auf alle operativen Situationen und die Möglichkeit, in jedem Fall, in dem unsere Streitkräfte gefährdet sind, die volle operative Handlungsfreiheit zur Beseitigung von Bedrohungen zu nutzen. Gleichzeitig werden den Streitkräften Instrumente an die Hand gegeben, um mit komplexen Situationen in Anwesenheit der Zivilbevölkerung umzugehen, und es wird Wert darauf gelegt, dass Menschen, die nicht als Feinde identifiziert werden oder die keine Gefahr für ihr Leben darstellen, nicht zu Schaden kommen. Allgemeine Anweisungen für den Einsatz von offenem Feuer, wie sie in der Anfrage beschrieben werden, sind nicht bekannt und stehen, sofern sie gegeben wurden, im Widerspruch zu den Befehlen der Armee.

"Die IDF untersucht ihre Aktivitäten und zieht Lehren aus operativen Ereignissen, einschließlich des tragischen Ereignisses der versehentlichen Tötung von Yotam Haim, Alon Shamriz und Samer Talalka. Die aus der Untersuchung des Vorfalls gezogenen Lehren wurden an die Kampftruppen vor Ort weitergegeben, um zu verhindern, dass sich ein derartiger Vorfall in Zukunft wiederholt.

"Im Rahmen der Zerstörung der militärischen Fähigkeiten der Hamas ergibt sich unter anderem die operative Notwendigkeit, Gebäude zu zerstören oder anzugreifen, in denen die Terrororganisation ihre Kampfinfrastruktur untergebracht hat. Dazu gehören auch Gebäude, die die Hamas regelmäßig für Kampfhandlungen umbaut. Inzwischen nutzt die Hamas systematisch öffentliche Gebäude, die eigentlich für zivile Zwecke genutzt werden sollten, militärisch. Die Befehle der Armee regeln das Genehmigungsverfahren, so dass die Beschädigung sensibler Stätten von hochrangigen Befehlshabern genehmigt werden muss, die die Auswirkungen der Beschädigung des Gebäudes auf die Zivilbevölkerung berücksichtigen, und dies angesichts der militärischen Notwendigkeit, das Gebäude anzugreifen oder abzureißen. Die Entscheidungsfindung dieser höheren Befehlshaber erfolgt in geordneter und ausgewogener Weise.

"Das Verbrennen von Gebäuden, die nicht für operative Zwecke notwendig sind, verstößt gegen die Befehle der Armee und die Werte der IDF.

"Im Rahmen der Kampfhandlungen und auf Befehl der Armee ist es möglich, feindliches Eigentum für wichtige militärische Zwecke zu nutzen sowie Eigentum terroristischer Organisationen auf Befehl als Kriegsbeute zu nehmen. Gleichzeitig stellt die Entnahme von Eigentum für private Zwecke eine Plünderung dar und ist nach dem Gesetz über die Militärgerichtsbarkeit verboten. Vorfälle, in denen die Streitkräfte nicht in Übereinstimmung mit den Befehlen und dem Gesetz gehandelt haben, werden untersucht.

Oren Ziv ist Fotojournalist, Reporter für Local Call und Gründungsmitglied des Fotokollektivs Activestills.

Quelle: +972mag, 8. Juli 2024

Übersetzung [Nicht authorisiert]: Thomas Trueten


Breites Verbändebündnis warnt vor Kürzungen im Bundeshaushalt

Logo des Paritätischen Gesamtverbandes: Ein Gleichheitszeichen in einem Quadrat. Daneben steht: Der Paritätische Gesamtverband. Das Wort PARITÄT ist hervorgehobenIn einem offenen Brief positioniert sich der Paritätische Gesamtverband in einem Bündnis aus Umwelt- und Sozialverbänden klar gegen einen Sparhaushalt 2025.

Im Juli soll die Einigung der Ressorts zum ersten Haushaltsentwurf bekanntgegeben werden. Aufgrund der Weigerung des Finanzministers Christian Lindner, finanzielle Spielräume etwa durch die erneute Erklärung einer Notlage zu ermöglichen, steht die Ampel vor einem gewaltigen Finanzierungsproblem. Zwischen 30 und 50 Mrd € müssen eingespart werden, um den Regeln der Schuldenbremse zu entsprechen. Der Finanzminister hatte den einzelnen Ressorts im Vorhinein bereits strenge Vorgaben gemacht. Befürchtet werden etwa Kürzungen bei der sozialen Sicherung und Demokratieförderung, beim Klimaschutz und der humanitären Hilfe im Ausland.

Gleichzeitig steht Deutschland vor einem enormen Investitionsstau. Mindestens 600 Mrd Euro in den nächsten 10 Jahren würden laut dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung und dem Institut der deutschen Wirtschaft benötigt, um den Erhalt der öffentlichen Infrastruktur sicherzustellen und die Wirtschaft hin zur Klimaneutralität zu transformieren. Auch das Erstarken rechter Parteien wird durch die wachsende Ungleichheit und das Wegbrechen sozialer Infrastruktur in Folge von öffentlichen Einsparungen befördert.

Gemeinsam mit 15 anderen zivilgesellschaftlichen Verbänden warnt der Paritätische Gesamtverband in einem offenen Brief vor der Fortführung der Sparpolitik und fordert einen Kurswechsel in der Finanz- und Haushaltspolitik:

"In Krisenzeiten sind die Menschen auf soziale Sicherung angewiesen. Nichts wäre fataler, als jetzt an den sozialen Leistungen und Angeboten zu sparen, die entscheidend für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft sind. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich mit dem Bundeshaushalt 2025 dem Rechtsruck im Land entgegenstellt und deutlich mehr Ausgaben für soziale Sicherheit und soziale Infrastruktur bereitstellt." (Joachim Hagelskamp, Stv. Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands)

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