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Tunesien: Wenn der Strick am Reißen ist!

In Tunesien hatte der Trick zunächst am besten geklappt. Die herrschende Gruppe - aus Besitzern, Militär, Polizei und Kontaktleuten mit den Imperialisten des Westens entledigt sich der obersten Führungsschicht, lässt aber sonst alles wie es  war. So blieb das zusammenerfundene Parlament bis heute im Amt, allerdings nur, um dem ererbten Präsidenten sämtliche Vollmachten zu überreichen. Gouverneure der Provinzen  wurden neu ernannt, allerdings aus den Beständen in Hab-Acht-Stellung, die bisher nicht drangekommen waren. Armee und Polizei fungierten weiter als Armee und Polizei, um den Lauf der Dinge zu regeln. Vor allem die Presse log weiter wie bisher.

LA PRESSE, von SPIEGEL und anderen Organen als befreit-glückliche Community beschrieben, brachte nach einer polizeilichen Hinrichtungsaktion in Kef (algerische Grenze) die Unverschämtheit auf, die Polizei als Opfer und bald darauf als Sieger hinzustellen, die vom Polizeichef geohrfeigte Frau als bezahlte Betrügerin. Polizist in Ehren an seinen Posten zurückgeführt. Von den mindestens vier Toten kein Wort mehr.

Damit hielt sich  nebelhafte Undurchsichtigkeit im Land. Es zeigte sich, dass Twitter und Facebook zwar zu Treffpunktangaben sich vorzüglich eignen, aber nicht zu Auseinandersetzungen und Klarstellungen.

Viele, die sich ab Freitag, 25.2.2011 empörten, und bis heute die Kasbah - Altstadt - von Tunis besetzen, blickten zwar nicht völlig durch, aber spürten den Strick. Strick - die Fessel, mit der sie nach wie vor an den Karren des Kapitals gebunden werden sollten. Sie merkten zum Beispiel, dass Präsident und Parlament bis zum heutigen Tage nicht die geringsten Überlegungen angestellt hatten, wie das neue Parlament aussehen sollte. Nach welchem Wahlrecht? Wie sollten sich Parteien konstituieren? Und vor allem, sollte die neue Republik wie die alte präsidial regiert werden - zentralisiert, leicht handhabbar - oder parlamentarisch. Die alte Verfassung Tunesiens war - auch in legaleren Zeiten - schroff nach dem Dominanzsystem eines de Gaulle erfunden worden.

Von all diesen Überlegungen der Demonstrierenden drang absolut nichts durch in die staatstragenden Medien. Wenn überhaupt gemeldet wurde, dann hörte sich das immer an nach Ungeduld von Leuten, die nie genug bekommen können.

Die Demonstration am Freitag, 25.2. hätte verlaufen können wie viele andere - allerdings mit - polizeilich zugegebenen - über hunderttausend Teilnehmenden. Am Abend aber brach plötzlich die Polizei über die Massen herein, begleitet von nicht identifizierten Herrschaften in Zivil, aber mit breiten Knüppelstangen. Ganz offensichtlich ein Versuch, durch Einschüchterung dem Demonstrationswesen ein Ende zu bereiten.

Daraus entstanden die drei Tage langen Auseinandersetzungen mit immer neu zuströmenden Menschen, die sich ins Gefecht einmischten. Ergebnis nach letzten Schätzungen: fünf Tote,viel hundert Verletzte.

Eine Kommission erhielt am Freitag noch Zutritt zum Premierminister, der wie üblich herumröstete, ohne klare Zusagen. Außer der einen: bis März sollte gewählt werden. Wie - in welchen Umrissen - wurde weiterhin nicht verraten.

Dem letzten von Ben Ali eingesetzten Heimatverwalter ist dann wohl das Herz in die Hose gefallen. Es wurden offen - auch im Fernsehen - Forderungen nach einem Volksgericht über ihn aufgestellt. Auch mag das zu erwartende Ende von Kollegen Gaddhafi ihm zu Denken gegeben haben.

Er trat zurück. Der ebenfalls von Ali geerbte Präsident suchte verzweifelt alle Koffer und Kästen durch - und fand einen 86-jährigen früheren Staatsmann in Pension. Immerhin aus der Zeit des anerkannteren Vorgängers von Ali: Bourguiba, der sich tatsächlich bemüht hatte, nach dem Muster der französischen Republik Staat und Religion (Islam) streng laizistisch auseinanderzuhalten. Es kann sein, dass das zum Tod verurteilte Regime mit matter Hand noch einmal an die besseren Zeiten von einst erinnern wollte. Aber natürlich: ein Herr im Über-Adenauer-Look konnte nicht nur die Jugendlichen in Tunis nicht mitreißen. Auch alle anderen nicht, die sich ernsthaft um Lebensmöglichkeiten von Tunesien kümmern wollten.

Wer sind die aber? Es ist nicht einfach, an Flugblätter und Aufrufe dieser Gegengruppe zu kommen. Offenbar steckt aber hinter den Demo-Aufrufen das "Komitee zur Wahrung der Errungenschaften der Revolution".

"Auf Initiative des Bündnisses der tunesischen linken „Front 14. Jänner“ riefen 28 Parteien und Organisationen der tunesischen Opposition den „Nationalrat zum Schutz der Revolution“ aus. Diese Neuformation ist das erste Gremium, in dem Kräfte der tunesischen Linken (wie etwa die Kommunistische Arbeiterpartei) mit der islamischen Bewegung „Al-Nahda“ offiziell zusammenarbeiten. In der Gründungserklärung setzen sich die tunesischen Oppositionskräfte folgende Ziele:

1. Die Konsolidierung der Prinzipien des Volksaufstands und diesen vor der Gefahr zu schützen, vom Regime umgangen zu werden
2. Vermeidung eines politischen Vakuums und die Verabschiedung von Gesetzen und Maßnahmen, welche die Übergangsperiode betreffen.
3. Überwachung der Arbeiten der Übergangsregierung und die Ernennung ihrer Mitglieder

Die Regierung des alten Regimes hat bisher keine offizielle Reaktion abgegeben. Überrascht zeigte sich Sprecher der „Demokratischen Progressiven Partei“, die unter Ben Ali zur „legalen Opposition“ gehörte und sich derzeit an der Regierung von Ghanouchi beteiligt. Er verurteilte diesen Schritt als „einen Stich in die Fundamente, auf denen die nationale Einheitsregierung beruht“. Die „nationale Einheitsregierung“ wurde nach dem Abgang von Ben Ali von der Regierungspartei und Parteien der legalen Opposition gebildet. Unter Ben Ali illegale Parteien sowie die aus der Massenbasis entstandenen Führungen des Aufstands wurden von der Regierungsbildung ausgeschlossen. Diese sehen die Regierung Ghanouchis als eine Neuauflage des alten Regimes und fordern ihre Auflösung und die Bildung einer neuen konstitutionellen Versammlung und einer neuen Übergangsregierung."

Wichtig dabei: PCOT-Kommunisten - und reformierte islamische Partei in einer vorläufigen Kampffront. Zusammen vermutlich mit Teilen der CGTT - der Gewerkschaftsbewegung. Aber nicht allen. Auch in Tunesien gibt es die Sommers, die einen Teil der Arbeitenden zur Untätigkeit verurteilen wollen.

Trotz allem:beängstigend das Ausmaß der Unsicherheit in den Vorstellungen der einzelnen, die sich vor der Polizei die Lunge heraushusteten auf der Flucht durch die Tränengasschwaden.

Ein Blog bringt - wenn auch in böser Absicht, doch recht lebensnah nachempfunden, das Reuegestöhn einer Studentin wieder:

Eine von achthundert Demonstrantinnen und Demonstranten, die nach (!) dem Rücktritt des Premierministers sich zu seinem Domizil bewegen, um ihn als "Retter" anzuflehen, zurückzukehren.

Die Studentin: "Sie heult herum. Antwort: "ich hab mich rumkriegen lassen von ein paar Typen von der Uni. Ich bin mitgelaufen.. Ich habe beim Sit-in mitgemacht in der Kasbah! Hab mir die Lunge aus dem Hals geschrien, dass Ghannouchi abhauen soll. Ich hab den Burschen von der Fac den Papagei gemacht. Jetzt merke ich, wie schwachsinnig ich bin - war -bin. Mit dreiundzwanzig hab ich Null Ahnung von Politik. Die andern in meinem Alter natürIich auch nicht. Reicht doch bei unserem Zustand, dass ein geschulter Typ ein paar Phrasen loslässt. Und schon haben sie uns alle eingewickelt.Ich schäme mich jetzt so. Ich schäme mich so, dass ich in Wirklichkeit den Kollaborateure von Ben Ali in den Arsch gekrochen bin. Leuten, die nicht wissen, was VATERLAND heißt, was ""

Wie gesagt, aus böser Absicht hingerotzt - aber nicht unvorstellbar. Hinzukommt, dass in Städen außerhalb von Tunis wirklich sich Truppen der alten RCD herumtreiben könnten, die auf eigene Faust plündern und anzünden, was sie können. Daher die behördlich natürlich geschürte Angst vor den "Anarchisten" Von Kasserine wird berichtet, dass dort Studenten und Arbeiter einer großen Fabrik sich um diese geschart hätten. Zum Schutz gegen marodierende Banden. Wobei freilich immer zu fragen ist, ob diese Gruppen immer schon so waren. Oder ob sie in der Not der Zwischenzeit erst zu Mord und Totschlag kamen. Oder schließlich - unwahrscheinlichste Erklärung - dass wirklich Generale der bisher immer so gelobten tunesischen Armee sie aufhetzen, um im Anschluss im Namen von Recht und Ordnung die Herrschaft zu übernehmen. Damit hätte freilich außer dem Militär die imperialistische Zugriffsordnung des Imperialismus gesiegt.

Fazit: Das Wichtigste in solchen Verwirrungen wäre wohl, dass die Linke eine klarstellende Informationspolitik zu Wege bringt. Von dem seit einem Monat angekündigten Organ der PCOT Hammamis ist leider im Internet immer noch nichts zu finden.

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