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Grundrecht auf Versammlungsfreiheit durch Behördenwillkür bedroht

Eine aktuelle Pressemitteilung des Stuttgarter Bündnisses für Versammlungsfreiheit: Grundrecht auf Versammlungsfreiheit durch Behördenwillkür bedroht

"Was wir derzeit erleben, ist eine Erosion des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird von untergeordneten Behörden wie dem Ordnungsamt oder der Polizei absichtlich ignoriert und nach eigenem Belieben ausgelegt" (Thomas Trüten, Sprecher des Stuttgarter Bündnis für Versammlungsfreiheit am 21.3.2012)

Diese Erosion nimmt zunehmend drastischere Formen an und trifft verschiedenste Spektren der Protestbewegung. Als Beispiel genügt es, zwei Wochen im Mai 2012 zu betrachten, die diese Entwicklung verdeutlichen:

1. Mai 2012:
Die revolutionäre 1. Mai-Demonstration in Stuttgart wird mit einem wandernden, hochgerüsteten Polizeikessel durch die Stadt "begleitet". Einschüchterung der Versammlungsteilnehmer und Abschreckung potenzieller Teilnehmer unter den Passanten ist die Absicht. Pressefotografen, die dieses Szenario festhalten, wird mit Platzverweis gedroht, weil "weil einzelne Beamte es ablehnen, fotografiert zu werden".
Dies steht ganz im Widerspruch zu einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. März 2012 (Az. 6 C 12.11), das feststellt, dass ein Polizeieinsatz ein "zeitgeschichtliches Ereignis" ist, von dem Bilder auch ohne Einwilligung der abgelichteten Personen veröffentlicht werden dürfen.

7. Mai 2012:
"Die Stuttgarter Polizei beschlagnahmte am Ende der letzten Montagskundgebung gegen Hartz IV die, von Passanten und Demonstranten für die Arbeit der Montagsdemo gespendeten 93 € aus der auf der Straße aufgestellten Spendendose.
Montagsdemonstranten und Passanten, die sofort gegen diese unrechtmäßige Polizeiaktion protestierten, wurde "Widerstand gegen die Staatsgewalt" vorgeworfen. Acht mit Blaulicht auf den dicht belebten Schloßplatz auffahrende Polizeifahrzeuge erweckten den Eindruck einer gefährlichen Situation. Immer mehr Passanten brachten ihre Empörung über diesen Akt der Polizeiwillkür mit Sprechchören zum Ausdruck: von "Das ist unser Geld!" bis "Polizeistaat!".
Vor wenigen Wochen erst konnte sich das Stuttgarter Amt für öffentliche Ordnung mit einem Strafbefehl gegen die Versammlungsleiterin der Montagsdemo vor dem Amtsgericht nicht durchsetzen und musste seine Auflage dahingehend korrigieren. dass das Aufstellen einer Spendendose zulässig ist."
(aus der Presseerklärung der Stuttgarter Montagsdemo gegen Hartz IV vom 9.5.2012)

10. Mai 2012:
Aktivisten der Initiative "Cannstatter gegen S21" wird das Verteilen von Flugblättern im Cannstatter Bahnhof verboten und ein zweijähriges (!) Hausverbot gegen sie verhängt: "... auf Grund des Hausrechtes der DB Stations & Service AG verbieten wir Ihnen ab sofort bis zum 25.4.2014 den Bahnhof Bad Cannstatt einschließlich seiner Einrichtungen ( Toiletten etc.) zu betreten." Mit Rücksichtnahme auf die eigenen Geschäfte werden die Betroffenen nicht generell vom Bahnverkehr ausgeschlossen. "Sie haben sich in diesem Fall jedoch auf dem kürzesten Weg unverzüglich zu und von den Zügen zu begeben." (Grundrecht auf Meinungsfreiheit contra Hausrecht der Bahn AG auf BAA vom 10.5.2012)

Auch dies geschieht im Widerspruch zu einem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2011 (1 BvR 699/06) in dem festgestellt wird, dass Flughäfen, Bahnhöfe etc. öffentlicher Raum sind und die Grundrechte dort natürlich auch gelten.

Diese Erosion der Grundrechte ist keine Stuttgarter Spezialität. In Frankfurt werden alle Demonstrationen der Blockupy Bewegung komplett verboten bis hin zur Kundgebung der "Ordensbrüder für den Frieden".

Thomas Trüten weiter: "Dieser Entwicklung muss neben der notwendigen juristischen Auseinandersetzung, auf der Straße und politisch entgegengetreten werden. Die Forderung nach einem fortschrittlichen Versammlungsgesetz steht auf der Tagesordnung. Und zwar offensichtlich bundesweit. Deshalb unterstützt unser Bündnis die Proteste gegen das Demo- und Versammlungsverbot der Blockupy Aktionen in Frankfurt, unter anderem der Demonstration des Komitees für Grundrechte und Demokratie für das Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit am Donnerstag, 17. Mai, um 12 Uhr auf den Frankfurter Paulsplatz.“

Ist Antifaschismus verfassungswidrig?

Halbwahrheiten, Verdrehungen und Nichtigkeiten: Der Landesverfassungsschutz setzt auch unter der neuen Regierung auf die alten Geheimdienstmethoden

Zur Vorstellung des neuen Landesverfassungschutzberichtes am 11.Mai 2012 erklärt die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten Baden-Württemberg e.V.:

Wer gehofft hatte, mit der neuen Grün-Roten Landesregierung gäbe es nun in Baden-Württemberg die Chance auf eine neue, offenere politische Kultur, sieht sich durch die Vorstellung des neuen Verfassungsschutzberichtes durch den sozialdemokratischen Innenminister Gall herb enttäuscht. Nicht mal der Schlauch ist neu, in den der alte Wein gegossen wurde.

Obwohl mit der Entdeckung der neofaschistischen Terrormorde der NSU nun auch konservativen Politikern eine Idee gekommen sein müßte, woher die Demokratie bedroht wird, wird in diesem Verfassungsschutzbericht erneut der Antifaschismus als Feindbild verortet: „Linksextremismus ... Antifaschismus bleibt zentrales Aktionsfeld“ lauten die Überschriften zur Einführung des Kapitels, in dem die ‚staatsfeindliche‘ Tätigkeit linker Organisationen wie folgt geschildert wird: „Im Mittelpunkt des linksextremistischen „Antifaschismus“ standen erneut Aktionen gegen ... Veranstaltungen von Rechtsextremisten.“

Folgerichtig wird auch die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten, die 1947 von den wenigen Überlebenden der KZs und Folterstätten des Hitlerregimes gegründet wurde, als „linksextremistisch beeinflusste Organisation“ verdächtigt und verächtlich gemacht:

Zu diesem Zweck verbreitet Verfassungsschutzbericht lediglich eine Reihe von Halbwahrheiten, Verdrehungen und Nichtigkeiten.

Der - aus nicht erklärten Gründen in Gänsefüsse gesetzte ‚Antifaschismus‘ der VVN-BdA stehe „auf der Basis des klassisch kommunistischen Faschismusverständnisses, das einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapitalismus herstellt“, lautet der Hauptvorwurf des Verfassungsschutzes. Die VVN-BdA als Organisation hat sich indessen nie auf eine bestimmte der auch in ihren Reihen diskutierten Faschismustheorien festgelegt. Klar ist nur, dass der Begriff Faschismus in Wissenschaft und Politik ganz eindeutig jene autoritär-repressiven politischen Bewegungen und Herrschaftsformen beschreibt, die in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts in zahlreichen kapitalistisch geprägten europäischen Ländern entstanden und teilweise zur Macht gelangt sind, ein Zusammenhang mit dem Kapitalismus also historisch vorgegeben ist.

Das satzungsgemäße Bemühen der VVN-BdA ist es, in Übereinstimmung mit dem als Gegenentwurf zum gerade überwundenen faschistischen System entstanden Grundgesetz, alle Ansätze faschistischer Tendenzen zurückzuweisen. Die Zusammenarbeit aller Gegnerinnen und Gegner des Faschismus unabhängig von deren parteipolitischen Präferenzen oder weltanschaulichen Überzeugungen ist die Grundlage aller ihrer Aktivitäten.

Aus der Gründungsgeschichte der VVN-BdA erklärt sich, dass die VVN-BdA in besonderer Weise den Organisationen der Arbeiterbewegung, Gewerkschaften und Parteien, verbunden ist, die einen bedeutenden Teil des antifaschistischen Widerstandes gegen das Naziregime leisteten und zahlreiche Opfer zu erbringen hatten.

Auffällig am Verfassungsschutzbericht über die VVN-BdA ist, dass der baden-württembergische Verfassungsschutz ganz offensichtlich nicht vorrangig die Tätigkeit der juristisch selbstständigen VVN-BdA Baden-Württemberg im Visier hat, sondern sich wesentlich ausführlicher mit dem Dachverband auf Bundesebene beschäftigt. Als Beweis für den „Linksextremismus“ der VVN-BdA wird dort angeführt, dass der Bundesvorsitzende, der Theologe Heinrich Fink, sich in einem Zeitungsinterview zum Sozialismus bekannt habe.

Hintergrund für diese ausführliche Befassung mit der Bundesvereinigung ist die Tatsache, dass als Folge zumeist rot-grüner Regierungszeiten die VVN-BdA seit Jahren nicht mehr im Bundesverfassungsschutzbericht und in den Berichten der anderen Bundesländer erwähnt wird. Neben Baden-Württemberg ist dies nur noch in Bayern der Fall. Offensichtlich soll mit diesen beiden verbleibenden Berichten die Lücke geschlossen werden, die durch die fehlende geheimdienstliche Beobachtung der VVN-BdA auf Bundesebene entstanden ist. Warum sich Baden-Württemberg im Gegensatz zu den anderen Bundesländern daran ausgerechnet unter einer nun grün-roten Regierung hergibt, bleibt eine offene Frage. Noch im letzten Jahr hatte der SPD-Fraktionsvorsitzende Claus Schmiedel gegenüber der VVN-BdA in einem Brief bekundet, dass „... nach unserem Dafürhalten auf eine Nennung der VVN-BdA als Organisation im Verfassungsschutz verzichtet werden könnte“.

Die Erkenntnisse, die der Verfassungsschutzbericht im letzten kleineren Teil des entsprechenden Kapitels über die VVN-Baden-Württemberg zusammengestellt hat sind ebenso dürftig, wie jene über die Bundesvereinigung:

- Vertreter aus Baden-Württemberg seien bei der Antragsdebatte auf dem Bundeskongress „besonders aktiv in Erscheinung getreten.“

- Die VVN-BdA Baden-Württemberg habe zu Protesten gegen den Naziaufmarsch am 1. Mai in Heilbronn aufgerufen.

- Die Freiburger VVN-BdA habe einen Aufruf „Freiburg gegen Faschismus“ unterstützt, der auch von der Partei Die Linke und der DKP sowie dem Jugendverband der MLPD mitgetragen worden sei. (Vergessen wurden in dieser Aufzählung übrigens u.v.a. der DGB und ver.di Freiburg)

- Die VVN-BdA habe sich mit TeilnehmerInnen an Protesten gegen ein öffentliches Gelöbnis der Bundeswehr in Stuttgart solidarisiert, gegen die deshalb staatsanwaltschaftlich ermittelt wurde, und sich gegen die ‚Kriminalisierung legitimen Protestes‘ gewandt.

Wie aus diesen alltäglichen Beispielen für ein viel umfassenderes Eintreten der VVN-BdA gegen Faschismus und Neofaschismus, für Frieden und Demokratie eine Gefahr für die Verfassung abgeleitet werden kann, bleibt das Geheimnis des Geheimdienstes. Diese Verfassung legt im Gegenteil großen Wert auf demokratisches Engagement und garantiert als Grundrechte u.a. die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit.

Ein nachvollziehbarer Hinweis, warum die Organisation der Naziopfer und Antifaschisten VVN-BdA in diesem Bericht als verfassungsmäßig bedenklich auf die selbe Stufe gestellt wird, wie die Gesinnungsnachfolger ihrer damaligen Peiniger, die Rassisten, Neofaschisten und Rechtsterroristen von heute, ist nicht zu finden.

Die VVN-Bund der Antifaschisten fordert Innenminister Gall und die Landesregierung auf, dem Beispiel der Mehrheit der Bundesländer zu folgen, diesem gespenstischen Treiben des Landesamtes für Verfassungsschutz ein Ende zu setzen und die Verunglimpfung antifaschistischen Engagements durch die jährliche Erwähnung der VVN-BdA im Landesverfassungsschutzbericht einzustellen.

Quelle: Pressemitteilung 15.05.2012
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