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Das Mahnmal für Sinti und Roma in Berlin muss bleiben!

Das Foto zeigt das Denkmal im Berliner Tiergarten.
Das Foto zeigt das Denkmal im Berliner Tiergarten.
Quelle: Roma Antidiscrimination Network RAN
Wir dokumentieren die Einwendung gegen die durch das Mahnmal der im Faschismus ermordeten Sinti und Roma Europas geplante Streckenführung der S21 in Berlin durch die Vertretungen der Roma Europas.




Eisenbahn-Bundesamt
Außenstelle Berlin
Steglitzer Damm 117
12169 Berlin

Einwendung gegen die geplante Streckenführung der S21

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir schreiben Ihnen als Vertretungen der Roma Europas anlässlich der geplanten Streckenführung der S21. Gemäß § 18a Abs. 4 Satz 1 AEG in Verbindung mit § 21 Abs. 1, 2 und 5 UVPG erheben wir hiermit Einwendung gegen den Plan. Die Ausführung des Plans würde das Mahnmals der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in seiner vom Künstler Dani Karavan geschaffenen Form dauerhaft beschädigen und die Möglichkeit für die Sinti und Roma Europas, ihre ermordeten Angehörigen und Vorfahren zu betrauern über Jahre stark beeinträchtigen. Gleichzeitig wäre seine Funktion als der zentrale Gedenkort Europas (!), an dem an den Völkermord an unseren Menschen erinnert wird, über Jahre nicht oder nicht angemessen für Gedenkveranstaltungen und Besucher:innen nutzbar.

Vielen unserer in der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Menschen ist ein Grab verwehrt geblieben. Sie wurden in Todeslagern vergast, in Wäldern erschossen, in Massengräbern verscharrt. Unser Denkmal in Berlin ist der Ort, an dem wir um die Toten ohne Gräber trauern.

Das Mahnmal ist ihr symbolisches Grab und ein europäisches Denkmal. Die Roma Europas kommen hierher, um zu trauern. Wir haben keinen Staat und keine großen Institutionen, die uns vertreten. Das Denkmal ist der Ort, der uns vor der Geschichte verbindet. Während der Zeit des Nationalsozialismus sind schätzungsweise 1,5 Millionen Roma und Sinti ermordet worden, die Mehrheit davon in den von NS-Deutschland und seinen Verbündeten besetzten Gebieten. Der Völkermord an den Roma Europas ist weder in Deutschland noch in anderen Ländern jemals in seiner vollständigen Dimension (an)erkannt oder auch nur erforscht worden. Es gibt kaum Institutionen, es gibt kaum Gedenkorte, an denen die Öffentlichkeit über die an unseren Menschen begangenen Verbrechen aufgeklärt würde. Das Mahnmal ist einer der wenigen Orte, an denen das passiert, und muss in seiner doppelten Funktion, als Ort des Gedenkens und Trauerns und als Ort der Mahnung und Aufklärung erhalten bleiben.

Wir können den Völkermord an unseren Menschen nicht vergessen. Die Mehrheitsbevölkerung kann das durchaus, sofern sie überhaupt vom Völkermord an Roma und Sinti weiß. Das Mahnmal ist ein Ort, an dem die Besucher:innen aus der Geschichte lernen können. Daher ist es „die moralische Verpflichtung der deutschen Menschen, eine alternative Lösung für die Trassenführung von S21 zu finden und dafür zu sorgen, dass dieses heilige Denkmal nicht angetastet wird“, wie Noa Karavan, die Tochter des Architekten, in einer Petition zum Erhalt des Mahnmals schrieb.

Gerade der Umgang mit dem Mahnmal, das im Herzen des Berliner Regierungsviertels steht, von dem aus die Vernichtung geplant worden war, zeigt, dass diese Mahnung und Aufklärung eine bittere Notwendigkeit bleibt. Der Umgang mit dem Mahnmal und den Vertretungen der Roma und Sinti zeigt ein vollständiges Vergessens der historischen Verantwortung Deutschlands aber auch der Deutschen Bahn als Nachfolgerin der Reichsbahn, die an der Deportation unserer Menschen wesentlich Anteil hatte und daher in einer moralischen Verpflichtung steht. Das Mahnmal darf nicht angetastet werden. Es ist in seiner jetzigen, von Dani Karavan geschaffenen Gesamtkomposition, zu erhalten. Zur Komposition gehören das Becken mit der Blume, die Steine mit den Namen zentraler Orte der Vernichtung, die Wiese und die Bäume sowie der Geigenton als akustisches Element. „Die Bäume sind ein integraler Bestandteil des Denkmals und ein wesentliches Element der Atmosphäre, die ich schaffen wollte,“ so Karavan. Wer jemals selbst am Mahnmal war, weiß wie zentral der Wald für die Atmosphäre ist. Viele verfolgte Roma Europas flohen in die Wälder, um Schutz vor der Vernichtung zu suchen. Für uns stehen die Bäume um das Mahnmal damit symbolisch auch für diesen Schutzort. Die Bäume zu opfern, wäre nicht nur ein Eingriff in ein Gesamtkunstwerk, sondern auch ein geschichtsvergessener Akt der Pietätlosigkeit gegenüber der Verfolgten und Ermordeten, den Überlebenden und den Nachkommen. Den Sinti und Roma Europas.

Als die Pläne der Deutschen Bahn, das Mahnmal zu zerstören, öffentlich wurden, haben zahlreiche Roma- und Menschenrechtsorganisationen, Bildungs- und Gedenkorte sowie viele weitere Initiativen, Vereine, Organisationen und Einzelpersonen aus Deutschland, Europa und der Welt unsere Stellungnahme für den Erhalt des Mahnmals unterzeichnet.

Die aktuell geplante Trassenführung ist nicht alternativlos. Wir fordern Sie auf, das Bauvorhaben in seiner jetzigen Form zu stoppen, und eine Trassenführung zu wählen, die unser Denkmal nicht tangiert.

Das Mahnmal muss in seiner jetzigen Form, einschließlich der Bäume, erhalten bleiben.

Der Besuch des Mahnmals muss jederzeit gewährleistet bleiben.

Mit freundlichen Grüßen

Erstunterzeichnende:

Bundes Roma Verband e.V. • Roma Center e.V./ Roma Antidiscrimination Network • Romani-Phen e.V. • Romani Kafava e.V. • Rom e.V. • With Wings and Roots e.V. • save space e.V. • Romano Than e.V. • Duisburger Sinti Verein • Queer Roma • Roma Trial e.V. • Carmen e.V. • Pro Sinti und Roma e.V.


115. Geburtstag von Lilo Herrmann: "...das größte Glück der größten Menge!"

Grafische Bearbeitung eines Fotos von Lilo HerrmannKommunistin und Widerstandskämpferin, geboren am 23. Juni 1909 in Berlin, studierte und lebte in Stuttgart, enthauptet am 20. Juni 1938 in Berlin-Plötzensee

„Assistenz“ beim Bombardement in Gaza: Was bedeutet „Künstliche Intelligenz“ im urbanen Krieg?

Der Screenshot zeigt Seite 1 des Artikels in dem IMI BeitragErste Veröffentlichung: Habsora

Bereits Ende November 2023 hatte der israelische Journalist Yuval Abraham im +972Mag und der hebräischen Zeitung Local Call einen vielbeachteten Bericht veröffentlicht, wonach die israelische Armee (IDF) in großem Maßstab Künstliche Intelligenz (KI) einsetze, um Ziele zu identifizieren, die anschließend in Gaza bombardiert werden.[1] Im Mittelpunkt stand damals ein System namens „Habsora“, auf Englisch meist mit “The Gospel” übersetzt. Der Beitrag basierte im Wesentlichen auf Aussagen aktiver und ehemaliger israelischer Militärs, die im weiteren Sinne mit der Zielauswahl beschäftigt waren und angaben, „Habsora“ basiere auf KI und ermögliche es, in großer Geschwindigkeit Ziele zu „produzieren“. Die Anwendung von Habsora und anderen datenverarbeitenden Systemen hat demnach dafür gesorgt oder dazu beigetragen, dass der IDF bei ihrer massiven Luftkampagne über dicht besiedeltem Gebiet nicht die Ziele ausgingen und dieses massive Bombardement in seiner Intensität überhaupt durchgeführt werden konnte. Zugleich habe es dazu geführt, dass Angriffe mit erwartbar hohen zivilen Opferzahlen, z.B. auf sog. „Power Targets“ (mehrstöckige zentrale Wohngebäude oder Verwaltungsgebäude) überhaupt ausgeführt worden seien. Bereits damals wurde der Vorwurf geäußert und mit Zitaten unterlegt, wonach die automatisch generierten Ziele zwar nochmal von Menschen bestätigt, dafür aber jeweils nur sehr kurze Zeit aufgewendet worden wären. Die Darstellung schien durchaus plausibel angesichts der etwa 1.000 Ziele, die in der ersten Woche täglich auf einer Fläche angegriffen wurden, welche nur etwas größer ist, als das Gebiet der Stadt München. Nach weiteren zwei Wochen hatte sich die Zahl der aus der Luft angegriffenen Ziele bereits auf 12.000 erhöht und wurde bis 11. Dezember sogar mit 22.000 angegeben.

Völkerrechtlich wären die IDF bei jedem Angriff, bei dem auch mit zivilen Opfern zu rechnen ist, verpflichtet, den absehbaren militärischen Nutzen mit den erwartbaren zivilen Opfern in ein Verhältnis zu setzen und abzuwägen. Diese Verpflichtung dürfte bei nahezu allen Zielen bestanden haben und ihre Einhaltung lässt sich angesichts der schieren Masse angegriffener Ziele kaum plausibel darstellen - es sei denn, die Abwägung wäre auf der Grundlage automatisiert ausgewerteter Daten und maschinell erstellter Empfehlungen erfolgt, wie es der Beitrag von Ende November 2023 nahelegt. Die Informationsstelle Militarisierung hat deshalb Mitte Dezember vermutet,[2] dass die IDF sogar ein Interesse daran gehabt haben könnten, dass der großflächige Einsatz von KI bei der Zielfindung bekannt wird, um ihrem Vorgehen zumindest oberflächlich den Anstrich einer - neuartigen - völkerrechtlichen Legitimität zu verleihen, wonach große Teile der gebotenen „Abwägung“ an vermeintlich „intelligente“ datenverarbeitende Systeme delegiert wurden. Die Opferzahlen, die zum Zeitpunkt dieser ersten Veröffentlichung kursierten, unterschieden sich kaum von denen, die bei einer vollkommen willkürlichen Bombardierung eines dicht besiedelten Gebietes erwartbar wären. Der Autor Yuval Abraham bezifferte diese bis zum Waffenstillstand vom 23. November auf 14.800, wovon etwa 6.000 Frauen und 4.000 Kinder gewesen seien. Die IDF hingegen schätzten die Zahl der getöteten Militanten etwa zum gleichen Zeitpunkt auf 1.000 bis 3.000.

Lavendar und „Daddy’s Home?“

In einer weiteren Publikation vom 3. April 2024 in Kooperation mit dem britischen Guardian beschrieb Yuval Abraham basierend auf den Aussagen von sechs Beteiligten der IDF zwei weitere Systeme, die an der Zielauswahl der IDF beteiligt sein sollen.[3] Dabei handelt es sich einerseits um ein System namens „Lavender“ (Lavendel), welches Listen vermeintlicher militanter Angehöriger der Hamas und des Islamischen Dschihads erstelle, andererseits eine Software mit dem ausgesprochen zynischen Namen „Daddy’s Home?“ welches Alarm schlage, wenn solche Personen die ihnen zugeordnete Wohnung beträten. Lavender arbeite demnach KI-basiert und werte die Daten aus, die der israelische Geheimdienst in einem System der Massenüberwachung über die meisten der 2,3 Mio. Bewohner*innen Gazas gesammelt habe. Mithilfe Maschinellen Lernens werde jeder dieser Personen ein Wert zwischen eins und einhundert zugeordnet, der die Wahrscheinlichkeit ausdrücke, nach der es sich um ein militantes Mitglied der beiden Organisationen handele. Nach wechselnden Vorgaben erzeugte das System auf dieser Grundlage Listen so genannter Human Targets, die in der Spitze 37.000 Menschen umfasst habe, die dann als legitime Ziele für gezielte Angriffe gegolten hätten, selbst wenn dabei auch Zivilisten getötet würden. Auszüge dieser Listen mit hunderten Identitäten seien dann in Systeme wie Daddy’s Home? eingespeist worden, wodurch die mit ihnen assoziierten Wohneinheiten in dem Moment als Ziele vorgeschlagen worden seien, wo sie diese (vermeintlich) betraten. Inwiefern diese beiden nun benannten Systeme mit Habsora interagieren, das v.a. Gebäude für die Bombardierung identifiziert haben soll, bleibt dabei etwas unklar.

Der Umfang und die jeweilige Auswahl von Identitäten, die so als potentielle Ziele definiert wurden, sei nicht auf Führungsebene erfolgt, sondern recht freihändig von einzelnen Beteiligten. Demgegenüber scheint es so, als sei die militärische Führung dafür verantwortlich gewesen, wechselnde Zahlen festzulegen, die angaben, wie viele Zivilisten bei der Tötung eines einfachen Zieles in Kauf genommen werden dürften. In der ersten Woche des Krieges hätten hier keine Restriktionen bestanden, später habe diese Zahl mal 20 und manchmal auch fünf betragen. Für hochrangige, persönlich bekannte Ziele seien jedoch in einzelnen, dokumentierten Fällen auch drei und gelegentlich gar vierstellige Opferzahlen in Kauf genommen worden. Etwas unklar bleibt, auf welcher Grundlage die Zahl potentieller ziviler Opfer geschätzt wurde. Der Journalist Yuval Abraham zitiert zumindest eine seiner Quellen mit der Aussage, man habe die Menschen nicht wirklich gezählt, weil man nicht gewusst habe, wer zuhause ist und wer nicht. Später wird etwas ausführlicher ein System beschrieben, welches auf Berechnungen basierte, die eine Software vor dem Krieg angestellt habe, um zu schätzen, wie viele Personen in einem Gebäude leben. Diese Zahl sei dann jeweils mit einem Faktor multipliziert worden, der den Anteil derjenigen schätzte, die insgesamt bereits aus dem jeweiligen Gebiet geflohen seien. „Dieses Modell hatte keinen Bezug zur Realität“ wird eine der Quellen zitiert. Mehrere Quellen hätten bestätigt, dass anders als in früheren Kriegen das jeweilige Ziel nicht genauer beobachtet worden wäre, um zu einer seriöseren Schätzung der (anwesenden) Zivilisten zu kommen.

Einblicke in die Technik und ihre Anwendung

Bei der Software zur Zielerkennung handelt es sich natürlich um komplizierte und hochgradig sensible Informationen, sodass auch die ausführliche Darstellung Abrahams auf der Grundlage anonymer Quellen nur bedingte Schlussfolgerungen erlaubt. Teilweise bleibt unklar, ob sich die jeweiligen Angaben auf Lavender, Daddys Home? oder andere Systeme beziehen, die - mit ihnen verbunden oder nicht - in ähnlichen Funktionen zum Einsatz kommen. Für Lavender wird allerdings recht eindeutig nahegelegt, dass es auf Künstlicher Intelligenz im engeren Sinne des Maschinellen Lernens beruhe und mit Daten über individuell dem Geheimdienst „bekannte“ Mitglieder der Hamas und des Islamischen Dschihad „trainiert“ worden sei. Später sei jedoch einer Quelle zufolge die Entscheidung getroffen worden, auch Angestellte des (von der Hamas geführten) Ministeriums für innere Sicherheit einzubeziehen, bei denen es sich um Polizisten oder Mitglieder der Zivilverteidigung handeln kann, die nicht als „Militante“ und auch im völkerrechtlichen Sinne nicht als Kombattanten betrachtet werden könnten. Später sei das so trainierte System dann mit den verfügbaren Daten mehr oder weniger auf die gesamte Bevölkerung angewandt worden, um tausende Menschen zu identifizieren, die damit buchstäblich zum Abschuss freigegeben wurden.

In den ersten zwei Wochen des Krieges sei ein „zufälliges Sample von mehreren hundert“ so identifizierten Zielen „händisch“ geprüft worden, woraus sich eine Zuverlässigkeit von 90% ergeben hätte. Seit dem sei das System großflächig bei der Zielfindung zum Einsatz gekommen und seine Ausgabe habe quasi die Funktion eines militärischen Befehls gehabt - ohne jede Verpflichtung, die zugrunde liegenden Rohdaten oder die Variablen, auf denen die Einschätzung basierte, zu prüfen. Die einzige Überprüfung, die das Protokoll vor der Anordnung eines Luftschlags vorgesehen habe, sei die Bestätigung gewesen, dass es sich bei der Zielperson (nicht den erwartbaren Kollateral-Opfern) tatsächlich um eine männliche Person handelt. Dieser Prozess habe nach verschiedenen Angaben „nur wenige Sekunden“ bzw. „20 Sekunden“ in Anspruch genommen und meist darin bestanden, dass man in eine mit dieser Person assoziierte Audio-Aufnahme hineingehört und auf diese Art das Geschlecht „bestimmt“ habe.

Zugleich schockierend, wie auch plausibel sind die Angaben, die zum Battle Damage Assessment (BDA) gemacht werden, also zur einem Angriff üblicherweise folgenden Überprüfung des angerichteten Schadens bzw. militärischen Erfolges. Sie ermöglicht eine Einschätzung, ob das militärische Ziel erreicht wurde und wie viele zivile Opfer dabei getötet oder verwundet wurden. Dies fand bei den Luftschlägen in Gaza wohl flächendeckend kaum statt. Plausibel ist dies aus verschiedenen Gründen, darunter die stark schwankenden und ungenauen Angaben der IDF zur Zahl getöteter Hamas-Kämpfer einerseits wie auch die schiere Unmöglichkeit angesichts der großflächigen Zerstörung. Es mag dies auch ein Grund sein, warum Israel auch vor internationalen Gerichten den meist von den Hamas-Behörden stammenden Angaben zur Zahl der Getöteten, Verwundeten und Vermissten keine eigenen, seriösen Schätzungen entgegenhalten kann. Am Rande erfahren wir im Beitrag Abrahams auch, wie dieses Assessment früher erfolgt ist: Durch das Abhören von Telefonaten der Verwandten der anvisierten Zielpersonen.

Überhaupt scheint sich viel der vermeintlich fortschrittlichen Überwachungstechnologie neben Drohnenaufnahmen letztlich im Orten, Abhören und Analysieren von Mobilfunkdaten zu erschöpfen. So werden als konkrete Quellen für die Einstufung durch Lavender genannt: “visuelle Informationen, Mobilfunkdaten, Verbindungen bei den Social Media, Informationen vom Schlachtfeld, Telefonkontakte, Fotos“. Etwas deutlicher wird dies noch bei den Angaben einer Quelle zu möglichen Fehleinschätzungen durch Lavender, da häufig Mobiltelefone ausgetauscht und verliehen würden. Auch die Einschätzung des Anteils der Bevölkerung, der bereits aus einem Gebiet geflohen sei, beruht demnach auf der Auswertung von Mobilfunkdaten. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass es sich bei Daddy’s Home? um viel mehr handelt als eine Handy-Ortung, die Alarm schlägt, wenn der Verdächtige (oder eine andere Person) mit seinem Gerät an den Koordinaten erfasst wird, die als seine Wohnung verzeichnet ist. Das bedeutet: fast alles, was Israel hier vorgeworfen wird, scheint weniger von besonders fortgeschrittener Technologie abzuhängen als dem Willen, überall vorhandene Daten für eine umfassende Kriegführung einzusetzen - und natürlich dem umfassenden Zugriff auf Informationen, den Israel in Gaza hat.

Besonders brutale Kriegführung

Während in diesem Beitrag der Einsatz dieser Technologien durch Israel in Gaza im Mittelpunkt steht, offenbart der Artikel von Abraham andere Aspekte der israelischen Kriegführung, die rechtlich wahrscheinlich noch deutlich schwerwiegender sind und deren Zusammenhang mit den verwendeten Technologien zumindest kein unmittelbarer ist. Dies gilt v.a. für die politisch definierten Einsatzregeln auf verschiedenen Ebenen. So wurden in den vergangenen militärischen Auseinandersetzungen (vermeintliche) Militante niederen Ranges von Israel angeblich nicht als Ziele definiert, die jenseits konkreter militärischer Auseinandersetzungen ins Visier genommen werden und auch um den Preis ziviler Opfer getötet werden konnten. Eine der Quellen benutzt hierfür den Begriff eines „Müll-Ziels“, dessen militärische Relevanz so gering sei, dass es den Einsatz einer Bombe gar nicht wert wäre. Gerade deshalb, so ein weiteres Zitat, sei für solche Ziele „dumme“, ungelenkte Munition eingesetzt worden, die wesentlich billiger sei, aber eben auch gleich das ganze Gebäude zerstöre und demnach erwartbar mehr zivile Opfer fordere. Am Rande wird hier auch ein Grund genannt, welcher diesen oft kritisierten, großflächigen Einsatz ungelenkter, aber sehr schwerer Munition jenseits der damit verbundenen und vermutlich auch beabsichtigten Grausamkeit begründet. Die teurere, präzisere Munition sollte für den Fall „gespart“ werden, falls doch noch andere, militärisch schlagkräftigere Akteure aus der Region in größerem Stil in den Konflikt eingreifen sollten.

Völkerrechtlich besonders problematisch erscheint eine Entscheidung, welche die israelische Armeeführung getroffen habe und die im Zusammenhang mit Daddy’s Home? zu stehen scheint. Mehrere Quellen hätten demnach angegeben, dass identifizierte Ziele systematisch und absichtlich nicht in militärisch genutzten Räumlichkeiten angegriffen worden seien, während sie sich (zumindest mutmaßlich) an der militärischen Auseinandersetzung beteiligt hätten, sondern eben wenn sie ihre privaten Unterkünfte betreten hätten, weil dies einfacher sei. Der Vorwurf, dass damit eine Absicht verbunden wäre, die ganze Familie zu bestrafen und auszulöschen, wird in diesem Zusammenhang nicht erhoben - er drängt sich jedoch auf.

Gegendarstellung der IDF

Der Artikel von Yuval Abraham zu Lavender und Daddy’s Home? wurde in Kooperation mit dem britischen Guardian veröffentlicht, der am selben Tag seinerseits einen Beitrag über die Recherchen von Abraham herausbrachte und eine Stellungnahme der IDF veröffentlichte.[4]

Am deutlichsten weisen die israelischen Streitkräfte darin den Vorwurf zurück, dass irgendeine Richtlinie („policy“) existiere „zehntausende Menschen in ihren Wohnungen zu töten“. Der Existenz der Software „Daddy’s Home?“ und auch einer weit verbreiteten Praxis, vermeintliche Militante unter Inkaufnahme ziviler Opfer in ihrer Wohnstätte zu töten, wird damit jedoch genau genommen nicht widersprochen. Es wird jedoch ausführlich versichert, dass die IDF ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkämen und ihre Protokolle vorschreiben würden, dass „für jedes Ziel eine individuelle Bewertung des angestrebten militärischen Vorteils und der erwarteten Kollateralschäden“ vorgenommen würde. „Die IDF führen keine Angriffe durch, wenn die erwarteten Kollateralschäden in einem exzessiven Verhältnis zum militärischen Nutzen stehen… Die IDF überprüfen Ziele vor der Durchführung eines Angriffs und wählen die angemessene Munition in Übereinstimmung mit operationellen und humanitären Erwägungen unter Berücksichtigung der Einschätzungen zu strukturellen und geografischen Eigenschaften des Ziels, der Umgebung des Ziels, möglichen Auswirkungen auf Zivilisten und kritische Infrastrukturen in der Nähe und weiteren [Variablen].“ Diese Formulierungen sind nahezu deckungsgleich mit den völkerrechtlichen Vorgaben. Wie glaubwürdig sie angesichts des Ausmaßes der Zerstörungen und der vagen Angaben über getötete Kombattanten sind, wird freilich unterschiedlich bewertet und beschäftigt gerade unterschiedliche internationale Gerichte.

Ausführlicher ist die Stellungnahmen auch zum Einsatz von KI bei der Zielfindung: „Anders als behauptet wird, nutzen die IDF kein KI-System, das Terroristen identifiziert oder vorhersagt, ob eine Person ein Terrorist ist. Informations-Systeme sind lediglich Werkzeuge für Analysten im Prozess der Zielidentifikation. Unserer Richtlinien sehen vor, dass Analysten unabhängige Untersuchungen durchführen, um zu verifizieren, dass die Ziele den relevanten Definitionen entsprechen in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht und weiteren Einschränkungen, die in unseren Richtlinien festgelegt wurden.“

Bei dem angesprochenen „System“ (gemeint ist vermutlich Lavender) handle es sich „nicht um ein System, sondern einfach um eine Datenbank, deren Zweck darin besteht, Aufklärungsdaten miteinander zu verknüpfen und aktuelle Ebenen von Informationen zu militärischen Angehörigen terroristischer Organisationen zu erzeugen. Es stellt keine Liste mit bestätigten militärischen Angehörigen dar, die für Angriffe autorisiert wären.“

Tatsächlich kann hier an einigen Punkten beides wahr sein: Darstellung und Gegendarstellung. Die Grenzen zwischen einer Datenbank, die Informationen „verknüpft“ bzw. aufarbeitet und einer Künstlichen Intelligenz sind eine Frage der Definition und tw. so fließend, wie die Grenze zwischen einem System, das eine Datenbank ist und einer KI, die auf diese zugreift. Wie gesagt legt auch der Beitrag von Abrahams nicht unbedingt nahe, dass hier grundlegend neue Technologien zum Einsatz kommen. Der Knackpunkt ist allerdings das unscheinbare Wort „unabhängig“. Wenn die Informationssysteme Werkzeuge sind, welche die Informationen aufbereiten, ist unwahrscheinlich, dass die Analysten wirklich „unabhängig“ von diesen entscheiden. Ob bereits bei 20 Sekunden oder auch drei Minuten auf der Grundlage dieser (und anderer) Werkzeuge von einer „unabhängigen Überprüfung“ gesprochen werden kann, ist wiederum Definitionsfrage. Diese Definitionen werden gerade verschoben und ausgehandelt. Das Verhältnis zwischen den Eigendynamiken der Technik und der vermeintlichen menschlichen Kontrolle ist prekär und mit jedem Krieg und jedem Massaker verändert es sich weiter zulasten des gesunden Menschenverstandes.

Anmerkungen

[1]     Yuval Abraham: ‘A mass assassination factory’ - Inside Israel’s calculated bombing of Gaza, 30.11.2023, https://www.972mag.com/mass-assassination-factory-israel-calculated-bombing-gaza/

[2]     Christoph Marischka: Gaza - KI-basierte Bombardierung, IMI-Standpunkt 2023/049, 8.12.2024, https://www.imi-online.de/2023/12/08/gaza-ki-basierte-bombardierung/.

[3]     Yuval Abraham: ‘Lavender’ - The AI machine directing Israel’s bombing spree in Gaza, 3.4.2024, https://www.972mag.com/lavender-ai-israeli-army-gaza/.

[4]     IDF via theguardian.com: Israel Defence Forces’ response to claims about use of ‘Lavender’ AI database in Gaza, 3.4.2024, https://www.theguardian.com/world/2024/apr/03/israel-defence-forces-response-to-claims-about-use-of-lavender-ai-database-in-gaza.Quelle: Christioph Marischka in IMI-Analyse 2024/22

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Nazi-Milliardäre – Reich, rechts, mächtig

Das Buchcover zeigt ein Familienfoto mit Joseph Goebbels mit Frau Magda und Stiefsohn Harald Quandt, 1931
David de Jong: Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 496 Seiten, 28 Euro
BMW, Mercedes-Benz, Porsche, Allianz, Oetker; wie sind diese deutschen Weltkonzerne groß geworden?

Die vier reichsten Männer in der BRD waren 1970 Friedrich Flick, August von Finck, Herbert Quandt und Rudolf-August Oetker. Den entscheidenden Teil ihrer enormen Vermögen konnten sie ab 1933 erwerben, in der Stahl- und Rüstungsindustrie, bei Versicherungen und Banken und in der Lebensmittelindustrie.

Der langsame Aufstieg dieser Familienclans in den zwanziger Jahren, der rasante Weg in die höchsten Machtpositionen im deutschen Faschismus, das kurze Straucheln nach dem 8. Mai 1945, die spektakuläre Rückkehr an die Spitze seit den fünfziger Jahren und die heutige Debatte um die Nazi-Milliardäre sind das Thema des Buches des niederländischen Wirtschaftsjournalisten David De Jong.

Die Konzernchefs teilten nach dem Ende des Kaiserreiches die republikfeindlichen und reaktionären politischen Vorstellungen des deutschnationalen Milieus. Das erleichterte die bewusste Annäherung an Hitler und die NSDAP mit sehr grossen Spenden und regelmässigen Treffen ab 1930.

Für alle sichtbar wurde dieses Zusammengehen durch die Heirat von Goebbels und Magda Quandt, zuvor Ehefrau Günter Quandts, dem Besitzer der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken (DWM) und der AFA-Werke (später Varta). Auf dem Buchumschlag der deutschsprachigen Ausgabe von „Braune Erben“ ist ein Foto der faschistischen Prominentenfamilie: Josef und Magda Goebbels mit dem Quandt-Sohn Harald.

Nach der von ihnen mit vorangetriebenen Zerstörung der Weimarer Republik 1933 haben Quandt, Flick, Finck, Porsche und Kaselowsky (Oetker) 12 Jahre lang immer schneller an der Aufrüstung und der „Arisierung“ verdient. Alle waren Mitglieder in Himmlers „Freundeskreis Reichsführer SS“ und der NSDAP.

Im Zweiten Weltkrieg kam es zum systematischen Einsatz von Zwangsarbeiter:innen. Skrupellos haben sie die vielen Verschleppten ausgebeutet, allein bei Quandt mussten 57500 Menschen arbeiten. „Mindestens 403 Menschen starben in Günther Quandts (.) AFA-Werk.“ Eingesperrt in Lager, gefährdet durch Arbeit, Unfälle, Hunger und Krankheit, von Ermordung bedroht, wurden viele Zwangsarbeiter:innen schliesslich auf die Todesmärsche geschickt. Die 1016 Toten des grausamen Verbrechens in Gardelegen kamen aus einem der AFA-Werke. Sie wurden lebend in der Feldscheune verbrannt.

Nach der Befreiung musste sich nur Friedrich Flick vor Gericht verantworten, die Taten der anderen Unternehmer blieben ungesühnt, geschützt durch die alten Netzwerke und Persilscheine.

Die mit Zwangsarbeit erweiterten und modernisierten Fabriken waren die Grundlage der „Wirtschaftswunder“ genannten Restauration in der BRD der fünfziger Jahre.

Alle Wirtschaftsbosse kehrten an die Spitzen der Firmen zurück und setzten ihre Geschäfte erfolgreich fort. Keiner gestand die Beteiligung am Faschismus ein, niemand distanzierte sich, und sogar die rechte Ideologie und neofaschistische Politiker wurden von August von Finck weiter unterstützt.

Die Stärke des „erzählenden Sachbuches“ von David De Jong sind die Kapitel über die Nachkriegszeit, die BRD, und vor allem der letzte Teil über das Verhalten der Milliardärsfamilien gegenüber der eigenen NS-Geschichte bis heute. De Jong schildert, dass auch die Familie Reimann ihren Reichtum einem Nazi-Vorfahren verdankt. Während Reimanns, die reichsten Deutschen, den Weg der Aufklärung und Wiedergutmachung eingeschlagen haben, verharren die anderen Familien in Schuldabwehr durch Verleugnung und Relativierung.

Die zentrale Schwäche des Buches ist seine Unvollständigkeit, dadurch entsteht ein schiefes Bild des deutschen Faschismus. Der Autor fokussiert sich auf wenige Personen, und entscheidende Akteure fehlen, so Carl Duisberg und die Chemieindustrie. Ohne die IG Farben bleibt etwa die Übertragung der Macht am 30. Januar 1933 unverständlich. Während Schacht, Thyssen, Krupp, Schmitt zumindest erwähnt werden, heisst es nur „Manager des Chemiekonglomerats IG Farben und des Kaligiganten Wintershall“…

Gleichzeitig verliert sich De Jong stellenweise in Klatsch und Tratsch zu Hitler, Goebbels, Magda und Günther Quandt.

Überhaupt wird Quandt sehr nachsichtig geschildert: „Obwohl er zum größten Waffenproduzenten des „Dritten Reichs“ geworden war, wollte Günther Quandt keinen Krieg.“

Und eine naheliegende Frage: Warum wurde der englische Originaltitel „Nazi Billionaires“ nicht einfach übersetzt? „Nazi-Milliardäre“ trifft es doch viel besser als „Braune Erben“!

Erstveröffentlichung in antifa, Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur, 21. Juli 2022

k9 - combatiente zeigt geschichtsbewußt: „Die Rote Kapelle - das verdrängte Widerstandsnetz“

Die Vorderseite des Einladungsflyers zum Filmabend zeigt die ikonische Aufnahme: Ein Soldat hisst die sowjetische Flagge auf dem Reichstag (2. Mai 1945) sowie die Eckdaten zum Filmabend aus dem BeitragstextGeschichts-Dokumentation - Carl-Ludwig Rettinger — Deutschl., Belgien, Israel 2020 - 122 min. - dt. Originalfassung mit UT

Die Rote Kapelle war eines der bedeutendsten Widerstands-Netzwerke in Nazideutschland. Ein Spionagering, der sich von Berlin bis nach Paris und Brüssel erstreckte. Im Gegensatz zur Weißen Rose und zum Stauffenberg-Kreis sind die Widerstandskämpfer:innen der „Roten Kapelle“ in der BRD lange Zeit als „Vaterlandsverräter“ denunziert worden. Während in der BRD ehemalige Gestapo-Leute die „Rote Kapelle“ als kommunistisches Spionagenetzwerk diskreditierten, vereinnahmte die DDR, das angeblich nur kommunistische Netzwerk für ihre Zwecke. So wurde das Andenken der „Roten Kapelle“ historisch verfälscht.

Der Dokfilm beschäftigt sich mit zentralen Akteuren des Widerstandsnetzwerks und Spionagerings „Rote Kapelle“ und deren verzerrtem filmischen Gedenken.

Dafür werden Interviews mit Hinterbliebenen und Historikern, historisches Foto- und Filmmaterial u. Ausschnitte aus den zwei fiktionalen Aufbereitungen aus den ehemaligen DDR bzw. der BRD-Filmen zusammenmontiert, um so unterschiedliche Formen filmischer Geschichtsaufbereitung miteinander zu verbinden und dadurch zu reflektieren.

Um den tatsächlichen Aktivitäten der „Roten Kapelle“ auf den Grund zu gehen, gleichzeitig die historische Verzerrung ihres Andenkens in BRD und DDR zu hinterfragen, werden in dieser Dokumentation Ausschnitte aus beiden Filmen gewissermaßen „wiedervereinigt“. Ergänzend hierzu kommen ausgewählte heutige Protagonist:innen zu Wort, darunter Kinder und Enkel der beteiligten Personen, sowohl der Berliner wie auch der Pariser bzw. Brüsseler Gruppe. Wir besuchen mit ihnen die Schauplätze des Geschehens. Diese Begegnungen sind in den Fluss der dramatischen Handlung eingefügt.

combatiente zeigt geschichtsbewußt: revolucion muß sein! filme aus aktivem widerstand & revolutionären kämpfen

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Das verlorene Versprechen der Sowjets oder: Wie die russische Revolution an die Bolschewiki verloren ging

Das Foto zeigt die Versammlung des Petrograder Sowjets 1917 mit einer großen Zahl Deputierter Soldaten, Matrosen und Arbeitern
Versammlung des Petrograder Sowjets, 1917
In den ersten fünfzehn Jahren meines politischen Lebens waren die autoritären Sozialisten in den USA ein Witz. Wir haben uns nicht einmal die Mühe gemacht, sie als "Tankies" (Panzerknacker) zu verhöhnen, weil sie nicht einflussreich genug waren, um sie zu verunglimpfen. Die International Socialist Organization und ähnliche Organisationen waren nur die Leute mit den gleichen Schildern, die bei Protesten auftauchten und versuchten, sie zu übernehmen, die an der Straßenecke standen und versuchten, Zeitungen für einen Dollar zu verkaufen, während alle anderen von uns ihre Literatur kostenlos verteilten.

Die Protestbewegung in den USA im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurde nicht von einer einzigen ideologischen Kraft dominiert. Natürlich ist meine Perspektive durch meine eigene Position verzerrt, aber im Allgemeinen sah ich zwei primäre Positionen: Es gab die "Radikalen", die Progressiven und Linken, die sich keinem bestimmten ideologischen Etikett verpflichtet fühlten, und es gab die Anarchisten. Zwischen diesen beiden gab es eine Art Spektrum, und der Anarchismus war der Pol, an dem sich die Leute orientierten.

Das machte in gewissem Maße Sinn - anarchistische Organisationsstrukturen sind von Natur aus pluralistisch. Wenn eine große Anzahl von Menschen mit einer Vielzahl politischer und kultureller Hintergründe zusammenkommt, um gemeinsam etwas zu erreichen (z. B. neoliberale Handelsgipfel zu verhindern oder direkte Massenaktionen durchzuführen, um die US-Kriegsmaschinerie zu stören), müssen sie sich so organisieren, dass keine Gruppe dominant ist und keine Gruppe den anderen vorschreiben kann, was sie zu tun haben. Die Gruppen müssen sich gemeinsam koordinieren und herausfinden, wie ihre individuellen Strategien und Ziele andere Gruppen unterstützen und von ihnen unterstützt werden können.

Hier glänzen anarchistische und anarchistische Organisationsmodelle: Sie respektieren den politischen Pluralismus und die Vielfalt der taktischen, strategischen, ideologischen und moralischen Rahmenbedingungen.

Das ist, soweit ich das beurteilen kann, der Grund, warum wir eine Art ideologischen Pol der Bewegung bildeten. Es hat nicht geschadet, dass wir einen großen Teil der Organisation hinter den Kulissen geleistet haben, auch wenn wir dafür selten Anerkennung bekommen haben.

Im Jahr 1905 führten einige Leute in Russland eine Revolution durch. Die meisten von ihnen wussten nicht, dass sie eine Revolution machten. Die meisten von ihnen dachten, sie würden, nun ja, revoltieren. Generalstreiks fegten über das russische Reich. Die Menschen hatten es satt, in schmutzigen Häusern auf dem Lande zu hungern oder in den Städten mit vier Familien in einer Wohnung zu leben. Sie waren es leid, in ihrem Leben kein Mitspracherecht zu haben, weder zu Hause, noch bei der Arbeit, noch im Krieg. Sie waren der jahrzehntelangen "Russifizierung" überdrüssig, einer Apartheidpolitik, die darauf abzielte, die ethnische Vielfalt in einem Land zu zerstören, das zweifellos das größte und möglicherweise das ethnisch (und religiös) vielfältigste Land der Welt war.

Es gab einen Teil des Landes, der "Pale of Settlement" genannt wurde, das einzige Gebiet, in dem Juden leben durften und in dem sie immer noch einer unglaublichen ethnischen und religiösen Unterdrückung ausgesetzt waren. "Pale" ist ein archaischer Begriff für ein eingezäuntes Gebiet. Interessanterweise und nebenbei bemerkt, kommt der Ausdruck "jenseits des Pale" nicht von "außerhalb des Pale of Settlement wie in Russland". Es gab noch ein anderes "the Pale", das viel näher an England und damit an der englischen Sprache lag, nämlich ein Gebiet um Dublin in den frühen Tagen der britischen Kolonisierung Irlands. Dieser "Pale" war das Gebiet, das einigermaßen sicher vor den barbarischen irischen Horden in den Hügeln war. "Beyond the Pale" bedeutete außerhalb dieses sicheren, kolonisierten Gebiets. Daran sollte man denken, wenn das nächste Mal jemand radikale Politik als "beyond the pale" bezeichnet.

Aber Russland.

Die Pale of Settlement war eine der revolutionärsten Gegenden des Landes. Sie erstreckte sich über das heutige Weißrussland, Polen, die Ukraine, Litauen und einige andere Gebiete. Jüdische Menschen schlossen sich Ende des 19. Jahrhunderts zu einer endlosen Reihe linker Organisationen zusammen und begannen, die Macht des Zaren ernsthaft zu bekämpfen. Das taten sie natürlich nicht allein, aber ihre Beiträge sind es wert, hervorgehoben zu werden.

Bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass jüdische Linke einen Kernbestandteil der anarchistischen Bewegung in Russland bildeten. Da der Anarchismus immer ein internationales Projekt war und ist, ist die Art und Weise, wie der Anarchismus diese speziellen Bauern und Arbeiter erreichte, interessant: Da der Anarchismus immer ein internationales Projekt war und ist, ist die Art und Weise, wie der Anarchismus diese speziellen Bauern und Arbeiter erreichte, interessant: Ein Großteil der anarchistischen Ideen wurde von russischen Theoretikern im 19. Jahrhundert entwickelt, die oft mit einheimischen sibirischen Gruppen studiert und gearbeitet hatten, um zu sehen, wie Kulturen der gegenseitigen Hilfe und Solidarität ohne staatliche Autorität funktionieren können. Diese Ideen verbreiteten sich in Westeuropa und vermischten sich mit dem sich dort entwickelnden Anarchismus, der vor allem in den Enklaven der ethnischen Einwanderer Wurzeln schlug. Jiddisch sprechende Anarchisten in London zum Beispiel gaben viele radikale Zeitungen heraus, die dann in die Palästinensische Autonomiezone geschmuggelt wurden, wo sie in der Arbeiterklasse und der Bauernschaft auf fruchtbaren Boden fielen.

In Bialystok, einer Stadt im heutigen Polen, entstand eine Gruppe namens Black Banner. Sie boten eine wirklich einfache Lösung für das Problem der Unterdrückung an, die Art von einfacher Lösung, für die Russland wahrscheinlich berühmt war: Unterdrücker haben es besonders schwer, einen zu unterdrücken, wenn sie tot sind. Die Anarchisten schlossen sich zu "Kampforganisationen" zusammen, die jeweils autonom, aber ihrer Gemeinschaft gegenüber verantwortlich waren und sich an einer größeren Koordinierungsstruktur beteiligten.

Diese Kampforganisationen gingen hinaus und taten, was sie bewusst als Terrorismus bezeichneten: Sie raubten die Reichen aus, sie töteten streikbrechende Bosse. Sie bauten Bomben und sammelten Waffen. Sie hielten auch endlose Treffen ab, oft auf Friedhöfen. Auf diesen Versammlungen diskutierten sie Strategien und Ziele, aber auch Theorie und Kultur. Sie glaubten, dass die Arbeiterklasse selbst die Revolution anführen würde, und nicht eine bürgerliche Avantgarde. Sie waren "anti-intellektuell", aber dieses Wort bedeutete für sie nicht das, was es für uns heute bedeuten mag: Sie gaben der Aktion den Vorrang vor der Theorie, und sie waren gegen die Abschottung des Wissens durch aristokratische Institutionen wie die Akademie, so dass sie untereinander diskutierten und lehrten. Die Verbreitung von politischer Bildung schien genauso viel Zeit in Anspruch zu nehmen wie alles andere.

Das Schwarze Banner hat die Revolution von 1905 nicht ausgelöst. Diese Revolution war im Grunde genommen spontan und entstand aus dem allgemeinen Unmut über Armut und Autokratie. Keine der verschiedenen linken Ideologien hat die Revolution ausgelöst (oder erfolgreich angeführt). Nicht die SR (die "Sozialrevolutionäre"), die eine einheimische russische linke Ideologie waren, die sich auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Landbevölkerung konzentrierte. Nicht die Sozialdemokraten, die die Marxisten waren. Und auch nicht die Anarchisten.

Black Banner und seine Kampforganisationen beteiligten sich jedoch mit Begeisterung. Streikende Arbeiter konnten zu einer der Kampforganisationen kommen und sagen: "Unser Chef unterdrückt unseren Streik gewaltsam", und plötzlich hatte dieser Chef vielleicht ein paar zusätzliche Löcher in seinem Körper. Als sich die Gruppe ausbreitete, "wie Pilze nach dem Regen", wie es ein Teilnehmer später ausdrückte, schuf sie eine horizontale Organisations- und Koordinierungsstruktur.

Während der Revolution von 1905 beschloss ein großer Teil des rechten Flügels, den gesamten Aufstand auf "die Juden" als ethnische Gruppe zu schieben, und es kam zu Pogromen. Einem Teilnehmer von Black Banner zufolge gab es zumindest einen Ort, der vor den Pogromen sicher war: das anarchistische Viertel in Bialystock. Rechte Schläger, die Polizei und sogar die Armee hatten Angst, dorthin zu gehen. Diese Anarchisten (viele, aber nicht alle von ihnen waren Juden) hatten ganze Bombenfabriken, und es war kein guter Ort für Antisemiten.

Während der Revolution verbreitete sich in ganz Russland eine neue Idee, deren Name von der Geschichte völlig entstellt wurde. Der Sowjet. Ein Sowjet ist ein von unten nach oben organisiertes Koordinationsgremium. Der erste Sowjet entstand in der Stadt Iwanowna: Ein Streikkomitee bei einem Textilstreik wurde zu einem gewählten Gremium aller Arbeiter der Stadt. Bald darauf bildeten sich Sowjets in 60 verschiedenen Städten und Gemeinden. An diesen Räten nahmen Delegierte teil, die von den verschiedenen Fabriken und Arbeitsplätzen gewählt wurden, und diese Delegierten konnten sofort abberufen werden, wenn sie nicht das taten, wozu sie beauftragt worden waren.

Die Menschen erkannten, dass dies die Struktur einer neuen, einer besseren Gesellschaft war. Horizontale Entscheidungsgremien, die den Menschen mehr Freiheit gaben und ihnen mehr Kontrolle über ihr Leben zu Hause und am Arbeitsplatz ermöglichten. Diese Sowjets konnten sich koordinieren. Sie könnten, Sie wissen schon, eine Union der Sowjets bilden. Wenn sie nur die Macht dazu hätten. Dieses Modell wurde, so wie ich es verstehe, nicht von dieser oder jener revolutionären Ideologie entwickelt, sondern ist aus der Arbeiterbewegung selbst entstanden. Es widerspricht jedoch in keiner Weise dem Anarchismus. Es ist ein staatenloser Sozialismus.

Die Revolution von 1905 scheiterte im Großen und Ganzen. Der Zar versprach, zu einer konstitutionellen Monarchie überzugehen, und die Streiks gingen zurück. Nur die hartgesottenen Revolutionäre machten weiter - die SR, die Marxisten und die Anarchisten versuchten es eine Zeit lang weiter, verstärkten ihre "Enteignungen" (Raub der Reichen) und Attentate. Die Repression nahm daraufhin zu, und bald waren die meisten Linken tot, im Gefängnis oder im Exil.

Die westliche Demokratie hört bekanntlich an der Tür zu Ihrem Arbeitsplatz auf. Fast jeder Arbeitsplatz ist ein kleines Lehen, in dem man nur auf einen "guten Chef" hoffen kann, so wie ein mittelalterlicher Bauer auf einen "guten König" hofft.

Die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts wurde der Kommunismus im Westen praktisch als Synonym für Tyrannei angesehen. Wenn man bedenkt, was am Ende mit der russischen Revolution passiert (Spoiler: die Bolschewiki ergreifen die Macht von den restlichen Linken und Lenin erfüllt sein ausdrücklich gegebenes Versprechen, die Sowjets zu nutzen, um die Autorität zu zentralisieren und dann jeden Anschein von Arbeiterkontrolle aufzulösen), ist es verständlich, dass das Wort "Kommunismus" in so vielen Mündern einen schlechten Geschmack hinterlässt.

Die Ironie besteht darin, dass das sowjetische Projekt, das eigentliche sowjetische Projekt, den Menschen unglaublich viel mehr Freiheit, mehr Würde, mehr Selbstbestimmung und mehr Schönheit bot als alles, was der Kapitalismus je in Betracht gezogen hat. Die Sowjets boten den Menschen die Kontrolle über ihr eigenes Leben, sie boten den Menschen ein Mitspracherecht in der größeren Gesellschaft. Sie boten an, Ketten zu sprengen. Stattdessen wurden sie bekanntlich dazu benutzt, neue Ketten zu schmieden.

Zwischen 1905 und 1917 wurde Russland nicht viel stabiler, und die Lebensbedingungen für die meisten Menschen wurden auch nicht besser. Der Zar stürzte Russland kopfüber in den Ersten Weltkrieg. Das Land verfügte über die größte Armee der Welt, fünf Millionen Menschen, die größtenteils aus der bäuerlichen Schicht eingezogen wurden. Sie hatten mehr Männer als Gewehre. Die russische Militärstrategie hat sich scheinbar nie geändert: Man wirft Bauern in den Fleischwolf, schlecht ausgerüstet und schlecht ausgebildet, und hofft auf das Beste.

Dann, eines kalten Morgens, am 8. März 1917 (zu dieser Zeit wurde ein anderer Kalender verwendet, so dass dies für sie die "Februarrevolution" war), führten Frauen einen Streik an. Es war der internationale Frauentag, ein neuer Feiertag, der von sozialistischen Feministinnen ins Leben gerufen wurde. Dieser Streik weitete sich aus, und in acht Tagen beendete das russische Volk eine 300-jährige Dynastie. Nur 1300 Menschen starben. Das sind zwar meistens zu viele Tote, aber wenn es um eine Revolution im größten Land der Erde geht, sind es wirklich nicht sehr viele Tote.

Plötzlich entstand ein Machtvakuum, und es bildete sich ein unsicheres Bündnis zwischen der provisorischen Regierung und den Sowjets, um es zu füllen. Die provisorische Regierung bestand aus den Überresten der Duma, dem repräsentativen Wahlgremium, das unter dem Zaren keine wirkliche Macht besaß. Die provisorische Regierung war zunächst hauptsächlich mit Liberalen besetzt - Menschen, die eine Republik wollten, aber vor allem die Interessen der Mittelschicht und des Kapitalismus vertraten. In den Sowjets hingegen saßen Sozialisten aller Couleur.

Die provisorische Regierung wollte im Ersten Weltkrieg bleiben, während die Sowjets im Allgemeinen aussteigen wollten. Die provisorische Regierung kontrollierte mehr Institutionen und Machtsymbole, während die Sowjets die praktische Macht hatten, da sie die Arbeiter, die Bauern und die Soldaten vertraten. Die provisorische Regierung erkannte schnell, dass sie in Schwierigkeiten steckte, und rekrutierte so schnell wie möglich Sozialisten, was ihr auch gelang. Bald schlug diese neue Regierung selbst linke Aufstände nieder.

In der Zwischenzeit lebte ein gewisser Wladimir Lenin in der Schweiz im Exil. Er war ein Führer der Bolschewiki, der radikaleren Marxisten (aber insgesamt eine relativ kleine Partei. Nicht winzig, aber auch nicht annähernd so groß oder so einflussreich wie die SR). Das Deutsche Reich wollte unbedingt, dass Russland aus dem Ersten Weltkrieg aussteigt, und schloss daher einen Pakt mit Lenin: Sie würden ihn mit einem Haufen Geld nach Russland zurückschicken, wenn er die provisorische Regierung stürzen und Russland aus dem Krieg herausholen würde.

Und genau das geschah dann auch.

Die Februarrevolution war ein spontaner Aufstand der Arbeiterklasse und der Bauernschaft, aber sie hinterließ eine unruhige Allianz, die versuchte, die Macht zu teilen. Die radikaleren Leute, darunter Anarchisten, Bolschewiki und einige SR, wollten, was sich am besten in dem einfachen Slogan zusammenfassen lässt: "Alle Macht den Sowjets".

Die verschiedenen Gruppen wollten dies natürlich aus unterschiedlichen Gründen. Lenin hatte bereits 1907 geschrieben, dass die Bolschewiki die Sowjets "zur Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung" einsetzen könnten, dass sie aber bald "überflüssig" sein würden. Lenin war bereit, jeden Hebel in Bewegung zu setzen, der ihm Macht verschaffen konnte.

Die übrigen Sozialisten, zu denen wahrscheinlich auch der größte Teil der bolschewistischen Basis gehörte, wollten die gesamte Macht den Sowjets übertragen, weil sie, nun ja, den Kommunismus wollten. Sie wollten eine horizontale, staatenlose Gesellschaft, in der die Menschen ihre eigenen Arbeitsplätze und ihr eigenes Leben kontrollierten, sich aber zusammenschlossen, um die Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft zu erfüllen.

Es ist verständlich, dass man das will.

Ich will es auch.

Im November 1917 (die Oktoberrevolution, wieder wegen der kalendarischen Unterschiede) arbeiteten die verschiedenen linken Fraktionen zusammen, um die Provisorische Regierung mit Waffengewalt aufzulösen. Das war kein Staatsstreich. Dies war der erste Schritt zur Übertragung der gesamten Macht an die Sowjets.

Aber allen waren Wahlen für eine "konstituierende Versammlung" versprochen worden, im Grunde eine Version der provisorischen Regierung, die im Vergleich zur provisorischen Regierung tatsächlich gewählt werden würde. Die Bolschewiki waren anfangs voll und ganz damit einverstanden. Sie hatten kein besonderes moralisches Interesse an den Sowjets, sondern nur an der Macht. Was auch immer ihnen Zugang zur Macht verschaffte, war es wert. 60 % der Wahlberechtigten gingen zur Wahl, 40 Millionen Stimmzettel. Die SR gewannen die Wahl, während die Bolschewiki nur ein knappes Viertel der Sitze errangen.

Die verfassungsgebende Versammlung war natürlich eine grundsätzlich weniger demokratische Regierungsform als die Sowjets: Es war eine repräsentative Demokratie, wie wir sie im Westen kennen. (Nun, es war kein Zweiparteiensystem wie in den USA, aber es war vergleichbar mit den Republiken in Europa). Die Sowjets dagegen setzten sich aus direkten, abwählbaren Delegierten zusammen, die von dem Volk, das sie vertraten, jeweils ein bestimmtes Mandat erhielten.

Die verfassungsgebende Versammlung trat insgesamt nur 13 Stunden lang zusammen, bevor sie von den prosowjetischen Kräften (vor allem Bolschewiki und Anarchisten) gewaltsam aufgelöst wurde. Die Bolschewiki taten es, weil sie nicht die Kontrolle darüber hatten. Die Anarchisten taten es, weil sie die bereits existierenden sozialistischen Entscheidungsgremien, die Sowjets, unterstützten.

In der Zwischenzeit übernahmen die Bolschewiki die Kontrolle über die Sowjets, verliehen dem Exekutivrat neue Macht und verwandelten das Ganze in eine Organisation von oben nach unten und in ein Einparteiensystem. Innerhalb weniger Monate wandten sie sich gegen ihre anarchistischen Verbündeten und begannen mit Razzien in anarchistischen Räumen, bei denen Hunderte von Menschen getötet wurden. Anarchisten und Bolschewiki kämpften bald Seite an Seite gegen die reaktionären Weißen Armeen, aber sobald diese Armeen besiegt waren, wurden die Anarchisten getötet.

Im März 1918 sprach sich Lenin offen gegen die Arbeiterkontrolle aus, die er als "kleinbürgerlich" und "anarcho-syndikalistische Abweichung" verspottete. Er sagte, die Revolution erfordere "zur unbedingten Unterordnung unter die persönlichen Anordnungen der Vertreter der Sowjetmacht während der Arbeit." (Lenin: „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ in Lenin Werke, Band 27, S. 261ff)

In der späteren Sowjetunion gab es nie eine bedeutende Sowjetmacht. Es gab auch nichts, was man vernünftigerweise als Sozialismus oder Kommunismus bezeichnen könnte. Die frühen Sowjets wollten zum Beispiel Land "sozialisieren": es aus der Hand reicher Großgrundbesitzer nehmen und an bäuerliche Kollektive verteilen. Der Bolschewismus verstaatlichte stattdessen das Land, und die Bauern arbeiteten als Lohnarbeiter mit dem Staat als ihrem Chef. Dieses System wird allgemein als "Staatskapitalismus" bezeichnet. So nannte es Lenin, und wer bin ich, der Autorität der UdSSR zu widersprechen.

Seit der Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 beobachte ich einen Anstieg der autoritären kommunistischen Organisationen auf der Linken in den USA. Ich habe immer gesagt, dass dies geschieht, weil die Leute einfache Antworten wollen. Wenn man Anarchist wird, sagt einem niemand, was man zu tun hat. Es gibt keinen konkreten Plan, wie man eine Revolution machen kann. Es ist ein Projekt, das wir alle kollektiv zusammen bestimmen. Wenn du einer autoritären Organisation beitrittst, kannst du einfach deinen Anführern folgen und darauf vertrauen, dass sie das Richtige tun werden. Sie werden dich an einer Ecke mit ein paar Zeitungen zum Verkaufen aufstellen und dir genau erklären, wie der Sozialismus unweigerlich triumphieren wird. Sie müssen ihnen nur noch glauben.

Was die Frage angeht, "was wir tun sollten", sind einfache Antworten eine Illusion. Marx versprach, dass seine sozialistische Methode wissenschaftlich sei. Wenn das der Fall ist, dann ist die von Lenin aufgestellte Hypothese, dass die Ergreifung der Staatsmacht und die Schaffung eines staatskapitalistischen Systems schließlich zur Arbeiterkontrolle führen wird, im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder widerlegt worden. Es ist Zeit für neue Hypothesen.

Nur... ich bin mir nicht sicher, ob diese Hypothesen wirklich neu sein müssen. Es gibt eine andere Hypothese, die während der russischen Revolution entstanden ist und von den Arbeitern selbst organisch entwickelt wurde. Interessanterweise ist sie auch einfacher zu beantworten als die von den marxistischen Revolutionären vorgetragenen. Die Antwort auf die Frage, wie man eine Gesellschaft der Gleichheit und Freiheit schaffen kann, eine Gesellschaft, die auf der Kontrolle der Arbeiter über ihr eigenes Leben und ihre Arbeitsplätze aufbaut, könnte einfach darin bestehen, dass wir es auf den Punkt bringen und eine Gesellschaft aufbauen, die auf der Kontrolle der Arbeiter über ihr eigenes Leben und ihre Arbeitsplätze beruht. So wie es in den Sowjets der Fall war.

Um es klar zu sagen: Ich bezweifle ehrlich gesagt, dass das Wort "Sowjet" es wert ist, beibehalten zu werden, und ich habe kein persönliches Interesse daran, den Slogan "Alle Macht den Sowjets" wieder einzuführen oder zu versuchen, Hammer und Sichel zurückzuerobern. Die Idee, die hinter den Sowjets steht, ist jedoch direkt und klar.

Die größte anarchistische Formation während der russischen Revolution und des Bürgerkriegs war in der anarchistischen Ukraine zu finden, wo sieben Millionen Menschen jahrelang in einer von unten nach oben aufgebauten Struktur lebten, in der sich verschiedene Versammlungen untereinander koordinierten, aber ihre eigene regionale Autonomie behielten. Diese Struktur wurde ausdrücklich von Anarchisten und nach anarchistischen Grundsätzen entworfen, aber das System selbst bezeichnete sich nicht als anarchistisch. Es blieb politisch pluralistisch - selbst den Bolschewiken, die versuchten, die Macht zu übernehmen, wurde in der anarchistischen Ukraine Redefreiheit gewährt.

Die ukrainischen Anarchisten bezeichneten ihre Ziele wie folgt:

„Die Werktätigen [ein Wort, mit dem sowohl die Bauern auf dem Land als auch die Industriearbeiter gemeint sind] müssen ihre Sowjets selbst frei wählen, die den Willen und die Wünsche der Werktätigen umsetzen - also Verwaltungssowjets, keine Staatsowjets. Das Land, die Fabriken, die Mühlen, die Bergwerke, die Eisenbahnen und die anderen Reichtümer des Volkes müssen den Werktätigen gehören, die in ihnen arbeiten, das heißt, sie müssen vergesellschaftet werden.“

Und wie würden sie das tun?

„Eine kompromisslose Revolution und ein direkter Kampf gegen alle Willkür, Lüge und Unterdrückung, woher sie auch kommen mögen; ein Kampf auf Leben und Tod, ein Kampf für die freie Rede und für die gerechte Sache, ein Kampf mit der Waffe in der Hand. Nur durch die Abschaffung aller Machthaber, durch die Zerstörung der gesamten Grundlage ihrer Lügen, sowohl in staatlichen als auch in politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten, nur durch die Zerstörung des Staates mittels einer sozialen Revolution können wir eine echte Arbeiter-Bauern-Rowjetordnung erreichen und zum Sozialismus gelangen.“

Dieses Projekt hat jahrelang jeden Versuch, es zu stoppen, erfolgreich abgewehrt und die Weiße Armee in ihrem Lauf gestoppt. Es wurde erst durch den Einmarsch und die gewaltsame Annexion des Gebiets durch seine ehemaligen Verbündeten, die Rote Armee, zum Erliegen gebracht.

Es gibt moderne Beispiele von Menschen, die an Projekten arbeiten, die dem Versprechen der Sowjets ähneln, und die größten von ihnen bezeichnen sich nicht als anarchistisch. Die demokratischen Konföderalisten im Nordosten Syriens experimentieren mit Demokratie von unten nach oben, und die Zapatisten in Chiapas, Mexiko, machen etwas Ähnliches.

Wahrscheinlich können wir von ihnen, unseren lebenden Zeitgenossen, viel mehr lernen als von Anarchisten, die gestorben sind, bevor unsere Großeltern geboren wurden. Aber ich sehe das nicht als ein Entweder-Oder, und je mehr ich die Geschichte lese, desto mehr sehe ich ihren Widerhall in der Gegenwart, und desto klarer und wertvoller erscheinen mir ihre Lehren.

Die eine Lehre, die ich immer wieder sehe, ist, dass diejenigen, die nach Macht streben, diese nicht haben sollten. Wir müssen uns selbst und unsere Systeme gegen diejenigen abhärten, die nach autoritärer Kontrolle streben, egal welche Ausreden sie vorbringen, warum man ihnen die Macht anvertrauen sollte.

Das Ziel ist immer, dass wir uns selbst kontrollieren, dass wir gleichberechtigt miteinander arbeiten. Ich werde dieses Projekt Anarchismus nennen und eine schwarze Fahne hissen.

Wie Sie Ihre Version davon nennen, geht mich nichts an.


Quelle: © Margaret Killjoy, "The Lost Promise of the Soviets or: How the Russian Revolution Was Lost to the Bolsheviks"

Autorisierte Übersetzung: © Thomas Trueten / thomas@trueten.de

79. Jahrestag der Befreiung: "KZ Buchenwald. Aushalten. Wir eilen euch zu Hilfe."

Heute ist der 79. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald. Aus dem Anlass zeigen wir die WDR Dokumentation "KZ Buchenwald. Aushalten. Wir eilen euch zu Hilfe."


18. März: Freiheit für alle politischen Gefangenen!

Die Grafik zum 18. März zeigt eine rote Fahne im Wind mit der Aufschrift "Solidarität" und eine geballte Faust, die sich aus einem vergitterten Fenster reckt. Daneben die Forderung "Freiheit für alle politischen Gefangenen!Der 18. März als internationaler Kampftag für die Freilassung aller politischen Gefangenen knüpft an eine lange Tradition der revolutionären ArbeiterInnenbewegung an.

Am 18.3.1848 stand das sich gerade entwickelnde Proletariat auf den Barrikaden, 23 Jahre später, am 18.3.1871, kam es zum ersten Mal zu einer breit in der verarmten Bevölkerung verankerten Zerschlagung parlamentarisch-monarchistischer Machtstrukturen durch die proletarische Klasse. An diesem Tag griffen die Pariser Arbeiterinnen und Arbeiter zu den Waffen und schufen für einen kurzen Zeitraum eine selbstverwaltete Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung, die als Pariser Commune bekannt wurde. Nach nur 71 Tagen wurde der Versuch, sich von den Fesseln der Herrschaft zu befreien, brutal niedergeschlagen.

Die militärisch hochgerüstete Reaktion übte nach ihrem Sieg über die Kommunard_innen blutige Rache. Mehr als 20.000 Männer und Frauen wurden getötet, über 13.000 Menschen zu meist lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Doch im kollektiven Gedächtnis der sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Bewegungen blieb die Commune nicht in erster Linie als Niederlage haften, sondern als die Geschichte eines gemeinsamen Aufbruchs. Bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein galt der 18. März als „Tag der Commune“.

1923 erklärte die ein Jahr zuvor gegründete Internationale Rote Hilfe (RHI) den Tag zum „Internationalen Tag der Hilfe für die politischen Gefangenen“. Der Faschismus jedoch sollte dieser Tradition ein Ende setzen.

1996 initiierte der „Förderverein Libertad! für internationale Kommunikation und Solidarität“ zusammen mit der Roten Hilfe e.V. zum ersten Mal wieder einen Aktionstag für die Freiheit der politischen Gefangenen. Seitdem werden an diesem Tag vielfältige Aktionen und Veranstaltungen durchgeführt; die Rote Hilfe versucht mit der jährlichen Sonderausgabe zum 18. März, den politischen Gefangenen eine Stimme zu verleihen sowie den verschiedenen Solidaritäts- und Antirepressionsinitiativen eine Plattform zu bieten, um die Themen „Staatliche Repression“ und „Politische Gefangene“ ins Bewusstsein zu rufen.

Auch 2024 gibt es bundesweit gibt es viele Aktionen, an denen ihr euch beteiligen könnt. Eine Übersicht gibt es beim Bundesvorstand der Roten Hilfe.

Darüber hinaus empfiehlt sich die Lektüre der diesjährigen Sonderausgabe der Rote Hilfe Zeitung, die in diversen linken Publikationen beigelegt oder hier als PDF Download verfügbar ist.

Weitere Literaturempfehlungen:


k9 - combatiente zeigt: Iwan der Schreckliche, Teil II

Der Flyer zeigt einen Teil des zeitgenössischen Filmplakates mit einem Portrait Iwan des Schrecklichen und die Angaben zum Film und VorführortSergej Eisenstein UdSSR 1944/45 - 88 min.

Sonntag, 24.3.24, 19 uhr

Historischer Stoff mit düsteren Visionen von Macht+Unterwerfung. Der zweite Teil wurde erst 1958, fünf Jahre nach Stalins Tod, von Chruschtschow zur Vorführung freigegeben.

Ein Meisterwerk der sowjetischen Filmkunst


Der Film von Sergei Michailowitsch Eisenstein UdSSR 1945, zeigt das Leben des Zaren Iwan IV. von Russland (1530-1584) in 88 minuten - musik: Sergei Prokofjew. Ein Meisterwerk der sowjetischen Filmkunst Historischer Stoff mit düsteren Visionen von Macht+Unterwerfung. Dieser zweite Teil wurde erst 1958, fünf Jahre nach Stalins Tod, von Chruschtschow zur Vorführung freigegeben.

Iwan IV. war der erste Großfürst von Moskau, der sich 1547 zum Zaren von Russland krönen ließ.

Iwan der Schreckliche - Teil II behandelt Iwans Kampf gegen innere und äußere Feinde und zeichnet das Bild des “schrecklichen“ Zaren. Iwan kehrt nach Moskau zurück, wo ihn die intrigierenden Bojaren, die sich mit seiner Tante Jefrosinia verbündet haben, bereits erwarten. Sie unternehmen alles, um den Zaren vom Thron zu stoßen und den geistig behinderten Sohn Jefrosinias zu seinem Nachfolger zu erklären.

Indem Sergej M. Eisensteins Film den stalinistischen Mythos Iwan des Schrecklichen hinterfragte, regte er eine kritische Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Staatssystem seiner Gegenwart an. 1946 wurde Teil II des Films für den sowjetischen Verleih verboten; erst ab 1958 durfte er öffentlich gezeigt werden.

Das Lexikon des internationalen Films :

der Film entwerfe „düstere Visionen von Macht und Unterwerfung“ besonders die „genial gestalteten Bildkompositionen“ würden dazu die „Dialektik politischer Alleinherrschaft“ enthüllen.

k9 • größenwahn • politischer filmabend - sonntag 3. februar 2019 - 19oo uhr

Hausprojekt Kinzigstr. 9 | 10247 Berlin



Die "Proletenpassion" in Esslingen

Das Foto zeigt das Plakat der WLB zum Stück, im Hintergrund das alte Esslinger Rathaus, dazwischen sitzen Menschen in einem Straßencafe
Foto: © Thomas Trueten
Vermutlich sehenswert, nicht nur für junge Linke: Die "Proletenpassion" in der Württembergischen Landesbühne in Esslingen:

„Unsere Geschichte ist die Geschichte von Kämpfen, Verteilungskämpfen zwischen den Klassen, eine wütende Chronologie. Doch gelehrt wird uns eine lange Reihe von Thronen und Kronen ...“ Die „Proletenpassion“ erzählt nicht von den glanzvollen Siegen, sondern von den Abermillionen, die den Preis für diese Siege zahlten - vom Scheitern, von den Opfern. Eine Revue von den Bauernkriegen über die bürgerliche Revolution, die Pariser Kommune, Oktoberrevolution und Faschismus bis geradewegs hinein ins Heute. Durchsetzt mit Originalzitaten revolutionärer Persönlichkeiten von Martin Luther über Thomas Müntzer bis Karl Marx. Thyssen und Krupp lachen sich ins Fäustchen, während Hitler den Blues kriegt. Eine Geschichte der entbehrungsreichen Kämpfe Europas - dabei immer lehrreich, nie belehrend. Ein humoristisches, bissiges Plädoyer für Demokratie und Solidarität in eingängigen Reimen.

Kurze Stücke, flotte Wechsel, variantenreich intoniert - schwelgerisch und schmeichelnd, zugleich ätzend und aggressiv ist die Musik. Die „Schmetterlinge“, 1969 in Wien gegründet, waren eine Folk- und Politrock-Band. Ihre kritisch-politischen Texte wurden größtenteils von Heinz Rudolf Unger geschrieben. Der österreichische Literat verfasste außerdem Romane, Lyrik, Theaterstücke, Drehbücher, Hörspiele sowie Kinder- und Jugendbücher und arbeitete mit verschiedenen Kabarettgruppen zusammen.

Quelle, Termine und weitere Informationen: Württembergische Landesbühne

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