Skip to content

Alle auf die Straße - gegen die AfD und andere Faschisten - in Ost und West

SharePic zur Kundgebung am 2. September mit dem Text: "Kundgebung 02. September - auf die Straße gegen die AfD und andere Faschisten. Zeit zu handeln!" vor dem Hintergrund einer Antifa Demo und dem Link auf zeitzuhandeln.org
SharePic zur Kundgebung am 2. September
Die AfD wird am 01.09. bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen starke Ergebnisse einfahren. Genauso bei den anderen anstehenden Wahlen in den Ostdeutschen Bundesländern. Das Ergebnis könnte Geschichte schreiben. Die Partei und mit ihr weite Teile der allgemeinen Rechten, wird ihren bisher größten Erfolg feiern, während die gesellschaftliche Linke weiterhin nicht in der Lage ist, dem etwas entgegenzusetzen oder eigene politische Gegenmacht aufzubauen.

Die Ampelkoalition arbeitet, aus parteipolitischen Gründen, durchaus gegen die AfD, die CDU schwört sich, mehr oder wenig konsequent, auf eine Brandmauer gegen „alles rechts von uns“ ein und das Bündnis Sahra Wagenknecht bleibt ohne klares Profil gegen Rechts.

Ob die AfD in Regierungsverantwortung kommt oder die „Brandmauer“ tatsächlich hält bzw. die bürgerlichen Parteien aus eigener Kraft regieren können wird sich erst noch zeigen.

Für uns steht fest: Die bürgerlichen Parteien sind Teil der Rechtsentwicklung. Die Ampel-Regierung setzt einen rechten Kurs um. Sie reagiert mit Abschiebungen, Sozialabbau und Aufrüstung im Inneren und Äußeren auf die aktuellen Krisen. Die CDU hat, all ihren Versprechen von der Brandmauer zum Trotz, längst einen rechten Kurs übernommen und nähert sich der AfD immer weiter an.

Die Stärke der Rechten zeigt sich aber nicht nur an der AfD:
Die faschistische Rechte von Identitärer Bewegung bis zum III. Weg wird zunehmend selbstbewusster und gewinnt an Stärke, ihnen gelingt es ,bis jetzt, gut die allgemeine Krise für sich zu nutzen, sich aufzubauen und „Rechts-sein“ als Gegenkultur zum vermeintlich „linken“ Mainstream zu etablieren. Auch nehmen militante Übergriffe, sowohl organisiert als auch spontan auf politische Feinde und Minderheiten immer mehr zu, so zum Beispiel in Berlin vor einigen Wochen, als eine Gruppe Antifaschist:innen von Faschisten des III. Wegs angegriffen wurden, oder zahlreiche Anfeindungen rund um den CSD in verschiedenen Städten. Besonders hier braucht es einen antifaschistischen Selbstschutz.

Den die Rechtsentwicklung findet auch, wenn nicht sogar hauptsächlich, außerhalb von Wahlkämpfen und Parlamenten statt - das weiß auch die AfD.

Wir wissen nicht, welche Dynamiken der Wahlkampf im Osten mit sich bringen wird. Übergriffe auf echte oder vermeintliche Feinde, von Seiten der Rechten, sind keine Seltenheit mehr und auch rechte Massenbewegung (wenn auch oft sehr kurzlebig) können schnell entstehen. Hier gilt es aufmerksam zu bleiben und sich auch spontan dem Kampf gegen die Faschisten anzuschließen bzw. diesen zu organisieren und durchzuführen.

Auch ist klar: Im Westen hinkt die AfD ihren Kameraden stimmen technisch noch hinterher aber die Rechtsentwicklung ist ein deutschlandweites Phänomen, dem es sich überall entgegenzustellen gilt.

Die Wahlen am ersten September sind für uns der Startschuss für eine Phase, in der wir konkret gegen Rechte vorgehen müssen. Dafür braucht es Entschlossenheit, Organisierung und langfristige Arbeit.

Einen Startschuss für antifaschistische Arbeit hier in der Region, möchten wir am 02.09., dem Tag nach der Wahl, setzen. Wir wollen hier in Stuttgart, in Verbindung und im Anschluss an direkte Proteste in Erfurt am 31.08., auch gegen AfD und Rechtsentwicklung auf die Straße gehen und klarmachen, dass wir weiterhin aktiv sein werden - 365 Tage im Jahr.

Kommt alle am 02.09. um 18.00 Uhr auf den Rotebühlplatz/ Stadtmitte. Lasst uns gemeinsam zeigen, dass wir entschlossen und bereit sind, den Faschisten entgegenzutreten.

Quelle

Warum ich den Industrial Workers of the World beigetreten bin

Damals, 2004, vielleicht 2005, arbeitete ich in Portland, Oregon, als Landschaftsgärtner. Es war ein kleines Team, nur drei von uns und unser Chef. Unser Chef war im Großen und Ganzen ziemlich cool. Er hat uns nicht bis auf die Knochen geschuftet. Er war flexibel, was freie Tage anging. Er nannte mich sogar Magpie. Er bezahlte uns unter dem Tisch. Manchmal ließ er die Arbeit sausen, um surfen zu gehen. So ein Typ.

Tatsächlich sagte ich ihm nach meiner ersten Arbeitswoche: "Hey, ich werde für etwa einen Monat weggehen, um Straßen in Süd-Oregon zu blockieren, um den Verkauf von Altholz zu stoppen, und vielleicht ein bisschen Baumsitting zu betreiben. Wenn ich zurückkomme, kann ich dann meinen Job wiederhaben?", und er sagte ja, und so ging ich für einen Monat weg, und dann kam ich zurück und bekam meinen Job wieder. Eines Morgens rief er mich vor der Arbeit an und sagte: "Hey, du brauchst heute nicht zur Arbeit zu kommen, wenn du nicht willst, wir werden einen Baum fällen." Ich sagte ihm, dass ich ein Problem mit der Abholzung von altem Baumbestand habe, nicht mit dem Fällen von Bäumen, aber ich wusste seine Sorge zu schätzen.

Doch eines Tages entdeckten wir ein Problem. Wir waren zu dritt in seinem Team. Ich war noch nicht als Transsexueller unterwegs, also war ich ein Junge, ein anderer Junge und ein Mädchen. Das Mädchen war die Größte und Stärkste von uns dreien. Wir fanden heraus, dass sie 25 Cent weniger pro Stunde bekam als ich. Das würde nicht reichen. Da wir alle drei Anarchisten waren, marschierten wir zum Red & Black Cafe, wo wir einige Wobblies trafen... einige Leute von der Industrial Workers of the World. "Die anarchistische Gewerkschaft", so stand es da, obwohl das nur halb stimmt. "Die anarchistenfreundliche, auf direkte Aktionen ausgerichtete Gewerkschaft, die vor hundert Jahren von einer Kombination aus Anarchisten und Sozialisten gegründet wurde", wäre eine genauere, wenn auch wortreiche, Beschreibung.

Wir marschierten dorthin, gingen zu den Wobblies und sagten: "Wir sind 100 % unseres Arbeitsplatzes und wir sind bereit, morgen in den Streik zu treten, um gleichen Lohn für Frauen und Männer zu fordern."

Die Wobblies sahen uns an, und einer von ihnen sagte: "Ja, cool, wir haben unsere offenen Treffen für neue Mitglieder am ersten Sonntag jedes zweiten Monats, und das letzte war nächste Woche, also kommt in sieben Wochen wieder und wir werden euch anmelden."

An diesem Tag wurde ich also nicht zu einem Wackelkandidaten.

Stattdessen meldeten wir drei uns am nächsten Morgen bei der Arbeit und sagten unserem Chef: "Sie haben die Wahl. Entweder du zahlst ihr dasselbe wie Magpie, oder du hast keine Angestellten mehr."

Also bekam sie eine Gehaltserhöhung, und ich grub wieder Löcher für 10 Dollar die Stunde, und ich lernte etwas Einfaches und allgemein Wahres: Eine Gewerkschaft hat Macht.

Dann sparte ich erfolgreich genug Geld für ein Flugticket in die Niederlande, kündigte meinen Job und flog über den Ozean, um in einem besetzten Haus zu leben und zu versuchen, mich zu verlieben, was nicht gelang.

Die Geschichte der Gewerkschaften im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten ist, offen gesagt, erschreckend. Wie so oft fungierten die Gewerkschaften eher als Organisationen der weißen Vorherrschaft denn als Instrumente zur Förderung der Interessen der Arbeiterklasse. Wenn man eine Gewerkschaft hat, die nicht-weiße Arbeiter ausschließt, was bei den meisten Gewerkschaften der Fall war, dann hat man eine Organisation, deren Zweck es ist, die Machtstruktur der weißen Vorherrschaft zu erhalten. So einfach ist das.

Natürlich gab es Ausnahmen von diesem expliziten Rassismus, aber insgesamt sahen die ersten Gewerkschaften in den USA nicht gut aus.

Das Bild zeigt das Cover der Broschüre
One Big Union - Eine große Gewerkschaft, Grundlagentext zum Konzept der IWW

Erschienen: Erste Publikation im Jahre 1911.
Überarbeitet und mit einem neuen Nachwort versehen.

Klick auf das Bild führt zur Webseite der Wobblies und der Downloadmöglichkeit der Einführung in die Theorie und Praxis der IWW und ihrer Grundprinzipien als PDF Datei.
Dann, 1905, traf sich eine Gruppe von Sozialisten und Anarchisten in Chicago und gründete die Industrial Workers of the World, eine syndikalistische, antirassistische und antisexistische Gewerkschaft. Sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer und organisierte Menschen, die von den traditionellen Gewerkschaften abgelehnt oder ignoriert worden waren - Wanderarbeiter, Landstreicher und eingewanderte Arbeiter aus den "schlechten" Teilen Europas, wie Italien und Osteuropa, sowie Menschen aus China und Mexiko.

Als ich das erste Mal von den IWW hörte, verwirrte mich der Name. Ich hatte angenommen, dass sie Arbeiter organisierten, die "industrielle" Arbeit verrichteten. Leute, die, ich weiß nicht, Metall in Öfen schmelzen oder mit Hämmern auf Dinge einschlagen. Leute, die Nitzer Ebb und Nine Inch Nails hörten, vielleicht, oder zumindest die Leute, die Nägel herstellten.
Das ist überhaupt nicht die Idee hinter der Industriegewerkschaft. "Industriell" bedeutet in diesem Zusammenhang "ganze Industrien". Dies wird mit "Trade Unionism" verglichen. In der Handelsgewerkschaft gibt es vielleicht eine Bremsergewerkschaft, eine Schaffnergewerkschaft und eine Gewerkschaft der Gleisbauer, die alle voneinander getrennt sind. In der Industriegewerkschaft ist jeder, der bei der Bahn arbeitet, in derselben großen Gewerkschaft.
Damit entfällt eines der wichtigsten Mittel, mit denen die Chefs die Gewerkschaft brechen können. Sie können nicht mehr getrennt mit den Schaffnern verhandeln und somit deren Interessen gegen die der Bremser ausspielen.

Der Antirassismus und Antisexismus der IWW diente dazu, eine andere Art der Spaltung der Arbeiterklasse zu verhindern: Die Vorherrschaft der Weißen war lange Zeit eines der wirksamsten Mittel des Kapitalismus gegen die Arbeiterklasse, und immer wenn weiße Arbeiter streikten, holten die Bosse schwarze (oder chinesische oder mexikanische, je nach Region des Landes) Streikbrecher und schürten einen kleinen Ethnienkrieg.
Infolge der Organisierung durch die IWW gab es Orte wie die Docks in Philadelphia, wo sich in den 1910er Jahren schwarze und weiße Langarbeiter gemeinsam organisierten. Alle, die auf den Docks arbeiteten, organisierten sich gemeinsam, von denen, die auf den Tiefseedocks arbeiteten (die früher am besten bezahlt wurden) bis hin zu den Feuerwehrleuten des Docks, alle in Local 8 der IWW. Sie waren demokratisch, scheuten sich nicht vor direkten Aktionen und verbesserten ihr eigenes Leben durch die gemeinsame Arbeit erheblich.

Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts in Amerika ist peinlich, weil die Gewerkschaften in erster Linie als Vertreter der weißen Vorherrschaft fungierten. Die Gewerkschaftsbewegung in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat keinen viel besseren Ruf, weil die Gewerkschaften, sobald sie sich etabliert hatten, zu einer eigenen Machtstruktur wurden, die für ihre eigene Korruption anfällig war. Ihre Verbindungen zum organisierten Verbrechen wurden immer enger, und einige machten sogar gemeinsame Sache mit den Bossen. Trotz der Korruption war ein gewerkschaftlich organisierter Arbeitsplatz immer besser für den Arbeitnehmer als ein nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeitsplatz, und viele der großen Gewerkschaften haben schließlich ihre eigene Korruption ausgemerzt. Dennoch hebt sich die Arbeit der IWW zu Beginn des 20. Jahrhunderts leuchtend von der Mehrheit der gewerkschaftlichen Organisierung ab, die davor und danach stattfand.

Die Wobblies waren und sind Menschen, die kein Interesse am Aufbau korrumpierbarer Strukturen hatten, die keine Angst vor dem eigentlichen Kampf hatten und haben.
Bei meinen Recherchen für meinen Geschichtspodcast kamen die IWW immer wieder zur Sprache. Einiges davon war mir bekannt, wie z. B. die Kämpfe um die Meinungsfreiheit im Westen, wo Landstreicher zu Hunderten und Tausenden auftauchten, um verhaftet zu werden, weil sie sich in Boomtowns organisierten und ins Gefängnis geworfen wurden, bis die Stadt sie schließlich alle freilassen und die Meinungsfreiheit wieder zulassen musste. Bei diesen Kämpfen starben Menschen, weil sie in den Gefängnissen misshandelt wurden. Andere wurden von rechtsgerichteten Mobs angegriffen und gefoltert. Aber sie gewannen.

Ein anderes Mal tauchten die IWW bei meinen Recherchen an Stellen auf, an denen ich sie überhaupt nicht erwartet hatte. Zum Beispiel, wie einflussreich sie in der mexikanischen Revolution waren: Kurz vor der mexikanischen Revolution inszenierte eine massive anarchistische Fraktion, die sich ironischerweise "Liberale Partei" nannte und zum Teil von einem indigenen Anarchisten namens Ricardo Flores Magón angeführt wurde, bewaffnete Aufstände im ganzen Land. Am Ende brachen diese Aufstände zusammen, aber sie ebneten innerhalb weniger Jahre den Weg für eine liberalere Revolution. Ein großer Teil der Organisation dieser Revolutionen fand in den USA jenseits der Grenze statt und wurde von den multirassischen, internationalen IWW geleistet, die sich damals stark für die Organisierung von eingewanderten und mexikanischen Minenarbeitern engagierten. Das bedeutet, dass deutsche Anarchisten mit dem Gewehr in der Hand neben ihren mexikanischen Kollegen stehen und für die Befreiung Mexikos von der Unterdrückung kämpfen, was ein cooles Bild ist.

Manchmal reichten die Fäden, die zu den IWW zurückführten, länger. Die Gründung der IWW hat den Lauf der Geschichte in der ganzen Welt entscheidend verändert. Ihre Ideen waren revolutionär, und zwar nicht nur, weil sie für die Revolution eintraten, sondern weil sie revolutionierten, was Gewerkschaftsarbeit sein konnte. Sie brachten die Ideen des Syndikalismus in den Vordergrund, und überall auf der Welt begannen die Menschen, sich entlang der Linien von Industriegewerkschaftern und Syndikalisten - oft Anarchosyndikalisten - zu organisieren.

Ich kann zum Beispiel eine direkte Linie von der schwarzen und indigenen Anarchistin Lucy Parsons, einer der Gründerinnen der IWW, zu der Art und Weise ziehen, wie die Anarchosyndikalisten in den 1920er Jahren in Deutschland Hunderte oder Tausende von unterirdischen Abtreibungskliniken errichteten, in denen Millionen von Abtreibungen vorgenommen wurden. Ich kann eine Linie von Lucy Parsons zu dem deutschen Anarcho-Syndikalisten Rudolph Rocker ziehen, der in den 1910er Jahren für einige Jahre nach England ging und dort irische und jüdische Arbeitsmigranten zusammenbrachte. Da die irischen Hafenarbeiter gestreikt hatten, schickten sie ihre Kinder zu den jüdischen Schneidern, um sie zu ernähren. Als die britischen Faschisten in den 1930er Jahren versuchten, die Iren gegen die Juden aufzuhetzen, wollten die Iren nichts davon wissen, und gemeinsam schlugen die Juden und die Iren die Faschisten in der Schlacht in der CableStreet vernichtend, was der faschistischen Organisation auf der Straße im England der 1930er Jahre den Todesstoß versetzte. Ich kann mir das ansehen und sagen: "Das geschah, weil eine Frau namens Lucy Parsons in den Vereinigten Staaten in die Sklaverei hineingeboren wurde und nach ihrer Befreiung ihr Leben der Entwicklung von Strategien widmete, mit denen wir alle nicht nur von der Sklaverei, sondern auch vom Kapitalismus befreit werden können."

Ich fand mehr und mehr dieser Themen. Die IWW tauchten immer wieder an den unwahrscheinlichsten Orten auf.
Vor ein paar Wochen, als ich über die Gewerkschaft Local 8 in Philadelphia recherchierte, beschloss ich, dass ich ein Heuchler wäre, wenn ich nicht beitreten würde, und ich trat den IWW bei.

Die erste Blütezeit der IWW brach während der ersten Roten Panik 1917 oder so zusammen, als Anarchisten und Wobblies massenweise verhaftet oder deportiert wurden. Die Gewerkschaft hielt sich wacker, aber die politische Landschaft Amerikas wurde für immer verändert. Einer der Kerngedanken der IWW war es, die Arbeiter auch entlang linker ideologischer Linien zu vereinen, aber nach dem russischen Bürgerkrieg, als die Bolschewiki ihre linken Mitstreiter zerschlugen, wurde die Vorstellung, was es bedeutet, ein Linker, Kommunist oder Sozialist zu sein, ebenfalls für immer verändert. Die Bolschewiki hielten nicht viel von den IWW, da sie zu demokratisch und zu schwer zu beeinflussen waren, und unterstützten stattdessen die liberaleren Gewerkschaften, da diese leichter zu kontrollieren waren.

Der Stern der IWW ging unter. Die liberaleren Gewerkschaften beanspruchten einen größeren Anteil der Arbeiterklasse für sich. Mit der Zeit wurden diese Gewerkschaften natürlich auch rassenübergreifend, und es war immer noch besser, einen gewerkschaftlichen Arbeitsplatz zu haben als einen nicht gewerkschaftlichen Arbeitsplatz.

Die IWW sind jedoch nie verschwunden. Ich weiß weniger über ihr Wiederaufleben, aber ich weiß, dass sie stattgefunden hat, und seit Jahrzehnten beobachte ich, wie die IWW Dinge erreichen, die ich nie für möglich gehalten hätte. Die vielleicht beeindruckendste Errungenschaft der IWW ist das IWOC, das "Incarcerated Workers Organizing Committee". Die IWW organisieren die Gefängnisarbeit. Und das ist keine Sache von oben nach unten... die Gefangenen selbst organisieren sich drinnen, während die Organisatoren draußen ihre Unterstützung anbieten.

Ich bin ein Freiberufler ohne eine traditionelle Belegschaft, aber die FJU, die Gewerkschaft der freien Journalisten, vertritt, nun ja, freie Journalisten. Sie kämpft, oft erfolgreich, für die Auszahlung nicht gezahlter Löhne. Sie arbeitet an der Festlegung von Standards für Medien, die Freiberufler veröffentlichen.

Um ehrlich zu sein, brauche ich selbst keine Gewerkschaft. Meine Kunden sind in der Regel selbst ziemlich radikal und bezahlen mich pünktlich und so gut sie können. Es ist immer schön, wenn Menschen hinter einem stehen, und ich bin froh, dass ich jetzt diese große, horizontale Organisation an meiner Seite habe, aber ich bin den IWW nicht wegen mir beigetreten. Ich bin beigetreten, weil ich an ihre Mission glaube - die Arbeiterklasse zu organisieren, um ihre eigenen Bedingungen zu verbessern und schließlich die Lohnarbeit ganz abzuschaffen. Ich bin beigetreten, weil ich an die Arbeit glaube, die sie leisten, indem sie traditionelle und nicht-traditionelle Arbeitsplätze gleichermaßen organisieren.

Und ja, es war immer noch ärgerlich, dass vor 20 Jahren die ersten Wobblies, die ich kennenlernte, nicht gerade auf der Höhe der Zeit waren. Ich bin froh, dass ich gelernt habe, dass direkte Aktionen wichtiger sind als institutioneller Rückhalt. Aber was wäre, wenn unser Chef gesagt hätte: "Gut, ihr seid alle gefeuert." Was dann? Hätten wir drei dann die nötige Erfahrung gehabt, um eine Beschwerde einzureichen, oder den nötigen Rückhalt, um Druck auf ihn auszuüben, damit er uns unseren nicht gezahlten Lohn auszahlt? (Die Antwort auf beide Fragen ist nein.)

Die IWW scheint eine unvollkommene Organisation zu sein, und sie ist derzeit nicht auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Aber sie erlebt ein Wiederaufleben, und sie ist notwendiger denn je. Immer mehr Menschen arbeiten an nicht-traditionellen Arbeitsplätzen, und es braucht eine flexible, kämpferische Gewerkschaft, um die Menschen zu organisieren, die von den traditionellen Gewerkschaften ignoriert werden.

Also bin ich den Wobblies beigetreten. Das kannst du auch. Wenn du dich anmeldest und deinen Beitrag bezahlst (der je nach Einkommen gestaffelt ist), wird sich jemand mit dir in Verbindung setzen, um mit dir darüber zu sprechen, was auf lokaler Ebene passiert und wie du dich engagieren kannst.

Die Präambel der IWW-Satzung wurde von Thomas Hagerty verfasst, einem katholischen Wanderprediger, der wegen seiner politischen Aktivitäten aus der Kirche geworfen wurde und als Mystiker auf den Straßen Chicagos landete. Wie könnte ich es nicht lieben?

"Die Arbeiterklasse und die Klasse der Ausbeuter haben nichts gemeinsam.

Es kann keinen Frieden geben, solange Hunger und Not unter Millionen von Arbeitern herrschen und die wenigen, die die Ausbeuterklasse bilden, über alle Güter des Lebens verfügen.

Zwischen diesen beiden Klassen muss ein Kampf geführt werden, bis sich die Arbeiter der Welt als Klasse organisieren, die Produktionsmittel in Besitz nehmen, das Lohnsystem abschaffen und in Harmonie mit der Erde leben.

Wir stellen fest, dass die Zentralisierung der Verwaltung der Industrien in immer weniger Händen die Gewerkschaften unfähig macht, mit der immer größer werdenden Macht der Ausbeuterklasse fertig zu werden.

Die Gewerkschaften fördern einen Zustand, der es ermöglicht, eine Gruppe von Arbeitnehmern gegen eine andere Gruppe von Arbeitnehmern in derselben Branche auszuspielen und so dazu beizutragen, sich gegenseitig in Lohnkriegen zu besiegen.

Darüber hinaus helfen die Gewerkschaften der Ausbeuterklasse, die Arbeiter in dem Glauben zu lassen, dass die Arbeiterklasse gemeinsame Interessen mit ihren Ausbeutern hat.

Diese Verhältnisse können nur durch eine Organisation geändert und die Interessen der Arbeiterklasse gewahrt werden, die so beschaffen ist, dass alle ihre Mitglieder in einem Industriezweig oder, falls erforderlich, in allen Industriezweigen die Arbeit niederlegen, wenn in irgendeiner Abteilung ein Streik oder eine Aussperrung stattfindet, so dass die Schädigung eines Einzelnen eine Schädigung aller ist.

Anstelle des konservativen Mottos "Gerechter Tageslohn für gerechte Arbeit" müssen wir die revolutionäre Losung auf unsere Fahne schreiben: "Abschaffung des Lohnsystems".

Es ist die historische Aufgabe der Arbeiterklasse, den Kapitalismus abzuschaffen.

Die Armee der Produktion muss organisiert werden, nicht nur für den täglichen Kampf mit den Kapitalisten, sondern auch um die Produktion fortzuführen, wenn der Kapitalismus gestürzt ist.

Indem wir uns industriell organisieren, bilden wir die Struktur der neuen Gesellschaft innerhalb der Schale der alten."

Margaret Killjoy, Birds Before the Storm, 14. August 2024

Übersetzung mit freundlicher Genehmigung: Thomas Trueten

Links:

Industrial Workers of the World (IWW) im deutschsprachigen Raum

Willkommen in Pjöngjang an der Seine!

Das Foto zeigt eine Patrouille der Nationalpolizei in Paris, in der Nähe der Bar des "Team Ireland", die im Rahmen der Olympischen Spiele von Paris 2024 gesichert wird
Patrouille der Nationalpolizei in Paris, in der Nähe der Bar des "Team Ireland", die im Rahmen der Olympischen Spiele von Paris 2024 gesichert wird

Foto: Kyah117 CC BY 4.0, via Wikimedia Commons
Olympia 2024 zeigt, wie der Staat die neuen Erfahrungen und smartifizierten Werkzeuge aus der Coronazeit wie den "Green Pass" und App-Kontrollen, auch darüber hinaus zur Bevölkerungskontrolle und Repression einsetzt.

Dieser Artikel von 'Contre Attaque' schildert die dystopischen Zustände, die in einigen Zonen von Paris während der ziemlich exklusiven "Spiele" herrschen. Dort ist das Bewegen und Aufhalten im vormals öffentlich Raum für die meisten Menschen nur mit dem Vorweisen eines QR-Codes möglich. Menschen werden biometrisch überwacht, unter Hausarrest gestellt oder, wenn sie kein Zuhause haben, auch aus Paris heraus verschleppt.

"Sicherlich waren die von der chinesischen Diktatur 2008 organisierten Olympischen Spiele und die von Rio 2016, wo die Polizei in den Favelas tötete, kein Spaß. Aber es ist vielleicht das erste Mal in der Geschichte, dass eine Metropole über mehrere Kilometer und Tage im Voraus geleert wird und dass derart drastische, ausgeklügelte und systematische Systeme der Kontrolle, Überwachung und Einschränkung der Freiheiten eingesetzt werden."

Artikel auf französisch via @contreattaque

Eine deutschsprachige Übersetzung via @Sofie_unlabeled

Siehe auch: Kontroversen und Vorfälle, Eintrag bei WikiPedia

Text: Autonomie & Solidarität

Eine Perle des Arbeiterkinos: Der Jobkiller

Frank, 22 Jahre und Student an einer großen Pariser Handelsschule, wird als Praktikant im Vorstand des Unternehmens eingestellt, in dem sein Vater als kleiner Arbeiter seit dreißig Jahren an der Maschine steht. Seine Aufgabe: die Einführung der 35-Stunden-Woche. Schnell gerät Frank zwischen die Fronten ...

Vor 80 Jahren: Beginn des Warschauer Aufstandes

"Am 1. August 1944 begann in Warschau der Aufstand polnischer Partisanen gegen die deutsche Besatzung. Dabei handelte es sich um keine Konfrontation nur zweier Parteien. Zwar wurden die Kämpfe hauptsächlich zwischen den faschistischen Truppen und der stärksten Gruppe der Untergrundkämpfer ausgefochten, nämlich der nationalistischen Armia Krajowa, der Heimatarmee, die der polnischen Exilregierung in London unterstellt war. Wichtiger Faktor war jedoch auch die Sowjetunion, deren Truppen begonnen hatten, Polen von der Besatzung zu befreien. In deren Lager gehörten auch das am 22. Juli unter maßgeblicher kommunistischer Beteiligung gegründete Lubliner Komitee, das auf ein sozialistisches Nachkriegspolen hinarbeitete, und als sein militärischer Arm die Armia Ludowa, die Volksarmee. Zu nennen sind ferner die Westalliierten USA und Großbritannien, ideologisch der Exilregierung verbunden, doch durch den deutschen Faschismus in ein Bündnis mit der Sowjetunion gezwungen, das sie trotz aller Gegensätze noch halten wollten. (...)" Quelle: junge Welt, 1. August 2024

Wir zeigen aus dem Anlass den Film "Kanal" von Andrzej Wajda aus dem Jahr 1957. Er wurde im Jahr seines Erscheinens mit dem Spezialpreis der Jury beim Filmfestival in Cannes ausgezeichnet.


„Gezwungen, das Richtige so zu tun, dass es falsch aussieht“

Das Foto zeigt das Buchcover mit Titel und HerausgeberInnen vor dem Hintergrund eines zerstörten Gebäudes
© Sebastian Schröder
Anfang dieses Jahres erschien in der Edition Tiamat der Sammelband „Nach dem 7. Oktober - Essays über das genozidale Massaker und seine Folgen“, herausgeben von Tania Martini und Klaus Bittermann. Es war das erste im deutschsprachigen Raum erschienene Buch, das den 7. Oktober zum Thema hat. Aber wer nach Informationen und Analysen sucht - in diesem Buch findet mensch sie nicht.

Adressiert ist das Buch an die linke Öffentlichkeit in Deutschland. Die vielen linken Organisationen und Menschen in Deutschland, die verschämt oder passiv-aggressiv schweigen oder die sogar die israelische Politik rechtfertigen, sollen durch das Buch genau darin bestätigt und bestärkt werden.

Nach rechtsstaatlichen Maßstäben hätten die Verbrechen vom 7. Oktober durch ein unvoreingenommenes Justizsystem untersucht und dann über die Täter*innen und die Verantwortlichen geurteilt werden müssen. In einem zweiten Schritt hätten die Ursachen - die systematische Ungleichheit und die historische Ungerechtigkeit - verhandelt und im Kompromiss überwunden werden müssen. Nur dieser Prozess der Versöhnung kann den Konflikt lösen.

Stattdessen sieht die ganze Welt in Gaza in allen Einzelheiten ein außergewöhnliches Kriegsverbrechen, das in Heftigkeit, Ausmaß und Dauer so zuletzt im Zweiten Weltkrieg - bei der Belagerung von Leningrad 1941-44 - verübt wurde. Blockade, Bombardierung, Vertreibung, Verschleppung und Ermordung, Zerstörung ganzer Stadtteile und jeglicher Infrastruktur charakterisieren das Vorgehen der israelischen Armee. Es sind unzählige rassistische und gewalttätige Erklärungen höchster Politiker*innen und Militärs belegt, ebenso ist die vollkommen entgrenzte Kriegsführung der israelischen Armee dokumentiert.

„Nach dem 7. Oktober“ bietet keine Analysen zum Verständnis der Ereignisse, sondern ausschließlich eine radikal pro-israelische Position, die der Rechtfertigung von Unverhältnismäßigkeit und Entmenschlichung dient, wie im Folgenden dargelegt werden soll.

Nur vier der Texte wurden für das Buch geschrieben, alle anderen Beiträge sind ursprünglich Veröffentlichungen in der deutschen Presse aus dem Zeitraum von Oktober bis Dezember 2023. „Sie bezeugen einen bestimmten historischen Moment“, so Martini und Bittermann Und vor allen Dingen zeigen sie einen einseitigen Standpunkt.

Die zentralen Argumente werden von Martini und Bittermann im Vorwort knapp formuliert. Indem der 7. Oktober als „genozidales Massaker“ gelabelt wird, soll es als heutige Verlängerung des historischen Judenmordes des deutschen Faschismus gesehen werden. Das „Charakteristische der Shoah“ sei der „Antisemitismus und das Totale der Tat“. Die Herausgeber*innen sehen deshalb den „Zionismus als legitimes Projekt einer verfolgten und versprengten Minderheit“. Diese Position ist zentral für die Rechtfertigung der israelischen Politik gegenüber den Palästinenser*innen.

Der Gegner ist die postkoloniale Theorie, die nach Meinung der Herausgeber*innen die Delegitimierung des Staates Israel zum Ziel hat. Denn durch Kritik an Unrecht und Ungerechtigkeit wird die herausragende Bedeutung des Staates Israel als Folge von einzigartiger Verfolgung und Ermordung relativiert. „Israel […] als siedlerkolonialistischen Staat zu beschreiben, der Rassismus, gar Apartheid praktiziere und schlimmer noch, sich eines Genozids an den Palästinensern schuldig mache, soll diesen Staat delegitimieren.“ Im Kontext der anderen Thesen von Martini/Bittermann ist klar, dass jede kritische Äußerung als substantielle Gefährdung des Staates Israel, und damit des Staates der Überlebenden der Shoa, gelesen werden soll. Israelkritik und Antisemitismus werden gleichgesetzt. Auf die analytische Kategorie „siedlerkolonialistischer Staat“ wird nichts weiter entgegnet, auch nicht auf die Vorwürfe von systemischem Rassismus.

Während also der israelische Staat „als sichere Heimstätte und Resultat aus der von Diskriminierung, Verfolgung und Mord geprägten Geschichte der Juden und Jüdinnen“ gesehen wird, seien die Taten des 7. Oktober „unbeschreibbar“: „Das Morden der Hamas war derart hassvoll, sadistisch und entmenschlichend, dass die richtigen Worte fehlen, um zu beschreiben, was geschehen war.“

Israel ist das Opfer der Hamas, die „das Töten aller Juden“ zum Ziel hat. Obwohl die Hamas „seit 2007 die Palästinenser regelrecht enteignet und unterdrückt hat“ - was immer das auch genau heißen mag - werden jetzt Hamas und Gaza von Martini/Bittermann gleichgesetzt. „Dieses Massaker war lange und im Detail geplant - mit immens viel Geld und einer ungeahnt perfekten Infrastruktur in Gaza im Rücken.“ Nach dieser Argumentationskette sind alle Taten der israelischen Armee - obwohl Martini/Bittermann zugeben, dass die „Folgen der Bombardierung […] fürchterlich“ sind - gerechtfertigt: „Dennoch ist die Zerstörung der terroristischen Infrastruktur und der Hamas alternativlos.“ Stützen wollen die Autorinnen ihre kollektive Dämonisierung der Palästinenser*innen mit den Ergebnissen einer Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung, nach der die Mehrheit der befragten Palästinenser*innen die Taten des 7. Oktobers gutheiße.

Nicht nur werden Hamas und Gaza gleichgesetzt, sondern die Kritik an der israelischen Regierung wird pauschal mit dem Antisemitismus-Verdacht belegt: „Andere […] betrieben eine perfide Täter-Opfer-Umkehr. Weltweit kam es zu antisemitischen Äußerungen und Übergriffen.“ Damit die klassische Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus diffamierend wirken kann, müssen die Autor*innen unkonkret bleiben. „Oft wurden Plakate, die ihre Gesichter [der israelischen Geiseln] zeigten und in vielen Metropolen plakatiert waren, um an sie zu erinnern, heruntergerissen.“

Dass die israelische Regierung rechtsradikal ist, kann von den Autor*innen nicht ignoriert werden. Im Gegensatz zur „rechtsextremen Hamas“ gibt es in Israel anscheinend aber nur zwei Faschisten, und deren Agieren ist dysfunktional: „Ein Finanzminister Bezalel Smotrich oder ein Itamar Ben-Gvir […] sind längst auch ein Risiko für Israels innere Sicherheit.“ Die völkerrechtswidrige Besatzung oder die Einteilung der Menschen anhand ethnischer Kriterien werden nicht angesprochen. Stattdessen werden der israelische Staat und die israelische Gesellschaft als vorbildlich demokratisch beschrieben. Mit dem Verzicht auf die reaktionäre Justizreform und dem Erhalt der Rolle des Obersten Gerichts, mit dem Einsetzen einer Kommission zur Untersuchung der Fehler der Armee und mit einer Meinungsumfrage, in der dem Rücktritt von Netanjahu - nach Kriegsende - mehrheitlich zugestimmt wird, beweist sich nach Martini/Bittermann Israel als zivilisiertes Ganzes, das unter den Fehlern von Netanjahus Regierung leidet.

Sie rekurrieren auf das Bild von Israel als der einzigen Demokratie im Nahen Osten; so wollen sie davon ablenken, dass die Mehrheit der Bürger*innen rechts bis rechtsaußen gewählt hat, dass die Mehrheit der jüdisch-israelischen Bevölkerung rechts ist. Israel ist nicht nur das Opfer der Hamas, sondern auch der feindlichen arabischen Nachbarländer: „Dem Beschuss aus Gaza folgten Raketen aus Jemen und Libanon. Israel blieb keine Zeit für Trauer.“

Diese Thesen - israelische Harmlosigkeit gegen palästinensisch-arabische Totalaggression - sind der Grundkonsens aller Beiträge des Buches. Viele Artikel sind nicht der Rede wert; aus einigen Beiträgen sollen aber exemplarische Passagen zitiert werden.

Der Artikel „Wir, die Linken? Nicht mehr!“ der französischen Soziologin Eva Illouz gehört zu den bekanntesten Texten in der Diskussion in Deutschland, auch weil die Süddeutsche Zeitung auf eine Bezahlschranke verzichtet. Die linksliberale Intellektuelle beruft sich als Einzige auf rechtliche Kategorien: „Moralisches Empfinden, bürgerliches Recht und internationales Recht machen eine klare Unterscheidung zwischen verschiedenen Tötungsarten. Kollateralschäden […] unterscheiden sich moralisch und rechtlich von der Enthauptung von Kindern, weil ein anderes Maß an Absicht und direkter Verantwortung dahinter steht. Diese Unterscheidung zu leugnen, käme einer Leugnung der Voraussetzungen unseres Rechtssystems gleich.“ Da schon mit den ersten Erklärungen israelischer Politiker*innen und Generäle nach dem 7. Oktober offen der Bruch des Völkerrechts angekündigt wurde, richtet sich jede Forderung nach der Einhaltung internationalen Rechtes immer gegen Israel, das hat Eva Illouz wohl als eine von wenigen nicht erkannt. Und auch der Mythos der durch die Hamas enthaupteten Kinder wurde bekanntlich kurz nach dem 7. Oktober zweifelsfrei widerlegt. Trotzdem macht Illouz diese Lüge zu einem wichtigen Bild in ihrer Argumentation. Natürlich schweigt sie gleichzeitig zu den Fotos und Videos der durch israelische Bomben geköpften Kinder in Gaza.

Sie besteht auch darauf, dass es zwischen dem allgemeinen Konflikt zwischen Palästinenser*innen und Israelis einerseits und der Intention der Hamas andererseits keinen Zusammenhang gäbe: „Aber wir haben es hier mit mehreren […] Narrativen ohne feste oder ursächliche Verbindung zu tun.“ Sie sagt daraus folgernd: „[…] ich weigere [mich], das Leiden der Palästinenser am Verlust ihres Landes zu kontextualisieren. Wenn ich ihre Tragödie erfassen will, muss ich den Kontext ausblenden.“ Nicht verstehen wollen als Erkenntnismethode: So versucht sie, die israelische Regierung und Armee zu decken, und gleichzeitig das rechtswidrige und grausame Verbrechen an den palästinensischen Menschen zu relativieren.

Der Soziologe Armin Nassehi ist in der deutschen Öffentlichkeit als konservative Stimme sehr präsent. Bei ihm heißt es: Israel „kann nach dem Überfall der Hamas nur alles falsch machen. Die Hamas nicht zu zerstören, wäre eine Garantie für bereits angekündigte Wiederholungen des Überfalls. Es zu tun, erzeugt Bilder, die Israel ästhetisch in die Nähe eines Aggressors bringen. Die asymmetrische Kriegsführung der Hamas macht die eigene Bevölkerung nicht nur zur Geisel, sondern führt den Gegner als moralisches Monster vor. Die Kategorien verschwimmen, und das nicht, weil Israel prinzipiell etwas falsch machen würde, sondern weil es gezwungen wird, das Richtige so zu tun, dass es falsch aussieht.“ Offener kann die bedingungslose Unterstützung der israelischen Kriegsverbrechen nicht formuliert werden.

Seyla Benhabib, weltbekannte Politologin, Philosophin und Mitherausgeberin der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, fordert: „Es darf nicht zu einer zweiten Nakba kommen.“ Allerdings sind die von ihr geforderten Maßnahmen ja gerade zentrale Elemente der systematischen Vertreibung: „Der Waffenstillstand muss mit der sofortigen Evakuierung der Verwundeten, Alten und Jungen aus dem Gazastreifen einhergehen. […] Die Nachbarländer und die Gemeinden im Westjordanland sowie Jordanien und Ägypten und andere Länder müssen sich bereit erklären, palästinensische Flüchtlinge aufzunehmen, die den Kampfhandlungen entkommen wollen.“

Der Historiker Volker Weiß hat ein Standardwerk zur Neuen Rechten geschrieben. Er behauptet in „Nach dem 7. Oktober“: „Hinter einer pro-israelischen Fassade der Partei gibt es […] ganz andere Präferenzen.“ Die AfD, die im Bundestag 2019 den Anstoß für den berüchtigten Pro-Israel-Beschluss zu BDS (Boykott, Desinvestition, Sanktion) gegeben hat, ist „als Bollwerk gegen Antisemitismus […] unglaubwürdig.“ Das bürgerliche Pro-Israel-Lager möchte anscheinend nicht mit der AfD zusammen gesehen werden. Gewöhnlicher Rassismus darf bei Weiß auch nicht fehlen: Antisemitische Thesen „rufen im Netz begeisterte Reaktionen bei Nutzern mit türkischen und arabischen Namen hervor“.

Vier Beiträge wurden in „Nach dem 7. Oktober“ zum ersten Mal veröffentlicht. Zu Doron Rabinovici „Im Morgengrauen“ und Natan Snaider „Die Wunde Israel“ wird in Kürze ein eigener Artikel erscheinen, da dies die beiden programmatischen Texte des Buches sind.

Phillipp Lenhards nichtssagender Aufsatz „Worte finden“ folgt ganz der oben beschriebenen Argumentationskette. Neuartig ist allerdings seine These, die der Abwertung der Menschen mit palästinensischem Hintergrund in Deutschland dient: „Palästinenser stellen […] mit geschätzten 200.000 Personen […] eine vergleichsweise kleine Gruppe dar. […] Die Forderung, endlich den ‚migrantischen Stimmen‘ zuzuhören, diente also nicht selten dem Zweck, unter Verweis auf palästinensische Kronzeugen die deutsche Unterstützung Israels zu delegitimieren.“

Es folgen jetzt Zitate aus „Vom UN-Podium in den Gaza-Tunnel“ von Thomas von der Osten-Sacken und Oliver M. Piecha, eigens für das Buch „Nach dem 7. Oktober“ geschrieben:

„Da hocken sie nun im Dunklen der Tunnel von Gaza […] sie tragen ihr grünes Band um die Stirn und eine Balaclava macht sie gesichtslos. Bis sich irgendwo eine Falltür öffnet, der Himmel sichtbar wird und etwas Furchtbares auf die Welt losgelassen wird. Quälen, Töten, Vergewaltigen und Beutemachen: So verweist ihr Stammbaum doch eher auf die Orks, dieses Fußvolk des Bösen aus Tolkiens ‚Herr der Ringe‘. […] Es fällt schwer, solche Gestalten ob ihrer stumpfen, ungeheuren Brutalität nicht zu entmenschlichen.“

„Die hohe Kunst der Palästinenser bestand über Jahrzehnte im Sich-oben-Halten; möglichst ganz oben auf der Agenda, immer getrieben von der Angst, unter die Aufmerksamkeitsschwelle zu rutschen. ‚Palästina‘ wurde so zu einer extrem erfolgreichen Marke.“

„Wenn der Palästinenser nicht um Aufmerksamkeit heischt, ist er praktisch schon vergessen.“

„Der Palästinenser harrt als Ork im Tunnel oder liegt als Kind unter Haustrümmern begraben, ob Täter oder Opfer, er ist gesichtslos.“

„Wie ein Heer von Golems stehen sie [gemeint sind Pro-Palästina-Demonstrierende] plötzlich massenhaft herum, weil der Hass auf Israel einen Funken Lebendigkeit in ihnen erregt hat. Wirklich relevant ist dabei wohl einzig die Frage nach dem Identifikationsangebot ‚Palästina‘ als Ausdruck diverser Frustrationserfahrungen muslimisch geprägter Einwanderer.“

Wir fragen die anderen Autor*innen in „Nach dem 7. Oktober“: Macht es Ihnen nichts aus, im gleichen Buch wie Osten-Sacken/Pliecha zu veröffentlichen?

Wir fragen die Rezensent:innen des Buches „Nach dem 7. Oktober“: Warum haben Sie nicht auf die Aussagen von Osten-Sacken/Pliecha hingewiesen?!?

Dieses Buch unterstützt voll und ganz die brutale Vertreibung, Unterdrückung und Vernichtung des palästinensischen Volkes durch die israelische Politik. Nirgendwo Zweifel, nirgendwo Debatte - alle Autor*innen stehen felsenfest an der Seite des israelischen Staates. Ihre Beiträge erklären nichts und rechtfertigen alles.

Eine Rezension von Sebastian Schröder, Diplom-Soziologe

Erstveröffentlichung auf Die Freiheitsliebe.


k9 - combatiente zeigt geschichtsbewußt: „The Birth of a Nation - Aufstand zur Freiheit“

Der Flyer zum Film zeigt zeitgenössische Grafiiken wie den Titel des Films, Nat Turner mit einem Messer in der Hand, sowie Massenszenen aus dem Film und die Eckdaten zum Film selbst.Der Film zeigt die Geschichte des Sklavenanführers Nat Turner

Der Film durchläuft die Stationen eines Leidensweges: die Machtstrategien und die Herablassung der weißen Besitzerklasse, selbst in Momenten der Freundlichkeit; sowie die physischen, psychischen und nicht zuletzt sexuellen Demütigungen. Bis zum Punkt, an dem Nat Turner den Schritt zum handelnden Subjekt vollzog, anstatt Objekt weißer Kalküle und Aktionen zu bleiben.

Erzählt wird die wahre Geschichte von Nat Turner, einem gebildeten Sklaven und Prediger, angesiedelt im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika 30 Jahre vor Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs. Sein vom Bankrott bedrohter Besitzer Samuel Turner nimmt das Angebot an, Nats Fähigkeiten als Prediger einzusetzen, beruhigend auf rebellische Sklaven einzuwirken. Als Nat im Zuge seiner Tätigkeit Zeuge unzähliger Grausamkeiten wird - gegen ihn selbst, seine Frau Cherry und befreundete Sklaven, organisiert er einen Aufstand in der Hoffnung, sein Volk in die Freiheit zu führen.

Am 21. August 1831 begann der Aufstand - die „Turner-Rebellion“ — mit lediglich acht Männern, die ihre Sklavenhalter töteten. Doch die Aufständischen erhielten einerseits Zulauf durch freie Afroamerikaner, andererseits zogen die Rebellen von Farm zu Farm, töteten die Besitzer, befreiten die Sklaven, von denen sich wiederum weitere anschlossen — am Höhepunkt der Revolte leitete Nat Turner rund 70 Kämpfer. Die Bewaffnung war mäßig, die Männer gingen mit Messern und Äxten gegen die Unterdrücker vor, zumal die (wenigen) erbeuteten Gewehre zu viel Aufsehen erregt hätten. Auf diese Weise gelang es ihnen, mindestens 55 Weiße auszuschalten, hunderte Sklaven in Southampton County vorübergehend zu befreien. Der Aufstand von 1831 wurde so zu „einer Art Wendepunkt für die Sklaverei im Alten Süden“ Nat Turner, wurde ein Held für viele Afro-Amerikaner!

Produzent, Regisseur und Drehbuchautor des Films Nate Parker übernahm selbst die Rolle des Protagonisten Nat Turner und entwickelte das Drehbuch gemeinsam mit dem haitianischen Autor Jean McGianni Celestin.

Insgesamt hatte Parker sieben Jahre am Film und der Entwicklung des Drehbuchs gearbeitet, und nach mehreren gescheiterten Kreditverhandlungen selbst den größten Teil der Anfangsfinanzierung des Films übernommen, insgesamt 100.000 US-Dollar seines eigenen Geldes investiert.

Historischer Film von Nate Parker 2016 - 120 Minuten
Trailer

Sonntag 25. August 2024 - 19 Uhr

combatiente zeigt geschichtsbewußt: revolucion muß sein! filme aus aktivem widerstand & revolutionären kämpfen

kinzigstraße 9 + 10247 berlin + U5 samariterstraße + S frankfurter allee

Wie Israel seine Kriegsverbrechen in Gaza beschönigen will

Die israelische Armee nutzt den Anschein einer internen Rechenschaftspflicht, um Kritik von außen abzuwehren. Doch ihre Bilanz zeigt, wie wenig die Täter bestraft werden.

Palästinenser eilen zur Rettung von Verletzten unmittelbar nach einem israelischen Luftangriff auf das Haus der Familie Salah im Gebiet Al-Batn Al-Thameen in Khan Yunis, südlicher Gazastreifen, 7. Dezember 2023.
Palästinenser eilen zur Rettung von Verletzten unmittelbar nach einem israelischen Luftangriff auf das Haus der Familie Salah im Gebiet Al-Batn Al-Thameen in Khan Yunis, südlicher Gazastreifen, 7. Dezember 2023.
Foto © Mohammed Zaanoun
Das Ausmaß des Grauens, das Israel in den letzten neun Monaten in Gaza angerichtet hat, ist kaum zu fassen. Die Entscheidung der israelischen Armee, ihre Befugnisse zur Bombardierung nichtmilitärischer Ziele und zur Schädigung der Zivilbevölkerung von Beginn des Krieges an erheblich auszuweiten, hat zur Tötung von Zehntausenden von Palästinensern geführt und den Gazastreifen bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Die überlebende Bevölkerung ist infolge der vorsätzlichen israelischen Politik, die gegen das internationale Kriegsrecht verstößt, mit Massenhunger und Vertreibung konfrontiert.

Jeden Tag tauchen mehr und mehr entsetzliche Beweise auf, die offenlegen, was viele Israelis zu verdrängen versuchen. Der südafrikanische Fall, in dem Israel des Völkermords beschuldigt wird, wird vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) fortgesetzt. Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) hat Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beantragt. Eine Kommission des UN-Menschenrechtsrates hat festgestellt, dass israelische Sicherheitskräfte Verbrechen wie Hunger, Mord, vorsätzliche Schädigung von Zivilisten, Zwangsverschleppung, sexuelle Gewalt und Folter begangen haben. Selbst die Vereinigten Staaten, Israels engster Verbündeter, kamen zu dem Schluss, dass Israels Waffeneinsatz im Gazastreifen mit den Menschenrechten unvereinbar" ist.

Während sich diese Anschuldigungen häufen, beginnt Israel neben seiner laufenden Militärkampagne mit einer weiteren groß angelegten Operation: der größten Verbrechensvertuschung in der Geschichte des Landes.

Israelische Politiker und Diplomaten wiederholen bis zum Überdruss das altbekannte Mantra, Israels Armee sei die moralischste der Welt. Diese Behauptung stützt sich unter anderem auf die angeblich robusten Rechtsmechanismen des Militärs, die angeblich jeden Angriff genehmigen und Verdachtsfällen von Völkerrechtsverletzungen nachgehen. In ihren Argumenten vor dem IGH gegen den Vorwurf, Israel begehe Völkermord, lobte Israels Verteidigungsteam wiederholt diese Rechtsmechanismen: Selbst wenn israelische Soldaten Kriegsverbrechen begehen, so argumentierten die Anwälte, sei das System in der Lage, sie selbst zu untersuchen.

Trauernde werfen einen letzten Blick auf die Familie des Leiters des Gaza-Büros von Al-Jazeera, Wael Al-Dahdouh, im Krankenhaus der Al-Aqsa-Märtyrer in Deir Al-Balah, 26. Oktober 2023.
Trauernde werfen einen letzten Blick auf die Familie des Leiters des Gaza-Büros von Al-Jazeera, Wael Al-Dahdouh, im Krankenhaus der Al-Aqsa-Märtyrer in Deir Al-Balah, 26. Oktober 2023.
Foto © Mohammed Zaanoun
Ein neuer Bericht, den ich für die Menschenrechtsgruppe Yesh Din verfasst habe, zeigt jedoch, dass die Hauptaufgabe des israelischen militärischen Strafverfolgungssystems darin besteht, den Anschein einer internen Rechenschaftspflicht aufrechtzuerhalten, um sich vor externer Kritik zu schützen. Das Magazin +972 und der Guardian haben kürzlich aufgedeckt, dass israelische Geheimdienste die Aktivitäten des IStGH überwachen, zum Teil um festzustellen, welche Vorfälle an die Staatsanwaltschaft zur Untersuchung weitergeleitet werden; auf diese Weise könnte Israel rückwirkend Untersuchungen in denselben Fällen einleiten und dann das Mandat des IStGH unter Berufung auf den "Grundsatz der Komplementarität" ablehnen.

Illusion der Rechenschaftspflicht
Ende Mai gab Israels Militärgeneralanwältin (MAG), Yifat Tomer-Yerushalmi, bekannt, dass sie strafrechtliche Ermittlungen in mindestens 70 Fällen von mutmaßlichen Kriegsverbrechen im Gazastreifen angeordnet habe. Dies geschah, nachdem das Militär Hunderte von Vorfällen an den "Fact-Finding Assessment Mechanism" (FFAM) des Generalstabs verwiesen hatte, ein militärisches Gremium, das eine erste und schnelle Untersuchung mutmaßlicher Verstöße gegen das Völkerrecht durchführen soll, bevor das MAG entscheidet, ob eine strafrechtliche Untersuchung eingeleitet wird oder nicht.

Angeblich sind dies Zeichen für Israels Engagement für die Einhaltung der Kriegsgesetze. Eine Untersuchung der letzten zehn Jahre israelischer Angriffe auf den Gazastreifen - einschließlich der als "Protective Edge" bekannten Offensive 2014, der Unterdrückung des Großen Marsches der Rückkehr 2018/19 und der als "Guardian of the Walls" bekannten Operation 2021 - zeigt jedoch, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass Israel die Absicht hat, Kriegsverbrechen ordnungsgemäß zu untersuchen, zu bestrafen oder zu verhindern.

Verteidigungsminister Yoav Gallant mit Premierminister Netanjahu, US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, US-Militärchef CQ Brown und IDF-Chef Herzi Halevi in Tel Aviv, 18. Dezember 2023
Foto: U.S. Embassy Jerusalem, Lizenz: CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons, via Wikimedia Commons
Seit 2014 wurden Hunderte von Vorfällen, die den Verdacht auf Kriegsverbrechen aufkommen ließen, dem Militär zur Kenntnis gebracht. Die überwiegende Mehrheit davon wurde an das FFAM weitergeleitet, aber ohne strafrechtliche Ermittlungen eingestellt, nachdem sie von den Mitarbeitern des Mechanismus über unangemessen lange Zeiträume "überprüft" wurden. So wurden beispielsweise einige Fälle, die potenzielle Verstöße aus dem Jahr 2014 betrafen, vom FFAM noch im Jahr 2022 geprüft.

Die Arbeit des FFAM und die Zusammensetzung seiner Mitglieder sind nach wie vor vertraulich, so dass wir die Einzelheiten seines Prüfungsverfahrens oder die Gründe für die Einstellung von Fällen ohne Ermittlungen wahrscheinlich nie erfahren werden. Unabhängig davon, ob die FFAM Empfehlungen ausspricht oder nicht, wurden die meisten von der MAG eingeleiteten und von der Militärpolizei durchgeführten strafrechtlichen Ermittlungen eingestellt, ohne dass Soldaten oder Kommandeure angeklagt wurden.

Von fast 600 Vorfällen im Gazastreifen in den letzten 10 Jahren, bei denen der Verdacht auf Gesetzesverstöße bestand und deren Ergebnisse bekannt sind, führten nur drei Ermittlungen - eine pro Militäroffensive - zu einer Anklageerhebung. Selbst in diesen seltenen Fällen bleibt die Beschönigung zentraler Bestandteil der Taktik des Militärs, wobei die Täter einer harten Bestrafung entgehen.

Zum ständigen Versagen des Militärs im Umgang mit dem Verdacht auf Kriegsverbrechen kommt hinzu, dass sich das israelische Strafverfolgungssystem bis heute nicht mit der israelischen Politik der Gewaltanwendung befasst und es unterlassen hat, gegen Entscheidungsträger in Regierung und Militär zu ermitteln. Mit anderen Worten: Diejenigen, die direkt für die sich abzeichnende Katastrophe im Gazastreifen verantwortlich sind - die das Vorgehen der Armee gegen unschuldige Zivilisten ausgeweitet, Israels Richtlinien für die Bombardierung und das offene Feuer diktiert, die humanitäre Hilfe eingeschränkt und ganze Gebiete im Gazastreifen als Tötungszonen ausgewiesen haben - werden in Israel wahrscheinlich straffrei bleiben.

Dies ist zum Teil auf einen inhärenten Interessenkonflikt innerhalb des Strafverfolgungssystems zurückzuführen. Der Generalstaatsanwalt und der Generalstaatsanwalt des Militärs, die mit der Untersuchung und Verfolgung mutmaßlicher Verstöße gegen das Völkerrecht beauftragt sind, dienen auch als Rechtsberater für die Genehmigung der tödlichen Maßnahmen Israels in Gaza. Es ist schwer vorstellbar, wie eines dieser Gremien nun eine echte und gründliche Untersuchung einer Politik einleiten will, die sie selbst mitgestaltet haben.

Vermutlich werden einige der kürzlich eingeleiteten Untersuchungen zu Anklagen gegen untergeordnete Soldaten führen, die palästinensische Häuser geplündert oder palästinensische Gefangene misshandelt haben. Es ist jedoch zu bedenken, dass diese Fälle das Image der Armee verbessern könnten, indem sie nach außen hin den Anschein einer internen Rechenschaftspflicht erwecken.

Aber das sind nur die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. In den allermeisten Fällen wird das System dazu dienen, Kriegsverbrechen zu beschönigen. Und wenn es dies tut, sollten die israelischen Führer nicht überrascht sein, wenn sie als Angeklagte vor internationalen Gerichten landen.

Eine Version dieses Artikels wurde zuerst auf Hebräisch in Local Call veröffentlicht. Lesen Sie ihn hier.

Von Dan Owen 24. Juli 2024, Dan Owen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Yesh Din und Autor des Berichts "The General Staff Whitewashing Mechanism: Das israelische Strafverfolgungssystem und Verstöße gegen das Völkerrecht und Kriegsverbrechen in Gaza".

Quelle: +972mag

[Nicht authorisierte] Übersetzung: Thomas Trueten

Für palästinensische Eltern löst jeder Tag dieses Krieges existenzielle Ängste aus

In der Vernichtung des Gazastreifens sehen wir eine Vision unserer Zukunft als Palästinenser innerhalb Israels. Sollen wir uns an unser Land klammern oder für die Sicherheit unserer Kinder sorgen und das Land verlassen?

Meine 3-jährige Tochter spielt gerne das, was wir das "Kartoffelspiel" nennen. Sie sitzt in einer Decke, während ich sie hochhebe und schwinge und dabei rufe: "Fünf Kilo Kartoffeln! Fünf Kilo Kartoffel!" Heutzutage finde ich dieses Spiel erschreckend. Es erinnert mich an die Videos von Kindern im Gazastreifen, die die Leichenteile ihrer Geschwister in eine Decke einwickeln und sie so lange tragen, bis sie eine Beerdigung durchführen können. Vielleicht will ich meiner Tochter beweisen, wie stark ich bin, oder sie zum Lachen bringen, weil ich immer noch zustimme, dieses Spiel mit ihr zu spielen, wenn sie darum bittet. Aber ich verstehe, warum meine Frau versucht hat, uns das Spiel zu verbieten, wenn sie sieht, wie ich mich meinen Traumata ergebe.

Das Foto zeigt ein Flüchtlingslager im südlichen Gazastreifen. Kinder sitzen in einem aus Plastikplanen gebildeten Zelt vor einer Feuerstelle. Andere Menschen laufen umher.
Das Foto von © MohammedZaanoun / Activestills zeigt ein Flüchtlingslager Anfang Januar 2024 im südlichen Gazastreifen. Kinder sitzen in einem aus Plastikplanen gebildeten Zelt vor einer Feuerstelle. Andere Menschen laufen umher.
Für die Palästinenser in Gaza waren es mehr als neun Monate unerbittlicher Bombardierung. Für mich, einen Palästinenser in Israel, waren es mehr als neun Monate ständiger Angst um meine Tochter und ihre Zukunft. Ich bin gegenüber den schrecklichen Videos noch nicht unempfindlich geworden: Jedes Bild eines palästinensischen Vaters, der den leblosen Körper seines Kindes hält, erinnert mich an die Gefahr, der meine Tochter hier ausgesetzt ist. Wenn mich der Krieg etwas gelehrt hat, dann die traurige Wahrheit, dass das Leben unserer Kinder wertlos ist, nicht nur für die israelische Gesellschaft, sondern für die ganze Welt - eine Welt, in der sie unerwünscht sind, die sie nach ihrer Hautfarbe, Religion und Nationalität beurteilt und ihre Existenz als "demografisches Problem" betrachtet.

Wie egoistisch und unbeteiligt muss ich klingen, wenn ich unsere Situation mit dem Ausmaß der Katastrophe in Gaza vergleiche, wo die Eltern mit den schlimmsten Albträumen konfrontiert sind, die man sich vorstellen kann. Und wir Palästinenser in Israel und im besetzten Westjordanland sind nicht in Massen auf die Straße gegangen, um gegen die anhaltenden Massaker zu protestieren - sei es aus Angst vor Verfolgung oder einfach aus Lähmung. Dies ist ein Zeichen der Schande, mit dem wir leben müssen.

Ich kann mich nicht dazu durchringen, andere Palästinenser dafür zu kritisieren, dass sie in ihren Häusern bleiben, obwohl ich die Rücksichtslosigkeit des israelischen Militärs sehe und wie diese Kriegsverbrechen in den israelischen Medien gerechtfertigt werden. Als Eltern haben wir alle mit den gleichen existenziellen Ängsten zu kämpfen. Was wird mit meiner Tochter geschehen, wenn ich verhaftet werde? Was wird ihr durch den Kopf gehen, wenn sie sieht, wie die Polizei mich gewaltsam in Gewahrsam nimmt? Oder wenn wir von einem israelischen Mob körperlich angegriffen werden? Könnte ich die Vorstellung ertragen, dass sie zusieht, wie ich brutal gedemütigt werde, wie die unzähligen Väter in Gaza, die in israelischer Haft verhungern?

Für mich und meine Familie als Bewohner von Jaffa - der einzigen palästinensischen Gemeinde inmitten von etwa 4 Millionen Juden im Großraum Tel Aviv - stellt sich die Frage: Was werden sie mit uns machen? Vielleicht werden sie uns in ein Ghetto stecken, wie sie es nach 1948 getan haben? Vielleicht werden sich bewaffnete jüdische Gruppen organisieren, um uns zu schaden, wie sie es während der Einheitsintifada im Mai 2021 getan haben - und wie sie es jeden Tag im Westjordanland tun?

Nur drei Jahre nach dem Mai 2021 und seinen Folgen, als Palästinenser in Jaffa und anderen so genannten "gemischten Städten" Zeugen staatlicher Gewalt wurden, die sich mit der Gewalt des zionistischen Mobs synchronisierte, werden wir daran erinnert, wie hohl unsere Staatsbürgerschaft ist - besonders in Krisenzeiten.

Unser ständiges Dilemma
Meine Tochter liebt es, Videos auf YouTube anzusehen, aber als verantwortungsbewusste Eltern beschränken wir ihre Bildschirmzeit auf 15 Minuten pro Tag. Gelegentlich, wenn ich mit ihr zusammen sitze und sie anschaue, taucht erschreckende Werbung auf: staatliche Propaganda, die für den Krieg wirbt, oder Lieder, die zu mehr palästinensischem Blut aufrufen. Zum Glück versteht sie kein Hebräisch und kann nicht begreifen, wie gefährlich unsere Situation ist.

Jedes Mal, wenn wir mit ihr in die örtlichen Parks gehen, sehen wir jüdisch-israelische Eltern mit ihren Sturmgewehren - eine Mischung aus Soldaten, die nicht im Dienst sind, und normalen Bürgern, die von der Entscheidung des Ministers für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, profitiert haben, nach dem 7. Oktober mehr als 100.000 Waffenscheine zu verteilen. Ich kann nicht anders als zu denken: Welches Kriegsverbrechen haben diese Eltern während ihres Militärdienstes begangen, und ist es für uns sicher, in ihrer Nähe zu sein?

Auf TikTok sehen wir, wie unsere jüdisch-israelischen Nachbarn den Gazastreifen zerstören und die Palästinenser misshandeln und demütigen - ein Ausdruck des hemmungslosen Bösen, der in der israelischen Gesellschaft nicht einmal mit einem leisen Protest quittiert wird. So dystopisch es auch klingen mag, diese Bilder sind unsere Zukunft auf Film gebannt. Das wirft weitere Fragen auf: Wohin würden wir fliehen? Werden uns die arabischen Länder aufnehmen? Wird man uns humanitäre Hilfe schicken?

Ein Mann sitzt mit 12 Kindern vor einem Geburtstagskchen. Die Kinder sind mit Luftballons und spitzen Geburtstagshüten ausstaffiert
Im Krieg von 2021 feiert ein palästinensischer Mann den Geburtstag seines Sohnes über den Trümmern seines von israelischen Flugzeugen zerstörten Hauses.

Foto: © Mouhammed Zanoun
Jeden Tag stehen palästinensische Eltern vor diesem ständigen Dilemma: Halten wir an unserem Land fest oder sorgen wir für die Sicherheit unserer Kinder und verlassen es? Trotz unserer relativen Sicherheit sind auch wir Palästinenser innerhalb Israels verwundbar, da es keine Institution gibt, die uns schützt oder in unserem Namen auf internationaler Ebene spricht. Andererseits wird unser Leben sinnlos, wenn wir unser Land und unsere Gemeinschaft aufgeben.

Die Welt sympathisiert nur so lange mit den Palästinensern, wie sie in Palästina sind. Sobald wir das Land verlassen, werden wir zu einem Ärgernis - sei es als Flüchtlinge in arabischen Ländern, die uns als politische Bedrohung und Quelle der Instabilität betrachten, oder im Westen, dessen Regierungen sich weigern, unsere Menschlichkeit anzuerkennen. Würde meine Tochter es mir verübeln, wenn ich sie als Flüchtling in ein fremdes Land mitnehme?

Die Kriegsverbrechen und Massaker in Gaza haben die harte Realität enthüllt, wie gefährlich das Leben hier für alle Palästinenser ist, die der Willkür Israels ausgeliefert sind. Ich habe großen Respekt vor all denen, die sich trotz allem dafür entschieden haben, im Gazastreifen, im Westjordanland und in den Grenzen von 1948 zu bleiben, und mein Herz bricht für all die Eltern, die für diese Entscheidung einen hohen Preis bezahlt haben. Aber ich verstehe auch diejenigen, die alles getan haben, um ihre Kinder zu schützen, selbst um den Preis, dass sie zu Flüchtlingen wurden. Wir sind schließlich Menschen, die ihr Land und ihre Kinder zutiefst lieben.

Quelle: Von Abed Abou Shhadeh 15. Juli 2024 via +972mag

Abed Abou Shhadeh ist ein politischer Aktivist aus Jaffa. Er war von 2018 bis 2024 Vertreter der palästinensischen Gemeinde in Jaffa-Tel Aviv im Stadtrat und moderiert derzeit den Al-Midan (الميدان)-Podcast bei Arab48.
Übersetzung: Thomas Trueten

23. Jahrestag des Mordes an Carlo Giuliani: Was geschah wirklich am Piazza Alimonda - Quale verita' per piazza Alimonda?

Carlo Giuliani

Am 20. Juli 2001 starteten die Carabinieri und weitere Ordnungskräfte während der Demonstrationen gegen den G8 Gipfel in Genua 2001 eine Reihe von Attacken, die mit dem Angriff auf den genehmigten Demonstrationszug in der Via Tolemaide endeten Die letztere Attacke schnitt den 15.000 DemonstrantInnen jeden Fluchtweg ab. Dies war der Beginn der Ereignisse auf der Piazza Alimonda, die zum Mord an Carlo Giuliani führten und zum Beispiel auch in der Dokumentation "Gipfelstürmer - die blutigen Tage von Genua" behandelt werden. Offen sind immer noch folgende Fragen:

• Ist es möglich, dass ausgebildete Soldaten, auch wenn sie in Panik geraten sind, in das Gesicht eines Jungen zielen, der sich in 4 Metern Entfernung befindet, ihn danach zweimal überfahren und dann innerhalb von nur 7 Sekunden verschwinden?

• Kann ein Müllcontainer einen Defender blockieren?

• Warum greifen die Kollegen, die sich in einer Entfernung von etwa 20 Metern befinden, erst ein, nachdem sich die Tragödie bereits ereignet hat?

• Der Feuerlöscher: Waffe oder Schutzschild?

• Warum bleibt die Waffe auch als die Gefahr bereits vorbei war, auf die DemonstrantInnen gerichtet?

• Weshalb wurde der erste Schuss nicht in die Luft abgegeben?

• Warum tauchen erst nach 6 Monaten vorher verschwundene Patronenhülsen und Pistolen auf?

Giuliano Giuliani ist der Vater von Carlo. Er rekonstruiert in der Dokumentation die letzten Minuten des Geschehens und widerlegt die offizielle Darstellung der Staatsanwaltschaft anhand von Fotos und Videosequenzen, die in dem Ermittlungsverfahren gegen den vermeintlichen Schützen verwendet wurden. Das Verfahren wurde inzwischen eingestellt, der angebliche Todesschütze wegen Notwehr freigesprochen.

Der Film ist aber nicht nur der Versuch einer detaillierten Rekonstruktion der Todesumstände seines Sohnes. Er ist gleichzeitig eine Anklage gegen Polizei und Justiz, die mit allen Mitteln versucht haben, die Sicherheitskräfte von jeder Verantwortung für Carlos Tod freizusprechen.



Deutschsprachige Version:








cronjob