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Ein Reisebericht aus Nordirland

Anfang August 2013 macht sich eine Delegation von Info Nordirland auf dem Weg zum West Belfast Festival: auch dieses Jahr nehmen wir an Féile an Phobail, dem "Fest des Volkes", in West Belfast teil. "Wohin fährst Du dieses Jahr in den Urlaub? ... Nach Belfast??? .... 10 Tage???" Nun gut, wir haben nicht die ganze Zeit in Belfast verbracht, wir waren auch mal am Meer, in den Glens of Antrim, der wunderschönen Landschaft an der Küste nördlich von Belfast. Ausserdem haben wir South Armagh besucht, ein hügeliges Land wie aus dem irischen Sagenbuch. Das Foto zeigt unsere Delegation vor dem irischen Kulturzentrum in Mullaghbawn. Während des Konflikts war South Armagh eines der am höchsten militarisierten Gebiete Europas. "Bandit Country - Banditenland" nannten es die britischen Besatzer, "Gottes eigenes Land" ist es für die Einheimischen. Aber dazu später ... In Belfast haben wir jeden Tag genossen. Féile an Phobail, das West Belfast Festival, ist eine grandiose Mischung aus politischer Diskussion, gelebter Solidarität, Kontakten zu internationalen Gästen und Einheimischen, guter Musik und "Craig", das ist das irische Wort für Stimmung, gute Unterhaltung und gute Laune. Das Festivalprogramm findet mensch als PDF unter feilebelfast.com/feile-25/. Wir haben am Festival teilgenommen, aber auch Gespräche im kleinen Kreis organisiert. Dieses Jahr feierte Féile an Phobail seinen 25. Geburtstag. Es entstand 1988 in der Zeit des bewaffneten Nordirlandkonflikts, als der irisch-republikanische Teil West Belfasts - seit vielen Jahren eine Hochburg der linken, irisch-republikanischen Partei Sinn Féin - als "Terroristenviertel" diffamiert wurde. Das Festival sucht den offenen Austausch über politisch relevante internationale Themen. Dazu gehören auch die Kampagnen zur Aufarbeitung des Nordirlandkonflikts und die aktuelle Situation im Konfliktlösungsprozess, der bei weitem nicht abgeschlossen ist. Familien kämpfen seit Jahren um die Aufklärung der Morde an ihren Angehörigen. Sie stoßen dabei in vielen Fällen auf britisches Militär, auf Polizei und Geheimdienste als Täter oder Strippenzieher terroristischer Verbrechen. Die Spuren dieser unter dem Deckmantel des angeblichen Anti-Terrorkampfs begangen Verbrechen führen in hohe (ehemalige) Regierungskreise. Eine hochaktuelle Diskussion. Von einigen der Famililien, die auf Spurensuche gingen, von den "Elf von Ballymurphy" und den Angehörigen der im McGurk's Bar Massaker Ermordeten wird weiter unten noch zu berichten sein.

Drei kenianische Senioren erringen wichtigen Sieg über die britische Regierung 

Samstag, 3. August 2013: Großbritannien verliert im Jahr 2012 vor Gericht und muss zum ersten Mal systematische Folter während der Kolonialzeit in Kenia zugeben. Der Saal in der Universität St. Mary's war am Samstagmittag mit über 100 Leuten gesteckt voll. Der Londoner Menschenrechtsanwalt Dan Leader berichtet über den sensationellen Sieg der Zivilklage dreier kenianischer Folteropfer, alle heute hochbetagt, gegen die britische Regierung.  Anfänglich erschien die Klage völlig aussichtslos. 70.000 Kenianer vom Volk der Kikuyu hatte die britische Besatzungsmacht während des Aufstandes der Mau Mau 1952-60 gegen ihre Kolonialherrschaft interniert, viele von ihnen bestialisch gefoltert und misshandelt. Aber das sei doch so lange her, dass ein faires Verfahren gar nicht mehr möglich sei, argumentierte die britische Regierung, als die Klage auf den Tisch kam. Dann versuchte das britische Aussenministerium, die Verantwortung auf die kenianischen Kollaborateure zu schieben. Sie wäre mit ihrer Argumentation durchgekommen, hätte nicht das Anwaltsteam in umfangreichen Archivrecherchen eindeutige Beweise gefunden, dass der Befehl zu Folter und Grausamkeit von der britischen Regierung kam und durch britische Kolonialbeamte beaufsichtigt wurde. In 5200 Fällen musste Großbritannien schliesslich Folter zugeben, sich bei den Opfern entschuldigen und sie entschädigen, wenn auch nur mit einer symbolischen Summe von 3.000€ pro Person. Der Fall ist politisch brisant, weil er klasklar das andere Gesicht der westlichen "Demokratien" zeigt: die terroristische Fratze militärischer Okkupation, der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit völlig fremd sind. Und es ist beileibe nicht Geschichte. Das "Pat Finucane Centre für Menschenrechte und soziale Veränderung" aus Derry wird mit seiner Veranstaltung "Beaten ourselves up - wie sie uns zusammenschlugen" ein paar Tage später an den Vortrag anknüpfen.

CaraDillon & the Damien O'Kane Band

Samstag,3. August 2013, später Nachmittag: es ist das erste Mal, dass ein Musik-Event des Féile an Phobail vor dem pompösen Belfaster Rathaus stattfindet. Irisch traditional music. Das Wetter hält nicht ganz bis zum Schluss. Aber das ist irgendwie ja auch Irish traditional. Das Bild des Musik-Events ist viel mehr Symbol für das Belfast des Jahres 2013 als die Flaggenproteste wütender Ewiggestriger, die seit Monaten weltweit Schlagzeilen machen. Und doch hängt beides zusammen. Denn Nordirland ist nicht länger der "protestantische Staat für ein protestantisches Volk", als den ihn seine Gründungsväter planten (Gründungsmütter gab es übrigens nicht. In den erzkonservativen protestantischen Fabrikbesitzer - und Offizierscliquen des beginnenden 20. Jahrhunderts hatten Frauen in der Politik nichts verloren).  Den Nordirlandkonflikt verloren haben diejenigen, die die Ausgrenzung der irischen Bevölkerungshälfte und die alten Machtverhältnisse zementieren wollten. Der Prototyp hierfür sind die Oranierorden, die nach dem Prinzip "spalte und herrsche" einst protestantische irische Arbeiter auf irische Katholiken hetzten. Einige, speziell in Belfast, versuchen es heute noch. Die Proteste der letzten Monate wegen des Fehlen des Union Jacks auf dem Belfaster Rathaus und wegen einzelner verbotener Märsche waren von Oranierorden und pro-britischen Paramilitärs, teilweise unter Mitwirkung englischer Nazis der BNP organisiert. Aber sie stehen mit dem Rücken zur Wand und müssen immer öfter zusehen, wie der Druck auf "ihre" Polizei und "ihre" Behörden wächst, ihnen Grenzen aufzuzeigen. Im Jahr 1974 zu Beginn der Troubles war ihre Welt noch in Ordnung. Ein von den Hardlinern angeordneter "Generalstreik" fegte vorsichtige Reformen der eigenen Regierung hinweg, als "Streikposten" fungierten pro-britische Todesschwadronen. Mit dem Friedensabkommen von 1998 war der Konflikt nicht gelöst, aber ein Lösungsweg war gefunden und abgestimmt. Das Abkommen skizziert die Aufgabe einer demokratischen Umgestaltung Nordirlands. Dabei gibt es auch heute noch viele ungelöste Probleme. Eines der großen Themen ist die Aufarbeitung der Verbrechen, an denen der britische Staat und seine "Sicherheits"kräfte beteiligt waren. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Versöhnung der nordirischen Gesellschaft auf Basis von Dialog, Gleichberechtigung und Fairness.

Nur noch ab und zu auf dem Dach des Belfaster Rathauses

Ein solch versöhnlicher Kompromiss war von der Mehrheit der Parteien im Belfaster Rathaus im Streit um den bis dahin immerwehenden Union Jacks auf dem Rathausdach gefunden worden, erklärt uns Tierna Cunningham (Foto: zweite von links) von Sinn Féin, die von Juli 2012 bis Juni 2013 den Posten der stellvertretenden Belfaster Bürgermeisterin inne hatte, bei unserem Besuch am Dienstagmorgen. Das Friedensabkommen sieht eine Gleichberechtigung britischer und irischer Traditionen vor und deshalb beide Fahnen oder keine. Ihre Partei, die irisch republikanische Sinn Féin, einigte sich jedoch mit der sozialdemokratischen SDLP und der pro-britischen liberalen Alliance Party auf einen Kompromiss, nach dem der Union Jack nur noch an ausgewählten britischen Feiertagen wehen sollte.  Unter Beschwörung des Untergangs der britischen Kultur hatten pro-britische Hardliner Anfang des Jahres gegen diesen Kompromiss mobilisiert, die beiden großen pro-britischen Parteien Ulster Unionist Party (UUP) und Democratic Unionist Party (DUP) schürten aus parteipolitischem Interesse die Hysterie, es gab Todesdro-hungen gegen Repräsentanten der Alliance Party und einige ihrer Büros im unionistischen Ost Belfast gingen in Flammen auf. Gerade vor diesem Hintergund, erklärt Tierna, sei es sehr ermutigend gewesen, dass sie Einladungen verschiedener Organisationen aus Ost Belfast erhalten habe, die die Sinn Féin Bürgermeisterin kennenlernen wollten. Gute Gespräche seien das gewesen.

Irlandweite Demonstration zum Gedenken an die 1981er Hungerstreiks

  Sonntag, 4. August 2013: das 1981er Hungerstreik-Komitee und Sinn Féin haben wie jedes Jahr zu einer irlandweiten Demonstration im Gedenken an die 1981er Hungerstreiks aufgerufen. Zum ersten Mal fand die Gedenkdemonstration nicht in den "six counties", sondern in den 26 counties, südlich der inner-irischen Grenze in Monaghan statt. Tausende nahmen teil. "Six Counties (6 Grafschaften)" und "26 counties (26 Grafschaften)", so bezeichnen irisch-republikanische Aktivisten Nordirland, bzw. den Süden Irlands. Sie haben die von Großbritannien 1922 erzwungene Spaltung Irlands nie akzeptiert und arbeiten für eine Wie-dervereinigung Irlands. Die Gedenkfeiern erinnern an die zehn Gefangenen der Irish Republican Army (IRA) und der kleineren Irish National Liberation Army (INLA), die 1981 mit ihrem Hungerstreik unter Einsatz ihres Lebens gegen die Versuche der britischen Regierung unter Margaret Thatcher kämpften, die irisch-republikanischen politischen Gefangenen zu gewöhnlichen Kriminellen umzudeklarieren. In der Wahrnehmung der Welt sollte es sich nach dem Willen Thatchers in Nordirland nicht länger um einen politischen Konflikt handeln, sondern um den Kampf gegen eine kriminelle Organisation ohne Rückhalt in der Bevölkerung.  Die Unterstützung der Hungerstreiks von 1981 entwickelte sich jedoch zu einer irlandweiten Massenbewegung. Ein Beispiel hierfür ist der Bezirk Cavan/Monaghan. Die Menschen dieses Bezirks wählten Kieran Doherty, einen der zehn, die im Hungerstreik starben, während seines Hungerstreiks im nordirischen Gefängnis Long Kesh mit 9121 Stimmen zu ihrem Abgeordneten für das irische Parlament. Hauptredner der Demonstration war der Sinn Féin Abgeordnete (TD) Caoimhghín Ó Caoláin, der heute Cavan/Monaghan im irischen Parlament, dem Dáil, representiert, also den Sitz innehat, der im Jahr 1981 vom H-Blocks Kandidaten Kieran Doherty gewonnen wurde. Am Abschluss der Kundgebung wurde eine "Flamme der Freiheit" entzündet, die den irischen Freikeitskampf und seine Kontinuität symbolisiert. Auch wir von Info Nordirland nahmen an der Demonstration teil. Auf dem Bild mit altbewährter Unterstützung durch einige Hamburger St. Pauli Fans.

Die Kampagne zur Aufklärung des Massakers in McGurk's Bar

Montag, 5. August 2013: unter den vielen guten politischen Veranstaltungen des Tages war der Dokumentarfilm "McGurk's Bar Bombing - Loss of Innocence (Der Bombenanschlag auf McGurk's Bar - Verlust der Unschuld)" über den Anschlag auf Mc Gurk's Pub am Eindrucksvollsten. Das Foto zeigt die Wandmalerei an der Ecke von Great Georges Street in Belfast. Dieses Bild ist das einzige, was von McGurk's Bar noch übrig ist. 15 Besucher des Pubs wurden am frühen Abend des 4. Dezember 1971, einem Samstag, durch eine Bombe pro-britischer Paramilitärs ermordet, 16 weitere erlitten zum Teil schwere Verletzungen, das Pub wurde völlig zerstört. Die britische Regierung und die nordirische Polizei RUC (Royal Ulster Constabulary) begannen sofort nach dem Attentat eine Kampagne, mit der sie das Attentat als "IRA-Eigentor" darstellten und die Opfer zu Terroristen oder zumindest zu Symphatisanten erklärten. Zeugen wurden ignoriert, die Selbstbezichtigung eines der Täter stieß auf taube Ohren, Unterlagen verschwanden. Die Hinterbliebenen kämpfen um Aufklärung. Der Dokumentarfilm ist in englischer Sprache im Internet verfügbar. Wir wollen deutsche Untertitel erstellen. Wer dabei mithelfen kann/will: schickt uns bitte eine Nachricht an info[@]info-nordirland[.]de, wir freuen uns sehr über Unterstützung. Die Webseite der Kampagne der Angehörigen in englischer Sprache findet man unter mcgurksbar.com, auf Facebook heisst sie campaignfortruth.

Ardoyne Kickhams - Gaelic Athletic Club - irischer Sportverein

Der GAC pflegt die alten irischen Sportarten: Gaelic Football, Hurling und Camogie, das von Frauen gespielte Pendant zu Hurling. Favorit bei Kindern und Jugendlichen ist Gaelic Football. Kinder spielen in gemischten Teams, Mädchen und Jungs gemeinsam. Gaelic Football wird unglaublich schnell gespielt. Es ist eine Mischung zwischen Fußball und Handball, auch Körperkontakt ist erlaubt.

Das Bild zeigt ein Jugendmatch der Ardoyne Kickhams gegen einen Club aus West Belfast auf dem "Pitch", dem Sportplatz von Ardoyne.  Das Spiel findet zu Ehren von Seamus Morris und Peter Dolan statt. Seamus war 18 Jahre und ein aktiver Sportler des GAC, als er im Jahr 1988 von loyalistischen (pro-britischen) Todesschwadronen ermordet wurde. Peter Dolan wollte ihm zu Hilfe kommen und wurde ebenfalls ermordet. Die Gedenktafel erinnert an beide. In Ardoyne, einem kleinen irischen Stadtviertel in Nordbelfast, in dem gerade einmal 6.000 Menschen leben, verloren 99 Menschen während des Nordirlandkonflikts ihr Leben. Die überwiegende Mehrheit wurde von der britischen Armee und/oder loyalistischen Todesschwadronen ermordet, die in Nordbelfast regelmässig Jagd auf mutmassliche Katholiken und Bewohner irischer Viertel machten. Das Buch "Ardoyne - the untold Truth" erzählt die Geschichte aller 99 Opfer des Konflikts.

Für die Erwachsenen ist das zum Club gehörige Pub eines der öffentlichen Wohnzimmer von Ardoyne. Wir haben eine Reihe guter Freunde in Ardoyne und im GAC und haben Würstchen aus Deutschland mitgebracht, alle möglichen Sorten, und Senf für einen Grillabend im Freien. Das Wetter spielt mit und Jim kann im "Biergarten" des Pubs den Grill anwerfen.

Hooded - verhüllt - Folter in Nordirland 

Dienstag, 6. August 2013: Das Pat Finucane Centre greift das Thema der Folter im nordirischen Kontext auf. Denn nach Kenia führte die britische Kolonialmacht ihre Folterpraktiken weiter, in Malaysia, Aden, Zypern ... Im August 1969 erreichten diese Politik der gewaltsamen Befriedung Nordirland. Und sie ist noch nicht Geschichte. Das Pat Finucane Centre (PFC) erinnert an den Fall des Irakers Baha Mousa. Der unbeteiligte irakische Zivilist wurde von britischen Truppen zu Tode gefoltert. Aus aktuellem Anlass erinnern wir daran, dass das Eingreifen amerikanischer und britischer Truppen mit einem erlogenen und frei erfundenen Kriegsgrund begann, nach aussen hin aber im Namen des Kampfes für Demokratie und Menschenrechte geführt wurde. Zurück zu Nordirland im Jahr 1971. Die massiven Proteste der Bevölkerung - man könnte diese Bewegung als nordirischen Frühling bezeichnen - gegen die Entrechtung der irischen Bevölkerungshälfte, für Wohnung, Arbeit und Bürgerrechte, hatten 1969 begonnen und waren gewaltsam von der Straße geprügelt worden.  Im August 1971 griff die britische Regierung zum Mittel der Internierung, der willkürlichen Inhaftierung ohne Haftbefehl und ohne Gerichtsverfahren. Fast 2.000 Personen wurden interniert, darunter lediglich 107 Loyalisten. Sie waren "loyal" zur britischen Krone und deshalb Verbündete. 1874 Einwohner aus den irischen Vierteln Nordirlands wurden auf Grund vermuteter irisch-republikanischer Gesinnung weggesperrt, oft über viele Jahre. Für 14 dieser grundlos Verhafteten war eine spezielle Behandlung vorgesehen. Sie waren die "Hooded men - Kapuzenmänner", an denen das britische Militär moderne Foltermethoden ausprobieren wollte. Dem Pat Finucane Centre gelang es nach umfangreichen Recherchen, Licht in den Fall der "Hooded men" zu bringen. "Deep interrogation - intensive Befragung" nannte die britische Regierung die fünf Methoden Schlafentzug, Weißen Lärm, gegen die Wand stellen, Diät bestehend aus Wasser und Brot, sowie tagelanges Verhüllen des Gesichts. Archie Auld, Francie McGuigan, Liam Shannon und Kevin Hannaway, vier der ehemals Gefolterten, berichten auf der Veranstaltung, durch welche Hölle sie damals gingen. Sie erzählen, dass irgendwann ihr Glaube schwand, sie könnten am Leben bleiben. Großbritannien würde nicht zulassen, dass Folter mitten in Europa an die Öffentlichkeit dringt. Aber 14 Menschen in Nordirland einfach verschwinden zu lassen, ist auch nicht so einfach. Was den Ausschlag gab, wissen wir nicht. Aber Großbritannien entschied sich dafür, die Männer freizulassen und die anstehenden Klagen außergerichtlich zu lösen. Einer der Folteropfer berichtet, wie groß der Druck des Staates und auch seiner Anwälte war, der außergerichtlichen Lösung zuzustimmen. Sie alle kamen aus den irischen Arbeitervierteln und lebten in großer Armut. In einem Verfahren würden sie als Terroristen dargestellt, drohte man ihnen. Es würde sie und ihre Familie finanziell ruinieren. Dokumente, die das PFC recherchiert hat beweisen, dass die britische Regierung billig davonkam. Ihr für die Abfindungen für erlittene Folter bereitgestelltes Budget mussten sie nicht einmal ausschöpfen.

Unterwegs in South Armagh 

Mittwoch, 7. August 2013: wir verbringen den Tag in South Armagh. Während des bewaffneten Konflikts war South Armagh die am stärksten militarisierte Gegend Europas. Festungsähnlich ausgebaute britische Militärkasernen prägten das Bild. "Bandit Country", Banditenland, nannten es die Briten. "God's own country" die Einheimischen. Wir waren im irischen Kulturzentrum Ti Chulainn in Mullaghbawn mit Emma McArdle verabredet, einer der Organisatorinnen des selbstorganisierten Referendums für ein Vereinigtes Irland. Die Initiative "United Ireland, You Decide - A People's Referendum" ist basisdemokratisch organisiert. Sie will die Debatte um ein vereintes Irland in die Bevölkerung tragen und dafür werben, dass die Menschen vor Ort das Sagen haben, die Mobi-lisierung für ein vereinigtes Irland als ihre Aufgabe begreifen und selbst in die Hand nehmen. Emma, Meagan und Gilbert (siehe Foto oben, von links nach rechts) berichten von einer er-folgreichen Kampagne, die die Bevölkerung mit großem Interesse unterstützte. Ein guter Auftakt, auch in anderen Orten bilden sich entsprechende Initiativen.  Meagan wurde übrigens gerade erst als Abgeordnete für Sinn Féin ins nordirische Regionalparlament kooptiert. Sie ist mit 22 Jahren die jüngste Abgeordnete. Sie sieht sich aber nach wie vor als politische Aktivistin, die nun auch in den Institutionen präsent ist. Das Zentrum Ti Chulainn bietet auch Übernachtungsmöglichkeiten, mehrere Tage lohnen sich auf alle Fälle in dieser wunderschönen Gegend. Das Foto zeigt die republikanische Gedenkstätte bei Ti Chulainn für die in South Armagh gefallenen Freiwilligen der IRA. Danach treffen wir uns zu einer geführten Tour über den Widerstand gegen die britische Besatzung in South Armagh. Während des bewaffneten Konflikts war dieser so stark, dass die britische Armee ihre Militärfestun-gen in South Armagh nur aus der Luft versorgen konnte. Selbst das war nicht ungefährlich. Anschläge der IRA waren zahlreich. Schätzungsweise 200 britische Soldaten verloren ihr Leben. Auf der anderen Seite verloren nur vier IRA-Freiwillige der Region ihr Leben in unmittelbaren bewaffneten Auseinandersetzung mit der britischen Armee. Die IRA hatte die Unterstützung fast der gesamten Bevölkerung und besass dadurch ein einzigartiges Frühwarnsystem: Farmer, die Verdächtiges meldeten, Ladenbesitzer, die Augen und Ohren offen hielten und nicht zuletzt die vielen Unterstützer in der Bevölkerung, die ihre Häuser als sichere Quartiere zur Verfügung stellten.

Seit 1994 befand sich die IRA mit einer kurzen Unterbrechung im Waffenstillstand. Im August 2005 beendete sie ihren bewaffneten Kampf. Im Frühjahr 2006 baute die britische Armee fast alle Stützpunkte ab und zog sich vollständig aus South Armagh zurück. Die obigen Fotos sind nun glücklicherweise Geschichte.

Das Ballymurphy Massaker - Zeit für die Wahrheit 

Nur wenige Monate vor einem Massaker an 14 unbewaffneten Zivilisten in der nordirischen Stadt Derry im Januar 1972, das als Bloody Sunday weltweit bekannt wurde, tötete dasselbe britische Fallschirm-jägerregiment im Belfaster Stadtviertel Ballymurphy elf Menschen. In beiden Fällen machte ein schneller erster Untersuchungsbericht aus den Tötungen die "legitime Abwehr von Terroristen". Auch dieses Jahr nahm unsere Delegation an der Demonstration der Angehörigen des Ballymurphy Massakers um Aufklärung teil. Dazu existiert bereits ein Bericht auf unserer Webseite info-nordirland.de.

Das Zelt im Park 

Das Festzelt, in dem die großen Musikevents von Féile an Phobail stattfanden, war dieses Mal im Falls Park aufgebaut, einem großen Park mitten in West Belfast. Am Donnerstagabend war Irish Rebel Music angesagt, Lieder des irischen Freiheitskampfes. Als Vorband spielt Rebel Hearts, eine Band aus Limerick, und danach gleich zwei Hauptbands, die Wolfe Tones und Gary Og. Beide große Klasse. Die Wolfe Tones sind nicht mehr die Jüngsten. Seit 49 Jahren stehen sie auf der Bühne. Im Féile-Zelt waren es etwa 3.000 begeisterte Zuhörer und Mitsänger, uns eingeschlossen. "Uns", das war übrigens schon längst nicht mehr die ursprüngliche Delegation. Wir haben die Woche viel gemeinsam mit baskischen, italienischen und irischen Freundinnen und Freunden unternommen. Und es war auch schön, wie jedes Jahr gute Bekannte vom Troops Out Movement aus England wiederzusehen.  Auch Gary Og begeisterte mit seiner Band. Ihn konnten wir zweimal hören, weil er am Ende der Woche noch ein Konzert im "Felons" gab. Der "Felons" ist ein irisch-republikanischer Klub in West Belfast. Mitglied kann in ihm nur werden, wer aus politischen Gründen im Gefängnis saß. Nelson Mandela ist Ehrenmitglied. Am Freitag, den 9. August 2013 fand im Felons-Klub traditionell der "Prisoners Day" statt, mit dem sich der Klub an Féile an Phobail beteiligt.  Etwa 100.000 Jahre haben irisch-republikanische Aktivistinnen und Aktivisten im Gefängnis verbracht, verurteilt von Schnellgerichten oder aus politischen Gründen interniert. Der "Prisoners Day" lädt dieses Jahr ein zum gemeinsamen Feiern und zu einer Podiumsdiskussion ehemaliger Gefangener zur aktuellen politischen Situation.

Republican Youth 

Für Donnerstagmorgen, den 8. August 2013 hatten wir uns mit Eóin im irischen Kulturzentrum Culturlann verabreadet. Eóin, in der Mitte des Fotos, ist Mitglied im Mairéad Farrell Republican Youth Committee (Béal Feirste - Belfast). Republican Youth ist die Jugendorganisation von Sinn Féin. Auch in Irland ist es nicht einfach, Jugendliche für politisches Engagement zu begeistern. Aber mit ihrem Committee seien sie auf dem richtigen Weg und haben mittlerweile genügend Aktivistinnen und Aktivisten, um in Belfast sichtbar zu sein. Am G8-Protest hatten sie sich mit einem Protestcamp auf dem Platz der ehemaligen Andersonstown-Polizei- und Militärkaserne beteiligt. Über Jahrzehnte wurde aus dieser Kaserne mitten in West Belfast heraus die Bevölkerung mit modernster Überwachungselektronik ausspioniert. Ein symbolischer und passender Ort für den Protest. Neben traditionell irisch-republikanischen Aktivitäten bemüht sich Republican Youth auch, Diskussionen verschiedener Jugendgruppen um gesellschaftlich relevante Themen und gemeinsame Aktionen zu organisieren. Kein leichtes Unterfangen in einer gespaltenen Gesellschaft. Ein großes Thema (nicht nur) in Irland ist die hohe Selbstmordrate von Jugendlichen. Eóin erzählt von den Bemühungen, in Belfast eine gemeinsame Aufklärungskampagne aller verschiedenen Jugendorganisationen zustandezubringen. Ihm ist das Thema persönlich sehr wichtig und es schmerzt ihn sehr, dass der Versuch vorerst am plötzlichen Rückzug der pro-britischen Jugendorganisationen scheiterte. Das Problem der hohen Selbstmordraten ist nicht auf Belfast und Nordirland beschränkt, aber hier haben sich die ersten Selbsthilfegruppen gegründet und von hier aus versuchen viele Aktivistinnen und Aktivisten, die Diskussion darüber in der Gesellschaft zu tragen und auch Engagement der Regierungen einzufordern.

Am Ende Ska

Am Sonntag ging Féile an Phobail dann mit einer rauschenden Ska-Nacht zu Ende. Das Zelt war nicht ganz so gesteckt voll, wie ein paar Tage vorher bei den Wolfe Tones und Gary Og. Aber auch 2.000 Fans sorgen für eine Superstimmung mit den "Very Specials" und "The Beat".

Live Musik in den Pubs 

Live Music gabe es übrigens die ganze Woche in den verschiedenen Pubs auf der Falls Road und auch im Belfaster City Centre. Einen gemütlichen Abend mit traditioneller irischer Instumentalmusik verbrachten wir im Maddens. Zu unserer großen Freude spielte Bik McFarlane ein paar Mal in verschiedenen Pubs, in der Rock Bar, einem der ältestens Pubs Belfasts und im Felons . Seine CD "Something inside so strong", die er gemeinsam mit Terry O'Neill vor einigen Jahren aufgenommen hat, kann man im Sinn Féin bookshop online erwerben: sinnfeinbookshop.com Absolut empfehlenswert.



Quelle, mehr Fotos und weitere Informationen

3. Oktober: Ihre Einheit heißt Krise, Krieg und Armut!

Am 3. Oktober sollen in Stuttgart die offiziellen Feierlichkeiten zum sogenannten „Tag der Deutschen Einheit“ stattfinden. Unter dem Motto „Zusammen einzigartig“ werden eine halbe Million Besucher zu dem Spektakel erwartet. Mit Partymeile, Bürgerfest, Gottesdienst, Spiel- und Sportarena und staatsoffiziellem Festakt soll die aufwändige Inszenierung vor allem eines: Den kompromisslosen Siegeszug des deutschen Kapitals der letzten 23 Jahren in hellem Glanz präsentieren und als Wohltat für die gesamte Bevölkerung verkaufen.

Abgeschrieben: Der Bündnisaufruf gegen die "Feierlichkeiten":

Ihre Einheit heißt Krise, Krieg und Armut!
Gegen die Einheitsfeierlichkeiten am 3. Oktober in Stuttgart

Am 3. Oktober sollen in Stuttgart die offiziellen Feierlichkeiten zum sogenannten „Tag der Deutschen Einheit“ stattfinden. Unter dem Motto „Zusammen einzigartig“ werden eine halbe Million Besucher zu dem Spektakel erwartet. Mit Partymeile, Bürgerfest, Gottesdienst, Spiel- und Sportarena und staatsoffiziellem Festakt soll die aufwändige Inszenierung vor allem eines: Den kompromisslosen Siegeszug des deutschen Kapitals der letzten 23 Jahren in hellem Glanz präsentieren und als Wohltat für die gesamte Bevölkerung verkaufen. Mit unermüdlicher Hetze gegen die DDR als sozialistischen Staat, sollen gesellschaftliche Perspektiven jenseits des Kapitalismus zugleich diskreditiert und als „ewig gestrig“ abgestempelt werden. Im Spotlight der großen Show stehen reaktionäre Impulsgeber  wie Bundespräsident Gauck, der nicht nur den Rassismus eines Thilo Sarrazin für mutig befindet und den deutschen Kriegseinsatz in Afghanistan gerne fortsetzen möchte, sondern auch das Hartz4-Armutspaket als Muntermacher würdigt.

Was die Einverleibung der DDR und die 1990 angestoßene Entwicklungen für den größten Teil der Bevölkerung innerhalb der neugezogenen Grenzen der BRD tatsächlich bedeuteten, ist alles andere als ein Grund zu feiern. Massenarbeitslosigkeit, Armut, weitreichender staatlicher Sozialabbau, sinkende Reallöhne und prekäre Arbeitsverhältnisse. Das sind die Einschnitte, die für die kapitalistischen Interessen am „Standort Deutschland“ in den letzten Jahren in Kauf genommen werden sollten. Die Beteiligung der Bundeswehr an Kriegseinsätzen auf dem gesamten Globus zur Sicherung von Einflusssphären, Ressourcen und Absatzmärkten gehört ebenso zum „Deutschland-Komplettpaket“, wie eine passende ideologische Unterfütterung der kapitalistischen Mobilmachung: Schwarz-Rot-Goldener Einheitstaumel ist wieder voll im Trend und soll nicht nur bei Fußballspielen und an Feiertagen für ein nationales Gemeinschaftsgefühl sorgen, das weder Ausgebeutete noch Ausbeuter kennt und alle scheinbar an einem Strang ziehen lässt. Diejenigen, die nicht in dieses nationalistische Konzept passen, wie “unerwünschte” MigrantInnen, oder sozial Benachteiligte, haben dabei das Nachsehen. Rassistische und sozialdarwinistische Stimmungsmache und Gewalt, haben in den letzten 20 Jahren in Pogromen und Morden immer wieder traurige Höhepunkte erlebt.

Was ist Anfang der 90er Jahre also passiert? Mit dem Niedergang der DDR und den sozialistischen Staaten um die Sowjetunion, ist die große Systemkonkurrenz der westlichen kapitalistischen Staaten gefallen. Damit ist auch die hohe Messlatte verschwunden, die sozialistische Staaten wie die DDR in Sachen Sozialpolitik im Weltmaßstab gesetzt haben. Durch verstaatlichte Ressourcen und Märkte, sowie hohe Standards der sozialen Sicherung haben sie den globalen kapitalistischen Verwertungsdrang in einem gewissen Rahmen gehalten und das westliche Kapital zu Zugeständnissen an die lohnabhängige Bevölkerung gezwungen. Der Weg für Kürzungsorgien und den Rückbau von erkämpften Rechten der Lohnabhängigen in der BRD, wurde durch den sozialistischen Zusammenbruch wieder freigeräumt. Die Produktionsmittel der DDR gingen derweil entweder zu Ramschpreisen in kapitalistische Hände über, oder wurden schlichtweg brachgelegt, um westlichen Kapitalfraktionen keine neue Konkurrenz zu schaffen. Für die Lohnabhängigen blieb eine zerstörte wirtschaftliche Infrastruktur und soziale Perspektivlosigkeit zurück. Die neue Größe und das erhöhte wirtschaftliche Potenzial der neuen BRD brachten Großmachtbestrebungen der Herrschenden mit sich, die gerade heute in der autoritären deutschen Europapolitik wieder offen zu Tage treten.

Auch heute noch ist die DDR den Herrschenden ein Dorn im Auge. Anstatt einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Fehlern des Staates, werden Vergleiche zum menschenverachtenden deutschen Faschismus gezogen und Probleme wie staatliche Repression, einseitige Beteiligungsmöglichkeiten und Privilegien für die Oberschicht, die in kapitalistischen Staaten noch wesentlich ausgeprägter sind, groß skandalisiert. Dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Errungenschaften des sozialistisches Staates, wie die allgemeine Sicherung vor Armut, das Bildungssystem ohne strukturelle Benachteiligungen, oder die weitreichende Gleichberechtigung von Frauen, in der öffentlichen Auseinandersetzung zugleich konsequent ausgeblendet werden.

Wir werden am 3. Oktober auf die Straße gehen, um gegen die Glorifizierung des kapitalistischen Vormarsches in allen Bereichen der Gesellschaft zu protestieren. Die nationalistische Proklamierung von „Einheit“ und „Zusammenhalt“ kann einzig und allein denen nutzen, die von den immer schlechteren Lebens- und Arbeitsbedingungen der lohnabhängigen Masse der Bevölkerung profitieren. Ob die vermeintliche Zusammengehörigkeit in rassistischer Manier durch Abgrenzung und Diffamierung von Anderen, oder ganz modern als „multikulturelles Teamwork“ für den deutschen Standort, präsentiert wird, spielt letztendlich keine Rolle – wir lassen uns davon nicht täuschen! Im Kampf um eine solidarische und gerechte Gesellschaft lassen wir uns weder entlang unserer Herkunft und Kultur spalten, noch vergessen wir den Unterschied zwischen der profitablen Aneignung und dem erzwungenem Verkauf von Arbeitskraft. Unsere eigentlichen Gemeinsamkeiten kann kein Nationalstaat präsentieren. Sie stecken vielmehr in dem Interesse, eine befreite Gesellschaft aufzubauen. Eine Gesellschaft, in der wir gemeinsam und ausgehend von den vorhandenen Möglichkeiten und Bedürfnissen der Menschen, über die Produktion und Verteilung von Gütern und den Aufbau des sozialen Gefüges entscheiden.

Mit einer lautstarken antikapitalistischen Demonstration und kreativen Störaktionen während den Feierlichkeiten zum 3. Oktober werden wir deutlich machen, dass wir die unaufhaltsam anwachsenden Missstände in der Gesellschaft nicht einfach hinnehmen. Daran ändern auch inszenierte Jubelorgien nichts.

Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte!
Für eine antikapitalistische Perspektive!

Vom Bruderkuss zum Vernichtungswunsch - eine Woche

Karikatur: Carlos Latuff
Wenn es nach den Wünschen gewisser Hardliner in der ägyptischen Regierung geht, wird sich die Bewegung vom Bruderkuss zum Vernichtungswunsch ziemlich bald erfüllen. Hatte es nach dem Putsch noch lange geheißen, man strebe natürlich die Beteiligung der Muslim-Brüder an der Regierung an, heißt es jetzt auf einmal, eigentlich solle man doch die ganze Bewegung verbieten. Wie ist beides aus einem Munde zu vereinbaren?

Relativ einfach, wenn man annimmt, dass es in beiden Fällen sich um Unterwerfung handelt. Du sollst den Sturz des bisherigen Präsidenten anerkennen, dann kannst Du auch ein Pöstchen oder auch zwei am runden Tisch der Militär-Regierung erhalten. Schon immer mit dem Unterton: Jetzt aber Dalli. "Und willst Du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich Dir den Schädel ein". Nachdem die Islambrüder sich den Anmutungen nicht gebeugt haben, folgt ganz logisch der Wunsch nach Vernichtung.

Wir in der Bundesrepublik können die Erfolgsaussichten eines Totalverbots am leichtesten nachvollziehen. Immerhin hat unser Staat als einer der wenigen sich seinerzeit das Verbot der Kommunistischen Partei zu Herzen genommen - und in zahllosen kleineren Prozessen auch immer wieder durchgesetzt - bis zu den letzten Abklängen irgenwelcher kommunistischer Parolen auch immer neu verfolgt. Hat es etwas genützt?

Tatsächlich. Es ist gelungen, einen weitgehenden Antikommunismus im westdeutschen Volk so hochzutrimmen, dass in relativ kurzer Zeit kaum noch von kommunistischen Bewegungen die Rede war. Das hing allerdings auch mit der falschen Anbindung an das System der DDR zusammen. Dass ein Verbot gegen an die zwanzig Prozent der Muslimbrüder genau den Erfolg haben wird, ist stark zu bezweifeln. Nicht nur, weil der Islam als Ganzer einen Schleier ausbreiten wird, der die spezielle Unterart der Muslim-Brüder immer neu umfassen wird. Aber auch, weil die gereinigte Vorstellung vom Aufstand der Unterdrückten - und das ist ein Teil der Muslim  - Brüder zweifellos - sich gerade in Ägypten nicht einfach unterdrücken lässt. Hinzukommt, dass das gegenwärtige Militärregime sich jetzt schon nur mit letzter Kraft und entsprechenden Anleihen anderer reaktionärer Staaten aufrecht erhalten kann. Aber keineswegs die wirtschaftliche Not jemals beseitigen wird. Das heißt, dass auch dieser Putsch sich besonders schnell zu seinem Ende bewegen wird. Wenn die betrogenen Massen erst erkennen werden, dass das Militär weder in Chile noch in Ägypten eine Strukturreform auch nur geringsten Grades erreichen wird, werden sich viele die Augen reiben, die sich heute noch die Gurgel heiser schreien.

Dann wird sich die Muslim-Brüderschaft erneut aus der Grube erheben, in der Sisi und seine Kumpanen sie bis dahin beerdigt haben.

Warum jetzt den Brutalo raushängen, Herr Sisi?

Abd al-Fattah as-Sisi
Quelle: WikiPedia
Lizenz: Public Domain
Seit vielen Tagen hatte die ägyyptische Militärregierung beteuert, dass sie nur mit den gewöhnlichen Schikanen den Mursi-Anhängern das Leben schwer machen will. Natürlich: es war immer Gewalt im Sinne des Zugriffs auf den Körper der andern. Wasserentzug ist nicht besser als Verdurstenlassen. Aber die geplanten Maßnahmen konnten sich so eben an das -im Westen- übliche Maß an Repressionen anpassen.

Und nun der Schock! Noch offener in der brutalen Gewalt als die Räumung der Lager am frühen Morgen lässt sich kaum etwas vorstellen.Überall im Westen gequälte Aufschreie. Ordnung ja - aber doch nicht so fußtrittmäßig. So mörderisch.

Was kann der Grund für den Sinneswandel der Militärs gewesen sein?

Der eine lag wohl darin, den nichtmilitärischen Regierungsmitgliedern, die natürlich nie etwas zu melden hatten, die Sache trotzdem schmackhaft zu machen. Das scheiterte. Offenbar waren dem Vizepräsidenten El Baradey, der vor allem wegen der Wirtschaft das Militär unterstützt hatte, eben deshalb die Maßnahmen zu offenherzig. Man möchte schließlich vor der gesitteten Welt nicht als der Schlimmste dastehen. Als deshalb El Baradey zurücktrat, fiel diese Rücksicht weg.

Das kann aber nur die eine Begründung sein. Die andere hängt mit den ungeschmälerten Ruf eines seit langem Toten zusammen. Mit Nasser.

Er hatte in den fünfziger Jahren wirklich den ägyptischen Revolutionsanspruch entdeckt. Absage an alle. Vor allem an die Westmächte. England und Frankreich mit ihrem Suezkanal. Es war die Zeit, als die USA - man glaubt es kaum - in gewissem Umfang antikolonialistisch waren. Natürlich in dem Sinn, dass den ererbten Mächten Europas ihre Kolonien abgenommen werden sollten - zugunsten eines freieren und offeneren Zugangs zum universellen Wirtschaftskreislauf. Von daher kam es zum schon fast vergessenen Höhepunkt der US-Ägyptenbeziehung, als die USA mit der UDSSR zusammen sich sehr offenherzig gegen den England - Frankreich - Israel - Feldzug wandten. In dem die alten Kolonialmächte sich zur militärischen Rückeroberung der in den Suez-Kanal investierten Gelder aufmachten.

So jemand möchte General Sisi wohl wieder sein. Nur wird er damit schneller scheitern als mit allem anderen. Zwar ist sein Anti-Amerikanismus von manchen Patrioten wohlgelitten. Nur dass Sisi vergisst, dass heute die USA genau selbst die Position einnehmen, die sie seinerzeit an den europäischen Mächten verurteilten. Und dass, wenn die USA die eigenen Gesetze einmal ernst nähmen, die Milliarde Hilfsgelder sofort wegfallen müsste. Denn dass jetzt diese Militärregierung sich ganz offen des Putsches schuldig gemacht hat, lässt sich außerhalb des Weißen Hauses von niemand mehr bestreiten.

Dasselbe gilt für Ägyptens Verhältnis zu Israel. Nasser konnte damals eine Koalition gegen die "Usurpatoren" zusammenbekommen. Heute steht Israel als der Forderer da. Der Gläubiger. Kein Wunder, dass die alte Militärherrschaft unter Mubarak dort recht gern gesehen wurde. Wird das gegenüber der neuen unter Sisi ebenso sein, wenn dieser - wohl oder übel - sich noch so vorsichtig äußern möchte. Als Wohltäter der Hamas zum Beispiel. Von daher das brutale Auftreten. Es schärft die Schadenfreude vieler.

Das nur zwei kleine Beispiele. Insgesamt liegt dem Wunschtraum vom neuen Nasser einfach eine vollkomen falsche Einschätzung zugrunde. Was sich damals noch verteidigen ließ, ist heute Kleinholz geworden. Wenn Sisi diesen schönrednerischen Träumen folgt, wird er kurzfristig geringen Erfolg bekommen bei Teilen der Ägypter. Auf längere Zeit aber garantiert absaufen.

Wird ihm dann wenigstens jemand Asyl gewähren?

Was für ein Gezerfe um den Kantinen-Veggie-Day!

Quelle / mit freundlicher Genehmigung: vegancomics
Alles wird bemüht, von der Menschwerdung des Affen, die ohne Fleisch nie hätte standfinden können, über die "Unverschämtheit", die das Vorschreiben eines fleischlosen Gerichtes bedeute bis hin zu faschistischen Vergleichen eines einschlägigen FDP-Politikers, der offensichtlich eine Portion zuviel von was auch immer erwischt hat ...

Mal abgesehen davon, dass unsere Vorfahren kaum die Wahlmöglichkeiten der Nahrungsauswahl hatten wie der westliche Normalo heute, müssen VeganerInnen tagtäglich damit leben, dass in Kantinen in aller Regel außer Salat NIE AUCH NUR EIN KOMPLETTES GERICHT für sie erhältlich ist, was meines Wissens noch keinen Gemischtköstler zur Entrüstung veranlasst hat.

Trotzdem finde ich es auch völlig daneben, hier mit Vorschriften zu arbeiten. Das bringt nicht die Bohne Überzeugungskraft; und darum muss es doch gehen.

Und überhaupt: An solch hochkochende Emotionen kann ich mich zuletzt erinnern im Zusammenhang mit dem Rauchverbot in Kneipen. Wie sehr wünschte ich mir auch nur einen Bruchteil dieser Empörung und Anteilnahme im Zusammenhang mit der mittlerweile weltweit umfassenden Bespitzelung der Bevölkerung samt aller ekelhaften Konsequenzen ...

Ganz legal in Mafiamanier

Eurohawk
Foto: Rekke, via WikiPedia
Alles klar: Merkel garantiert de Maizière seine Fortexistenz. De Maiziére versichert seinen Staatssekretären den Weiterbestand im nächsten Jahr. Derweilst riesiger parlamentarischer Aufwand, um herauszukriegen, was war. Alles legal - alles egal. Es geht weiter wie immer.

Der Untersuchungsauschusss zu de Maizière ist ein Methodenbeispiel. Es wird bei einem fragwürdigen Verfahren nicht das Ganze der bedenklichen Sache untersucht. Allesr nur datenweise. Ab wann hat der Minister die bedenklichen Umstände erfahren? Mit dieser Methode ist das Verfahren schon abgestimmt. Es geht dann nur noch um das Wann und Wie. Die Gesamttatsache, dass mindestens eine halbe Milliarde in Sand gesetzt wurde, ist kaum noch eine Erwägung wert.

Insofern kann das liebe alte Spiel weitergeführt werden. Die Hauptsache bleibt unerwähnt. Dafür dürfen alle Abgeordneten sich die ausgeklügeltsten Anfragen ausdenken. Nur zu! Es schadet ja alles nichts. Der Laden läuft weiter.

Der Wind Sind Wir - Widerstand gegen einen Megawindpark in Mexiko

Der Istmo von Tehuantepec (Oaxaca, Mexiko) ist eine der windigsten Regionen der Welt. Seit 1994 werden dort deshalb zahlreiche Windparks errichtet. Während sie Entwicklung und Fortschritt versprechen, führen sie die ansässigen Gemeinden hinters Licht.

2012 spitzt sich einer der vielen Konflikte, der durch den Plan der Errichtung des Windparks San Dionisio del Mar hervorgerufen wird, zu. Mehrere Gemeinden verschiedener indigener Völker vereinen sich im Widerstand gegen dieses Megaprojekt.

Der Dokumentarfilm stützt sich auf die Realitäten und Meinungen der betroffenen Bewohner*innen und gibt denjenigen das Wort, die in den Massenmedien totgeschwiegen werden.

Gleichzeitig wird der Diskurs der „grünen Energie" und der „nachhaltigen Entwicklung" kritisch hinterfragt, um die Logik und Funktionsweise der Megaprojekte im Kontext des globalen Kapitalismus aufzuzeigen.

Kontakt: somosviento@riseup.net

Wer zahlt für die Lügen?

Angela Merkel
Bildquelle:
Armin Linnartz
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Zartfühlend gesagt: Merkel hat sich vor der Pressekonferenz nicht genug umgehört. Normal gesprochen: Sie hat uns alle eiskalt angelogen.

Die Frage bleibt: Wie redet sie sich jetzt noch raus? Die eisige Antwort: Überall werden die Leute angelogen, wenn es um die Geheimnisse geht. Das zieht. Aber nicht für immer. Es setzt einen Grad von nationalem Selbstbewusstsein voraus, den ganz Deutschland noch nicht innehat. Es gibt immer noch genug Leute, die ein flaues Gefühl unterdrücken müssen. Für die muss ein Strafgericht herfallen. Zu Gunsten der Chefin.

Als erster Sträfling wird wohl Pofalla erliegen. Wie kam er dazu, seiner Kanzlerin ein Geheimnis vorzuenthalten, das außer ihm mehrere tausend Staatsbeamte, aber auch Journalisten schmerzend verbargen. Kein einziger hat es gewagt, der Kanzlerin sein Wissen zu unterbreiten. Dafür muss Strafe sein. Also: Fällt Pofalla noch vor dem 22.September - oder erst gleich danach? Für jeden Fall: Auf unsere Chefin darf nichts kommen.

Ägypten: Putsch bleibt Putsch!

Mit zwei Maßnahmen zeigten die USA, wer die Macht hat. Weiterhin - und über alles Gerede weg. Einmal mit der Überflugssperre für ungefähr alle Gebiete, die der Präsident Morales überfliegen sollte. Weil er vielleicht den großen Sünder Snowden bei sich untergebracht hätte.

Der andere Schritt: Dem Militär Ägyptens wurde erlaubt, den gewählten Präsidenten Mursi abzusetzen. Zugleich mit der nur in europäischen Ohren schizophrenen Warnung: Kein Militärputsch! Sonst sofort eine Milliarde Dollars weg.

Die europäische Presse ist weitgehend beruhigt. Eingreifen des Militärs - jawohl! Wenn nur die Ruhe wieder einkehrt.

Die Wahrheit in Ehren: Es war ein Putsch. Nach allen Merkmalen. Das Militär rückt ein - setzt den legitimen Machthaber ab - und regiert selbst. Mit einem Pseudopräsidenten aus der Hinterhand. Die Feinheit dieses Mal: das Volk jubelte. Allerdings wie lange?

Das Malheur Mursis war schließlich: er litt unter der Devisenverknappung wie alle ringsum. Preiserhöhungen! Benzinknappheit! Keine Touristen! Nur - hat schon jemand von einem Militärregime gehört, das das besser machen konnte? Vor allem, wenn diesem Militärregime ca. 40 Prozent des Nationaleigentums gehören. Also wird es in weiteren zwei Jahren wieder zum gleichen Aufstand führen. Diesesmal wie das vorige - gegen die Militärs.

Was sagt das uns? Über alles Friedensgeschwätz hinaus gilt wie ehedem: Der Ami ist unser Feind. Nur nicht in den damals oft dümmlichen Formen: Jeder Amerikaner steht uns wesensbedingt entgegen. Richtig muss es heißen: Jeder US - Bürger, der sich den Maximen seiner Regierung unterwirft, ist zwangsläufig Gegner einer universellen demokratischen Regierung durch alle. In dieser Form freilich muss es Norm allen Verhaltens sein.

Eines Verhaltens, das die Verkettung mit dem Atlantismus jeder Art endlich abwirft. Wie schwer das unter den gegebenen Umständen auch fallen mag.

kritisch-lesen.de Nr. 29: Gesellschaft im Neoliberalismus

Nicht erst seit der „Krise“ geistert der Begriff des Neoliberalismus durch die Öffentlichkeit. Auch nicht eindeutig ist dabei, was er bezeichnen soll: eine wirtschaftswissenschaftliche Schule oder eine grundsätzliche kapitalistische Programmatik? So ist in hiesigen Wirtschaftslexika zu lesen, Neoliberalismus sei eine Richtung des Liberalismus, die eine freiheitliche Marktwirtschaft mit entsprechenden Gestaltungsmerkmalen – wie privates Eigentum an Produktionsmitteln und freie Preisbildung, Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit – anstrebe und staatliche Eingriffe minimieren möchte. Zunehmend wird der Begriff des Neoliberalismus als unbestimmter Kampfbegriff gebraucht, was im Endeffekt auch denjenigen das Wort redet, die die Zeit vor dem Neoliberalismus glorifizieren, in der der Kapitalismus scheinbar gezähmt war. Auch wenn solche eher konservativen sozialmarktwirtschaftlichen Positionen aus linker Perspektive viel zu kurz greifen, ist festzuhalten, dass der heutige Kapitalismus zumindest eine andere Form hat, als derjenige der 1950er Jahre. Dabei bedeutet Neoliberalismus nicht überall das gleiche: Die Folgen von Strukturanpassungsprogrammen im globalen Süden sind zum Beispiel andere als die der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen im globalen Norden. In dieser Ausgabe wollen wir uns den Auswirkungen der neoliberalen Ökonomisierung der Gesellschaft widmen und beziehen uns dabei zumeist auf Gesellschaften des globalen Nordens. Innerhalb linker Kritiken am Neoliberalismus stand in den letzten Jahren vor allem der Ab- beziehungsweise Umbau des Sozialstaats im Zentrum. Kritisiert wurden und werden eine zuvorderst auf Aktivierung setzende Arbeitsmarktpolitik, Deregulierungen und Privatisierungen, insbesondere die der öffentlichen Daseinsvorsorge. Daneben wurde in den letzten Jahren auch vermehrt der radikale Umbau der Gesellschaft entlang neoliberaler Kriterien in den Blick genommen und der Neoliberalismus als ein politisches Projekt des Kapitalismus gefasst. In dieser Ausgabe wollen wir uns einiger Facetten dieses neoliberalen Projekts widmen und eine vorläufige und unabgeschlossene Bestandsaufnahme aktueller und vergangener Analysen zum Neoliberalismus liefern und sowohl auf Formen der Unterdrückung und Ausbeutung eingehen als auch darauf, wie sich Neoliberalismus in den Alltag einschreibt und sich auch in Bereichen wie Psychologie oder in Liebesbeziehungen niederschlägt. Schließlich geht es uns auch darum, Perspektiven gegen den neoliberalen Kapitalismus zu diskutieren.

Den Anfang macht Patrick Schreiner, der in seiner Rezension „Neoliberalismus in Häppchenform“ resümiert, dass Norbert Nicoll in seinem Buch daran scheitert eine einführende Übersicht zu geben, da er etwa den Aspekt der programmatischen Ungleichheit vernachlässigt. In welcher Weise der neoliberale Kapitalismus Ausbeutungs- und Unterdrückungsstrukturen stützt, lässt sich exemplarisch an Kampagnen gegen Erwerbslose darstellen. Sebastian Friedrich hat dafür das viel beachtete Buch „Prolls“ des britischen Journalisten Owen Jones in Beziehung zu den deutschen Zuständen in Zeiten von Hartz IV und Debatten um die „Neue Unterschicht“ gesetzt. Demnach sei „Kein Ende der Klassengesellschaft“ in Sicht − im Gegenteil: Momentan finde nichts anderes als ein aggressiver Klassenkampf von oben statt. Auch die Rezension von Christian Baron widmet sich der Hetze gegen Sozialleistungsbezieher_innen. Das Buch „Schantall, tu ma die Omma winken“ von Kai Twilfer sei laut Baron ein als Satire getarntes „ideologisches Lehrstück“ für die diffamierende Debatte gegen Erwerbslose. Dass der neoliberale Kapitalismus keineswegs nur Auswirkungen auf Klassenunterdrückung hat, verdeutlicht Heinz-Jürgen Voß in seiner Rezension „Rassismus und Klassenverhältnisse“. Dafür hat Voß noch einmal das bereits 1990 in deutscher Sprache erschienene Buch „Rasse, Klasse, Nation“ von Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein gelesen. Den Zusammenhang von Kapitalismus und Geschlechterverhältnissen nimmt anschließend Rita Werth anhand des Buches „Aufstand in der Küche“ von Silvia Federici in „Reproduktionsverhältnisse, Küche und Kapitalismus“ unter die Lupe.

Den Anfang der Rezensionen, die die Wirkungen des neoliberalen Programms auf die Menschen fokussieren, macht Andrea Strübe. Anhand des Standardwerks „Das unternehmerische Selbst“ von Ulrich Bröckling zeigt Strübe auf, dass das „Unternehmen Ich“ als zentraler Aktivierungsimperativ alle Lebensbereiche durchdringt. Daran knüpft auch die Rezension von Johannes Lütkepohl an, der den Sammelband „Kreation und Depression“ bespricht, in dem der Zusammenhang zwischen Entfremdungskritik und neoliberalen Arbeitsverhältnissen untersucht wird. Mariana Schütt greift mit „Der Preis der Autonomie“ ebenfalls die Depressionen auf, die Menschen in der modernen Gesellschaft aufgrund der steten Überforderung erfahren. Anhand des Buches „Das Unbehagen der Gesellschaft“ von Alain Ehrenberg zeigt Schütt auf, wie insbesondere durch den Selbstverwirklichungszwang und die Selbstverantwortung psychische Leiden hervorgerufen werden. Verena Namberger widmet sich in ihrer Rezension „Die soziologische Alternative zum Beziehungsratgeber“ einer soziologischen Analyse von Eva Illouz, die erklärt „Warum Liebe weh tut“ und stellt dabei neoliberale Besonderheiten heraus. Um die „digitale Aufrüstung des Neoliberalismus“ geht es in Bernard Stieglers „Die Logik der Sorge“, das Adi Quarti für uns besprochen hat.

Schließlich schenken vier Rezensionen unterschiedlichen Perspektiven der Kritik am Neoliberalismus Aufmerksamkeit. Patrick Schreiner rezensiert „Die Inflationslüge“ von Mark Schieritz und verdeutlicht, wie die Angst vor Inflation als „Wegbereiter neoliberalen Denkens“ funktioniert. Zwar empfiehlt Schreiner das Buch, dennoch sei der Autor in Teilen dem neoliberalen Denken verhaftet. Aus dem kapitalistischen Denkrahmen kommt auch der im Zuge der letzten Jahre viel beachtete Ökonom Wolfgang Streeck nicht heraus, wie Ingo Stützle nach der Lektüre dessen Buches „Gekaufte Zeit“ konstatiert. Wie Stützle herausarbeitet, bleibt Streeck schließlich der Auffassung: „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“. Auf die Rolle der Gewerkschaften im neoliberalen Kapitalismus geht anschließend Christian Stache ein. In seiner Rezension zu Frank Deppes Buch „Gewerkschaften in der Großen Transformation“ zeichnet er die widersprüchliche Rolle der Gewerkschaften in Deutschland seit den 1970er Jahren nach. Abschließend widmet sich Martin Birkner dem aktuellen Buch „Demokratie!“ von Michael Hardt und Antonio Negri, in dem diese ihre bisherigen Arbeiten in den Kontext der aktuellen Krise stellen.

In den weiteren aktuellen Rezensionen widmen sich Mariana Schütt mit „Hexenverbrennung und die ursprüngliche Akkumulation“ und Hannah Schultes mit „Verborgene Spuren“ den Anfängen des Kapitalismus. In dem von Schütt rezensierten Buch von Silvia Federici geht es mit einem Fokus auf die historischen Hexenverbrennungen um die feministische Aufarbeitung und Ergänzung der Marxschen Geschichtsschreibung, in der von Schultes rezensierten Studie „Die vielköpfige Hydra“ um die Ausgrabung verschütteten Widerstands im Frühkapitalismus. Nicht ohne eigene Position zu beziehen, zeichnet Christian Stache in seiner Rezension „Der Wert der Natur“ des Buches „Marx und die Naturfrage“ den Streit zweier Ökomarxisten nach und konstatiert, dass es letztlich um die Wiederaneignung der Marxschen „Kritik der Politischen Ökonomie“ gehen muss, wenn das Ziel die Emanzipation von Mensch und Natur sein soll. Philippe Kellermann lobt in seiner Rezension „Zwischen Bohème und Revolution“ die „mit Sympathie geschriebene“ Engels-Biografie Tristram Hunts, kritisiert jedoch einige Weichzeichnungen in Bezug auf die historische Rolle Engels´. Wie sich in der Bildungsarbeit nicht-pathologisierend von Intergeschlechtlichkeit reden lässt, arbeitet Heinz-Jürgen Voß exemplarisch in seiner Rezension „Geschlechterreflektierte Bildungsarbeit – Thematisierung von Intergeschlechtlichkeit“ der aktuellen Broschüre von Dissens e.V. heraus und geht dabei sowohl auf gelungene als auch auf problematische pädagogische Aufbereitungen ein. Intergeschlechtlichkeit wiederum ist auch – aber nicht ausschließlich – Thema in dem in vieler Hinsicht außergewöhnlichen Sexualaufklärungsbuch „DAS machen?“, das Joke Janssen in „Eine andere Möglichkeit, über Sexualität zu sprechen“ für uns besprochen hat. Von Geschlecht im weiteren Sinne beziehungsweise seiner vermeintlichen Grenzen handelt im Anschluss daran Patrick Henzes (Patsy l'Amour laLove) Rezension „Grenzen von Geschlecht und Sexualität überwinden“, die das Buch „trans*_homo“ der gleichnamigen Berliner Ausstellung im Schwulen Museum* untersucht. Der (Bio-)Deutschen Sonntagabendlieblingsbeschäftigung widmet sich „Das Andere im Tatort“, dessen rassismuskritischen Ansatz Birgit Peter kritisiert. Was es mit dem Begriff Reenactment auf sich hat, rekonstruiert abschließend Dr. Daniele Daude aus theaterwissenschaftlicher Perspektive aus dem Sammelband „Theater als Zeitmaschine“.

Zur vollständigen Ausgabe

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