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Kriegsverbrechen in Beer Sheva: Rede zur Demonstration „Free Palestine“ in Wuppertal am 17. August 2024

Guten Tag,

Mein Name ist Sebastian Schröder und ich bin Vertreter in der Bezirksvertretung Elberfeld-West in Wuppertal für die Partei Die Linke.

Laut offiziellen Zahlen wurden mindestens 40.000 Menschen seit Oktober durch die israelische Armee getötet. Wissenschaftliche Artikel gehen von einer weitaus höheren Opferzahlen aus (The Lancet, Juli 2024).

In Deutschland wird jede Kritik an diesem Kriegsverbrechen häufig entweder mit Diffamierung oder mit Totschweigen beantwortet.

Luftbild von Be’er Scheva
Luftbild von Be’er Scheva
Quelle: Chumchum14, Lizenz: CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons
In Wuppertal herrscht Schweigen zu einem konkreten Kriegsverbrechen, verübt von Shimon Tobol. Er war bis zum 7. Oktober stellvertretender Bürgermeister der israelischen Grossstadt Beer Sheva.

Beer Sheva ist seit 1977 israelische Partnerstadt von Wuppertal. Es war die erste Städtepartnerschaft zwischen der Bundesrepublik und Israel.

Der israelische Botschafter Ron Prosper hat am 24. Mai 2024 Wuppertal besucht. Dieser Besuch fand ohne Ankündigung statt.

Wenige Tage zuvor hat die israelische Zeitung Haaretz und im Anschluss weitere Medien über die Verbrechen von Shimon Tobol berichtet, dem ehemaligen stellvertretenden Bürgermeister von Beer Sheva.

E hat als Soldat in Hebron und Umgebung von Oktober 2023 bis Januar 2024 menschenverachtende Fotos und Kommentare auf der Internetplatform X gepostet. Auf einigen Fotos zeigt sich Tobol mit Gefangenen, die verbundene Augen haben und gefesselt sind. Tobol selbst dokumentiert die Erniedrigung gefangener palästinensischer Männer durch Zurschaustellung und äussert rassistische Beschimpfungen.

Tobol rühmt sich am 9. November (!) 2023 der Beteiligung am Tod von Anas Nasser Muhammad Abu Atwan aus Dura. Es folgt seine Drohung, auch die Familie von Abu Atwan zu töten.

Tobol ist Mitglied eines Ablegers der Partei „Degel HaTorah“, einer ultraorthodoxen Partei aus dem konservativen Spektrum.

Er äussert in seinen Posts Vernichtungsphantasien, die er religiös begründet: Zur Rechtfertigung seines Verhaltens beruft er sich auf eine zentrale Geschichte in der hebräischen Bibel, auf „Amalek“ (vgl. Deborah Feldman: Judenfetisch, München 2023, 2-. Auflage, S. 154).

Die Geschichte ruft zur Vernichtung der Amalekiner auf, um das jüdische Volk vor diesen „Todfeinden“ zu retten. Nethanjahu hat in einer TV-Ansprache Ende Oktober darauf Bezug genommen und so bewusst einen Zusammenhang zwischen den Amalekinern und den palästinensischen Menschen in Gaza hergestellt. Diese Äusserung wurde in der Völkermord-Klage von Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof als Beispiel für genozidale Hassrede gegen die palästinensische Bevölkerung genannt.

Das zeigt: Dies ist kein Einzelfall, es sind unzählige Verbrechen der israelischen Armee vor und seit dem 7. Oktober dokumentiert, in Gaza und im Westjordanland.

Btselem hat ausführlich über das Lager Sde Teiman berichtet, über Todesfälle und systematische Folter. Tausende palästinensische Menschen befinden sich in unbefristeter Haft ohne Rechtsgrundlage. Diese sogenannte „Administrativhaft“ gibt es nur für palästinensische Menschen, nicht für Israelis.

Die Stadtverwaltung Beer Sheva schreibt auf Nachfrage von Haaretz zum Fall Tobol lediglich, dass Shimon Tobol zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Fotos nicht mehr für sie tätig war.

Die israelische Armee weist lediglich darauf hin, dass es aus Sicherheitsgründen verboten ist, Fotos von Gefangenen zu veröffentlichen. Seit Januar 2024 postet Shimon Tobol nicht mehr, aber was macht er heute?

Ist er immer noch Soldat in der israelischen Armee?

Droht er weiter mit Folter?

Verübt er weiter Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen?

Was ist aus den verhafteten Männern geworden?

Wo sind sie eingesperrt?

Gibt es gegen sie rechtstaatliche Verfahren oder sind sie in der rassistischen Administrativhaft?

Werden sie gefoltert?

Leben sie?

Wie geht es ihren Familien?

Wir fragen die lokalen Medien: Warum wurde in Wuppertal bisher nicht über den weltweit beachteten Fall Tobol berichtet ?!

Wir fragen die politischen Parteien hier in Wuppertal: Wie stehen sie dazu, dass ein hochrangiger Lokalpolitiker einer verpartnerten Stadt stolz seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit in aller Öffentlichkeit präsentiert ?!

Wir fragen die antifaschistische Zivilgesellschaft hier in Wuppertal: Wie könnt Ihr in Deutschland gegen die Rechten kämpfen und über die Gräueltaten der Rechten in Israel schweigen ?!

Wir verurteilen Euer Schweigen und Eure Doppelmoral!

„Gezwungen, das Richtige so zu tun, dass es falsch aussieht“

Das Foto zeigt das Buchcover mit Titel und HerausgeberInnen vor dem Hintergrund eines zerstörten Gebäudes
© Sebastian Schröder
Anfang dieses Jahres erschien in der Edition Tiamat der Sammelband „Nach dem 7. Oktober - Essays über das genozidale Massaker und seine Folgen“, herausgeben von Tania Martini und Klaus Bittermann. Es war das erste im deutschsprachigen Raum erschienene Buch, das den 7. Oktober zum Thema hat. Aber wer nach Informationen und Analysen sucht - in diesem Buch findet mensch sie nicht.

Adressiert ist das Buch an die linke Öffentlichkeit in Deutschland. Die vielen linken Organisationen und Menschen in Deutschland, die verschämt oder passiv-aggressiv schweigen oder die sogar die israelische Politik rechtfertigen, sollen durch das Buch genau darin bestätigt und bestärkt werden.

Nach rechtsstaatlichen Maßstäben hätten die Verbrechen vom 7. Oktober durch ein unvoreingenommenes Justizsystem untersucht und dann über die Täter*innen und die Verantwortlichen geurteilt werden müssen. In einem zweiten Schritt hätten die Ursachen - die systematische Ungleichheit und die historische Ungerechtigkeit - verhandelt und im Kompromiss überwunden werden müssen. Nur dieser Prozess der Versöhnung kann den Konflikt lösen.

Stattdessen sieht die ganze Welt in Gaza in allen Einzelheiten ein außergewöhnliches Kriegsverbrechen, das in Heftigkeit, Ausmaß und Dauer so zuletzt im Zweiten Weltkrieg - bei der Belagerung von Leningrad 1941-44 - verübt wurde. Blockade, Bombardierung, Vertreibung, Verschleppung und Ermordung, Zerstörung ganzer Stadtteile und jeglicher Infrastruktur charakterisieren das Vorgehen der israelischen Armee. Es sind unzählige rassistische und gewalttätige Erklärungen höchster Politiker*innen und Militärs belegt, ebenso ist die vollkommen entgrenzte Kriegsführung der israelischen Armee dokumentiert.

„Nach dem 7. Oktober“ bietet keine Analysen zum Verständnis der Ereignisse, sondern ausschließlich eine radikal pro-israelische Position, die der Rechtfertigung von Unverhältnismäßigkeit und Entmenschlichung dient, wie im Folgenden dargelegt werden soll.

Nur vier der Texte wurden für das Buch geschrieben, alle anderen Beiträge sind ursprünglich Veröffentlichungen in der deutschen Presse aus dem Zeitraum von Oktober bis Dezember 2023. „Sie bezeugen einen bestimmten historischen Moment“, so Martini und Bittermann Und vor allen Dingen zeigen sie einen einseitigen Standpunkt.

Die zentralen Argumente werden von Martini und Bittermann im Vorwort knapp formuliert. Indem der 7. Oktober als „genozidales Massaker“ gelabelt wird, soll es als heutige Verlängerung des historischen Judenmordes des deutschen Faschismus gesehen werden. Das „Charakteristische der Shoah“ sei der „Antisemitismus und das Totale der Tat“. Die Herausgeber*innen sehen deshalb den „Zionismus als legitimes Projekt einer verfolgten und versprengten Minderheit“. Diese Position ist zentral für die Rechtfertigung der israelischen Politik gegenüber den Palästinenser*innen.

Der Gegner ist die postkoloniale Theorie, die nach Meinung der Herausgeber*innen die Delegitimierung des Staates Israel zum Ziel hat. Denn durch Kritik an Unrecht und Ungerechtigkeit wird die herausragende Bedeutung des Staates Israel als Folge von einzigartiger Verfolgung und Ermordung relativiert. „Israel […] als siedlerkolonialistischen Staat zu beschreiben, der Rassismus, gar Apartheid praktiziere und schlimmer noch, sich eines Genozids an den Palästinensern schuldig mache, soll diesen Staat delegitimieren.“ Im Kontext der anderen Thesen von Martini/Bittermann ist klar, dass jede kritische Äußerung als substantielle Gefährdung des Staates Israel, und damit des Staates der Überlebenden der Shoa, gelesen werden soll. Israelkritik und Antisemitismus werden gleichgesetzt. Auf die analytische Kategorie „siedlerkolonialistischer Staat“ wird nichts weiter entgegnet, auch nicht auf die Vorwürfe von systemischem Rassismus.

Während also der israelische Staat „als sichere Heimstätte und Resultat aus der von Diskriminierung, Verfolgung und Mord geprägten Geschichte der Juden und Jüdinnen“ gesehen wird, seien die Taten des 7. Oktober „unbeschreibbar“: „Das Morden der Hamas war derart hassvoll, sadistisch und entmenschlichend, dass die richtigen Worte fehlen, um zu beschreiben, was geschehen war.“

Israel ist das Opfer der Hamas, die „das Töten aller Juden“ zum Ziel hat. Obwohl die Hamas „seit 2007 die Palästinenser regelrecht enteignet und unterdrückt hat“ - was immer das auch genau heißen mag - werden jetzt Hamas und Gaza von Martini/Bittermann gleichgesetzt. „Dieses Massaker war lange und im Detail geplant - mit immens viel Geld und einer ungeahnt perfekten Infrastruktur in Gaza im Rücken.“ Nach dieser Argumentationskette sind alle Taten der israelischen Armee - obwohl Martini/Bittermann zugeben, dass die „Folgen der Bombardierung […] fürchterlich“ sind - gerechtfertigt: „Dennoch ist die Zerstörung der terroristischen Infrastruktur und der Hamas alternativlos.“ Stützen wollen die Autorinnen ihre kollektive Dämonisierung der Palästinenser*innen mit den Ergebnissen einer Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung, nach der die Mehrheit der befragten Palästinenser*innen die Taten des 7. Oktobers gutheiße.

Nicht nur werden Hamas und Gaza gleichgesetzt, sondern die Kritik an der israelischen Regierung wird pauschal mit dem Antisemitismus-Verdacht belegt: „Andere […] betrieben eine perfide Täter-Opfer-Umkehr. Weltweit kam es zu antisemitischen Äußerungen und Übergriffen.“ Damit die klassische Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus diffamierend wirken kann, müssen die Autor*innen unkonkret bleiben. „Oft wurden Plakate, die ihre Gesichter [der israelischen Geiseln] zeigten und in vielen Metropolen plakatiert waren, um an sie zu erinnern, heruntergerissen.“

Dass die israelische Regierung rechtsradikal ist, kann von den Autor*innen nicht ignoriert werden. Im Gegensatz zur „rechtsextremen Hamas“ gibt es in Israel anscheinend aber nur zwei Faschisten, und deren Agieren ist dysfunktional: „Ein Finanzminister Bezalel Smotrich oder ein Itamar Ben-Gvir […] sind längst auch ein Risiko für Israels innere Sicherheit.“ Die völkerrechtswidrige Besatzung oder die Einteilung der Menschen anhand ethnischer Kriterien werden nicht angesprochen. Stattdessen werden der israelische Staat und die israelische Gesellschaft als vorbildlich demokratisch beschrieben. Mit dem Verzicht auf die reaktionäre Justizreform und dem Erhalt der Rolle des Obersten Gerichts, mit dem Einsetzen einer Kommission zur Untersuchung der Fehler der Armee und mit einer Meinungsumfrage, in der dem Rücktritt von Netanjahu - nach Kriegsende - mehrheitlich zugestimmt wird, beweist sich nach Martini/Bittermann Israel als zivilisiertes Ganzes, das unter den Fehlern von Netanjahus Regierung leidet.

Sie rekurrieren auf das Bild von Israel als der einzigen Demokratie im Nahen Osten; so wollen sie davon ablenken, dass die Mehrheit der Bürger*innen rechts bis rechtsaußen gewählt hat, dass die Mehrheit der jüdisch-israelischen Bevölkerung rechts ist. Israel ist nicht nur das Opfer der Hamas, sondern auch der feindlichen arabischen Nachbarländer: „Dem Beschuss aus Gaza folgten Raketen aus Jemen und Libanon. Israel blieb keine Zeit für Trauer.“

Diese Thesen - israelische Harmlosigkeit gegen palästinensisch-arabische Totalaggression - sind der Grundkonsens aller Beiträge des Buches. Viele Artikel sind nicht der Rede wert; aus einigen Beiträgen sollen aber exemplarische Passagen zitiert werden.

Der Artikel „Wir, die Linken? Nicht mehr!“ der französischen Soziologin Eva Illouz gehört zu den bekanntesten Texten in der Diskussion in Deutschland, auch weil die Süddeutsche Zeitung auf eine Bezahlschranke verzichtet. Die linksliberale Intellektuelle beruft sich als Einzige auf rechtliche Kategorien: „Moralisches Empfinden, bürgerliches Recht und internationales Recht machen eine klare Unterscheidung zwischen verschiedenen Tötungsarten. Kollateralschäden […] unterscheiden sich moralisch und rechtlich von der Enthauptung von Kindern, weil ein anderes Maß an Absicht und direkter Verantwortung dahinter steht. Diese Unterscheidung zu leugnen, käme einer Leugnung der Voraussetzungen unseres Rechtssystems gleich.“ Da schon mit den ersten Erklärungen israelischer Politiker*innen und Generäle nach dem 7. Oktober offen der Bruch des Völkerrechts angekündigt wurde, richtet sich jede Forderung nach der Einhaltung internationalen Rechtes immer gegen Israel, das hat Eva Illouz wohl als eine von wenigen nicht erkannt. Und auch der Mythos der durch die Hamas enthaupteten Kinder wurde bekanntlich kurz nach dem 7. Oktober zweifelsfrei widerlegt. Trotzdem macht Illouz diese Lüge zu einem wichtigen Bild in ihrer Argumentation. Natürlich schweigt sie gleichzeitig zu den Fotos und Videos der durch israelische Bomben geköpften Kinder in Gaza.

Sie besteht auch darauf, dass es zwischen dem allgemeinen Konflikt zwischen Palästinenser*innen und Israelis einerseits und der Intention der Hamas andererseits keinen Zusammenhang gäbe: „Aber wir haben es hier mit mehreren […] Narrativen ohne feste oder ursächliche Verbindung zu tun.“ Sie sagt daraus folgernd: „[…] ich weigere [mich], das Leiden der Palästinenser am Verlust ihres Landes zu kontextualisieren. Wenn ich ihre Tragödie erfassen will, muss ich den Kontext ausblenden.“ Nicht verstehen wollen als Erkenntnismethode: So versucht sie, die israelische Regierung und Armee zu decken, und gleichzeitig das rechtswidrige und grausame Verbrechen an den palästinensischen Menschen zu relativieren.

Der Soziologe Armin Nassehi ist in der deutschen Öffentlichkeit als konservative Stimme sehr präsent. Bei ihm heißt es: Israel „kann nach dem Überfall der Hamas nur alles falsch machen. Die Hamas nicht zu zerstören, wäre eine Garantie für bereits angekündigte Wiederholungen des Überfalls. Es zu tun, erzeugt Bilder, die Israel ästhetisch in die Nähe eines Aggressors bringen. Die asymmetrische Kriegsführung der Hamas macht die eigene Bevölkerung nicht nur zur Geisel, sondern führt den Gegner als moralisches Monster vor. Die Kategorien verschwimmen, und das nicht, weil Israel prinzipiell etwas falsch machen würde, sondern weil es gezwungen wird, das Richtige so zu tun, dass es falsch aussieht.“ Offener kann die bedingungslose Unterstützung der israelischen Kriegsverbrechen nicht formuliert werden.

Seyla Benhabib, weltbekannte Politologin, Philosophin und Mitherausgeberin der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, fordert: „Es darf nicht zu einer zweiten Nakba kommen.“ Allerdings sind die von ihr geforderten Maßnahmen ja gerade zentrale Elemente der systematischen Vertreibung: „Der Waffenstillstand muss mit der sofortigen Evakuierung der Verwundeten, Alten und Jungen aus dem Gazastreifen einhergehen. […] Die Nachbarländer und die Gemeinden im Westjordanland sowie Jordanien und Ägypten und andere Länder müssen sich bereit erklären, palästinensische Flüchtlinge aufzunehmen, die den Kampfhandlungen entkommen wollen.“

Der Historiker Volker Weiß hat ein Standardwerk zur Neuen Rechten geschrieben. Er behauptet in „Nach dem 7. Oktober“: „Hinter einer pro-israelischen Fassade der Partei gibt es […] ganz andere Präferenzen.“ Die AfD, die im Bundestag 2019 den Anstoß für den berüchtigten Pro-Israel-Beschluss zu BDS (Boykott, Desinvestition, Sanktion) gegeben hat, ist „als Bollwerk gegen Antisemitismus […] unglaubwürdig.“ Das bürgerliche Pro-Israel-Lager möchte anscheinend nicht mit der AfD zusammen gesehen werden. Gewöhnlicher Rassismus darf bei Weiß auch nicht fehlen: Antisemitische Thesen „rufen im Netz begeisterte Reaktionen bei Nutzern mit türkischen und arabischen Namen hervor“.

Vier Beiträge wurden in „Nach dem 7. Oktober“ zum ersten Mal veröffentlicht. Zu Doron Rabinovici „Im Morgengrauen“ und Natan Snaider „Die Wunde Israel“ wird in Kürze ein eigener Artikel erscheinen, da dies die beiden programmatischen Texte des Buches sind.

Phillipp Lenhards nichtssagender Aufsatz „Worte finden“ folgt ganz der oben beschriebenen Argumentationskette. Neuartig ist allerdings seine These, die der Abwertung der Menschen mit palästinensischem Hintergrund in Deutschland dient: „Palästinenser stellen […] mit geschätzten 200.000 Personen […] eine vergleichsweise kleine Gruppe dar. […] Die Forderung, endlich den ‚migrantischen Stimmen‘ zuzuhören, diente also nicht selten dem Zweck, unter Verweis auf palästinensische Kronzeugen die deutsche Unterstützung Israels zu delegitimieren.“

Es folgen jetzt Zitate aus „Vom UN-Podium in den Gaza-Tunnel“ von Thomas von der Osten-Sacken und Oliver M. Piecha, eigens für das Buch „Nach dem 7. Oktober“ geschrieben:

„Da hocken sie nun im Dunklen der Tunnel von Gaza […] sie tragen ihr grünes Band um die Stirn und eine Balaclava macht sie gesichtslos. Bis sich irgendwo eine Falltür öffnet, der Himmel sichtbar wird und etwas Furchtbares auf die Welt losgelassen wird. Quälen, Töten, Vergewaltigen und Beutemachen: So verweist ihr Stammbaum doch eher auf die Orks, dieses Fußvolk des Bösen aus Tolkiens ‚Herr der Ringe‘. […] Es fällt schwer, solche Gestalten ob ihrer stumpfen, ungeheuren Brutalität nicht zu entmenschlichen.“

„Die hohe Kunst der Palästinenser bestand über Jahrzehnte im Sich-oben-Halten; möglichst ganz oben auf der Agenda, immer getrieben von der Angst, unter die Aufmerksamkeitsschwelle zu rutschen. ‚Palästina‘ wurde so zu einer extrem erfolgreichen Marke.“

„Wenn der Palästinenser nicht um Aufmerksamkeit heischt, ist er praktisch schon vergessen.“

„Der Palästinenser harrt als Ork im Tunnel oder liegt als Kind unter Haustrümmern begraben, ob Täter oder Opfer, er ist gesichtslos.“

„Wie ein Heer von Golems stehen sie [gemeint sind Pro-Palästina-Demonstrierende] plötzlich massenhaft herum, weil der Hass auf Israel einen Funken Lebendigkeit in ihnen erregt hat. Wirklich relevant ist dabei wohl einzig die Frage nach dem Identifikationsangebot ‚Palästina‘ als Ausdruck diverser Frustrationserfahrungen muslimisch geprägter Einwanderer.“

Wir fragen die anderen Autor*innen in „Nach dem 7. Oktober“: Macht es Ihnen nichts aus, im gleichen Buch wie Osten-Sacken/Pliecha zu veröffentlichen?

Wir fragen die Rezensent:innen des Buches „Nach dem 7. Oktober“: Warum haben Sie nicht auf die Aussagen von Osten-Sacken/Pliecha hingewiesen?!?

Dieses Buch unterstützt voll und ganz die brutale Vertreibung, Unterdrückung und Vernichtung des palästinensischen Volkes durch die israelische Politik. Nirgendwo Zweifel, nirgendwo Debatte - alle Autor*innen stehen felsenfest an der Seite des israelischen Staates. Ihre Beiträge erklären nichts und rechtfertigen alles.

Eine Rezension von Sebastian Schröder, Diplom-Soziologe

Erstveröffentlichung auf Die Freiheitsliebe.


186.000 Getötete in Gaza

An die Wuppertaler Unterstützenden des offenen Briefes „ Aus aktuellem Anlass: Kein Platz für Antisemitismus an Hochschulen“

Sehr geehrter Herr Lutter, sehr geehrter Herr Bedenbender, sehr geehrter Herr Freudenberg, sehr geehrte Frau Gräsel, sehr geehrter Herr Hartung, sehr geehrter Herr Heinen, sehr geehrter Herr Johrendt, sehr geehrter Herr Jürges, sehr geehrte Frau König, sehr geehrte Frau Schneider, sehr geehrter Herr Grimm, sehr geehrter Herr Hunze, sehr geehrte Frau Lütke-Harmann,

Das Foto zeigt Zerstörungen in Rafah
Foto © Mohamed Zanoun via activestills.org
Sie haben am 2. Juli 2024 den offenen Brief „ Aus aktuellem Anlass: Kein Platz für Antisemitismus an Hochschulen“ unterzeichnet.

Ich möchte Sie auf die folgende Veröffentlichung aufmerksam machen:

„Counting the dead in Gaza: difficult but essential“ - Artikel von Rasha Khatib, Martin McKee und Salim Yusuf, erschienen am 5. Juli 2024 in The Lancet.

Der Artikel bezieht sich auf die grosse Studie „Global burden of armed violence“, Geneva Declaratian Secretariat, Geneva 2008

Es wird angenommen, dass die Zahl indirekter Todesfälle in modernen bewaffneten Auseinandersetzungen die Zahl direkter Todesfälle um den Faktor drei bis fünfzehn übersteigt. Die Autor:innen setzen für Gaza das Ergebnis konservativ mit dem Faktor vier an. Sie kommen unter dieser Annahme, bei Berücksichtigung von Unsicherheiten, zu dem Ergebnis, dass von Oktober 2023 bis zum 19. Juni 2024 circa 186.000 Menschen getötet wurden.

Als angemessener historischer Vergleich der Belagerung einer Millionenstadt ist die Blockade von Leningrad 1941 bis 1944 heranzuziehen. Hier wurde innerhalb von 28 Monaten schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung durch Hunger, Krankheit und Beschuss getötet. Dabei starben von den circa 1,1 Millionen Opfern etwa 16.000 direkt durch Waffengewalt. Die systematische Zerstörung der Infrastruktur durch die deutsche Armee war integraler Teil der deutschen Kriegsführung.

Es gibt allerdings auch signifikante Unterschiede zwischen Leningrad und Gaza: Während Leningrad eine weitläufige Metropole mit Umland war, umfasst Gaza lediglich eine Fläche von 45 Quadratkilometern.

Gaza ist mit über 12.000 Einwohner:innen pro Quadratkilometer der am dichtesten besiedelte Ort der Welt. Etwa die Hälfte der Bevölkerung sind Kinder und Jugendliche. Durch diese Faktoren liegt eine hohe Vulnerabilität vor.

Durch die Blockade und die Bombardierung seit dem 10. Oktober wurden alle Bereiche der Infrastruktur zerstört. Elektrizität, Wasser und Abwasser, Strassen, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten sind Ziele systematischer Angriffe durch die israelische Armee.

Daraus resultiert ein eklatanter Mangel an Wasser, an Nahrungsmitteln, an Medizin, an Dingen des täglichen Bedarfs. Durch gravierenden und langhaltenden Mangel hervorgerufene Schwäche führt zu Verbreitung vermeidbarer Krankheiten, zum zunehmenden Sterben von Kranken, Alten und Kindern.

Nahezu alle Bewohner:innen sind Binnenvertriebene. Mehr als fünfzig Prozent der Wohngebäude sind zerstört. Unter den Trümmern werden mindestens 10.000 nicht geborgene Leichen vermutet.

Alle Bürger:innen in Gaza sind seit neun Monaten in einer körperlicher und psychischen Extremsitation, die durch Verlust und Todesangst gekennzeichnet ist.

Israel hat eine der modernsten Streitkräfte weltweit. Armee, Luftwaffe und Marine setzen Waffen aller Gattungen und Munition aller Kaliber in Gaza ein. 1000 Pfund Bomben und 2000 Pfund Bomben werden in die Stadt mit der welthöchsten Bevölkerungsdichte abgeworfen.

Es muss davon ausgegangen werden, dass die Kombination aller dieser Faktoren zu einer Beschleunigung der Sterblichkeit, führen wird.

Es wäre deshalb die These zu prüfen, ob die Zahl an Getöteten in Gaza höher als Faktor vier, wie bei Khatib, McKee, Yusuf, anzusetzen ist. Dann wäre die Zahl von 186.000 getöteten Einwohner:innen in Gaza überschritten.

Der Stichtag des Artikels war der 19. Juni, seitdem ein weiterer Monat mit Blockade und unverminderter Bombardierung vergangen.

Als Lehrende und Forschende sind Sie aufgefordert, die Hypothese von Khatib, McKee, Yusuf nach den Grundsätzen der Wissenschaftlichkeit zu diskutieren.

Geben Sie Ihre einseitige Position auf und ziehen Sie die einzige mögliche Schlussfolgerung aus der Analyse - verurteilen Sie dieses enorme Kriegsverbrechen!

Wuppertal, 20. Juli 2024

Silence is Violence

Das Foto zeigt zerbombte Häuser. Ein Mann steht im Trümmerfeld.
Zerstörungen im Gazastreifen, Oktoer 2023
Foto: Von Palestinian News & Information Agency (Wafa) in contract with APAimages
Lizenz: CC BY-SA 3.0
Rede von Sebastian Schröder zur Demonstration „All Eyes on Rafah“ am 1. Juni 2024 in Wuppertal

Hallo, guten Tag!
Mein Name ist Sebastian Schröder.
Ich bin Mitglied in der Bezirksvertretung Elberfeld-West für die Partei Die Linke. Die Bezirksvertretungen sind die offiziellen gewählten Stadtteil-Parlamente.

Überall auf der Welt werden in städtischen Parlamenten Resolutionen zu Waffenstillstand und Frieden in Gaza, Palästina und Israel diskutiert und manchmal verabschiedet. Im November habe ich für die Linke den Antrag „Frieden und Gerechtigkeit für Gaza“ eingebracht. Doch anstatt zu diskutieren und abzustimmen haben es alle Parteien per Geschäftsordnung abgelehnt, dieses Anliegen überhaupt zu behandeln. Es gibt dann keine Möglichkeit über das totgeschwiegene Thema zu sprechen.

SPD, CDU, GRÜNE, FDP, AfD: Das ist silencing!

Warum dürfen die Stimmen der Menschen mit palästinensischer Herkunft in unserer Stadt in den gewählten Vertretungen nicht gehört werden?

Mein 1. Antrag war also im November.

Den 2. Antrag „Palästinensische Flagge am Rathaus hissen“ habe ich im Januar gestellt. Wieder silencing - das heisst totschweigen.

Den 3. Antrag „Unbefristeter Waffenstillstand in Palästina- Israel“ habe ich im März eingebracht. Wieder silencing - das heisst totschweigen.

Den 4. Antrag „Waffenstillstand in Palästina -Israel JETZT“ habe ich in der Sitzung vor drei Tagen gestellt. Zum 4 Mal wurde unser Anliegen totgeschwiegen.

Ich lese euch jetzt meinen 4. Antrag vor:

Zur Sitzung der Bezirksvertretung Elberfeld-West am 29. Mai 2024, von Sebastian Schröder Die Linke

Sehr geehrte Frau Bezirksbürgermeisterin
Die Bezirksvertretung Elberfeld-West möge beschließen:

Die BV Elberfeld-West fordert Oberbürgermeister Schneidewind, die Landesregierung NRW und die Bundesregierung auf, für einen sofortigen Waffenstand in Gaza - Israel einzutreten.

Begründung:

Angesichts der ungezählten und massiven Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, die zum Tod von über 35000 Menschen geführt haben und zu den seit 1945 extremsten Zerstörungen ziviler Infrastruktur, fühlt sich die BV verpflichtet, die Einhaltung dieser Rechte zu fordern, auch im Namen der Menschen mit palästinensischem Hintergrund in Wuppertal.

Der internationale Strafgerichtshof hat als Reaktion auf die Kriegsverbrechen Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten und den israelischen Verteidigungsminister beantragt.

Nachdem sich die Bezirksvertretung Elberfeld-West bereits mehrfach (3 x) geweigert hat über Palästina - Israel zu beraten, korrigiert sie sich heute. Die Bezirksvertretung schliesst sich den weltweiten zivilgesellschaftlichen und politischen Bemühungen für einen unmittelbaren und unbefristeten Waffenstillstand an.

Mit freundlichen Grüßen

Sebastian Schröder

Dieser Antrag wurde wieder übergangen.

Im „Oxford Languages“ steht als Definition zum deutschen Wort „totschweigen“: „eine Tatsache bewusst nicht erwähnen, der Öffentlichkeit vorenthalten um bestimmte, sonst zu erwartende Reaktionen der Öffentlichkeit zu vermeiden“

Heute fragen wir: Welche Reaktion der Menschen, der BürgerInnen Wuppertals will die Bezirksvertetung Elberfeld-West vermeiden?

Ich sage hier und jetzt laut: Freie Rede - free speech - statt totschweigen, statt silencing.

Respekt statt Ausgrenzung

Wir fordern:

• Einen unbefristeten Waffenstillstand.
• Den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen aus Deutschland.
• Die Untersuchung der Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen.


Nazi-Milliardäre – Reich, rechts, mächtig

Das Buchcover zeigt ein Familienfoto mit Joseph Goebbels mit Frau Magda und Stiefsohn Harald Quandt, 1931
David de Jong: Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 496 Seiten, 28 Euro
BMW, Mercedes-Benz, Porsche, Allianz, Oetker; wie sind diese deutschen Weltkonzerne groß geworden?

Die vier reichsten Männer in der BRD waren 1970 Friedrich Flick, August von Finck, Herbert Quandt und Rudolf-August Oetker. Den entscheidenden Teil ihrer enormen Vermögen konnten sie ab 1933 erwerben, in der Stahl- und Rüstungsindustrie, bei Versicherungen und Banken und in der Lebensmittelindustrie.

Der langsame Aufstieg dieser Familienclans in den zwanziger Jahren, der rasante Weg in die höchsten Machtpositionen im deutschen Faschismus, das kurze Straucheln nach dem 8. Mai 1945, die spektakuläre Rückkehr an die Spitze seit den fünfziger Jahren und die heutige Debatte um die Nazi-Milliardäre sind das Thema des Buches des niederländischen Wirtschaftsjournalisten David De Jong.

Die Konzernchefs teilten nach dem Ende des Kaiserreiches die republikfeindlichen und reaktionären politischen Vorstellungen des deutschnationalen Milieus. Das erleichterte die bewusste Annäherung an Hitler und die NSDAP mit sehr grossen Spenden und regelmässigen Treffen ab 1930.

Für alle sichtbar wurde dieses Zusammengehen durch die Heirat von Goebbels und Magda Quandt, zuvor Ehefrau Günter Quandts, dem Besitzer der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken (DWM) und der AFA-Werke (später Varta). Auf dem Buchumschlag der deutschsprachigen Ausgabe von „Braune Erben“ ist ein Foto der faschistischen Prominentenfamilie: Josef und Magda Goebbels mit dem Quandt-Sohn Harald.

Nach der von ihnen mit vorangetriebenen Zerstörung der Weimarer Republik 1933 haben Quandt, Flick, Finck, Porsche und Kaselowsky (Oetker) 12 Jahre lang immer schneller an der Aufrüstung und der „Arisierung“ verdient. Alle waren Mitglieder in Himmlers „Freundeskreis Reichsführer SS“ und der NSDAP.

Im Zweiten Weltkrieg kam es zum systematischen Einsatz von Zwangsarbeiter:innen. Skrupellos haben sie die vielen Verschleppten ausgebeutet, allein bei Quandt mussten 57500 Menschen arbeiten. „Mindestens 403 Menschen starben in Günther Quandts (.) AFA-Werk.“ Eingesperrt in Lager, gefährdet durch Arbeit, Unfälle, Hunger und Krankheit, von Ermordung bedroht, wurden viele Zwangsarbeiter:innen schliesslich auf die Todesmärsche geschickt. Die 1016 Toten des grausamen Verbrechens in Gardelegen kamen aus einem der AFA-Werke. Sie wurden lebend in der Feldscheune verbrannt.

Nach der Befreiung musste sich nur Friedrich Flick vor Gericht verantworten, die Taten der anderen Unternehmer blieben ungesühnt, geschützt durch die alten Netzwerke und Persilscheine.

Die mit Zwangsarbeit erweiterten und modernisierten Fabriken waren die Grundlage der „Wirtschaftswunder“ genannten Restauration in der BRD der fünfziger Jahre.

Alle Wirtschaftsbosse kehrten an die Spitzen der Firmen zurück und setzten ihre Geschäfte erfolgreich fort. Keiner gestand die Beteiligung am Faschismus ein, niemand distanzierte sich, und sogar die rechte Ideologie und neofaschistische Politiker wurden von August von Finck weiter unterstützt.

Die Stärke des „erzählenden Sachbuches“ von David De Jong sind die Kapitel über die Nachkriegszeit, die BRD, und vor allem der letzte Teil über das Verhalten der Milliardärsfamilien gegenüber der eigenen NS-Geschichte bis heute. De Jong schildert, dass auch die Familie Reimann ihren Reichtum einem Nazi-Vorfahren verdankt. Während Reimanns, die reichsten Deutschen, den Weg der Aufklärung und Wiedergutmachung eingeschlagen haben, verharren die anderen Familien in Schuldabwehr durch Verleugnung und Relativierung.

Die zentrale Schwäche des Buches ist seine Unvollständigkeit, dadurch entsteht ein schiefes Bild des deutschen Faschismus. Der Autor fokussiert sich auf wenige Personen, und entscheidende Akteure fehlen, so Carl Duisberg und die Chemieindustrie. Ohne die IG Farben bleibt etwa die Übertragung der Macht am 30. Januar 1933 unverständlich. Während Schacht, Thyssen, Krupp, Schmitt zumindest erwähnt werden, heisst es nur „Manager des Chemiekonglomerats IG Farben und des Kaligiganten Wintershall“…

Gleichzeitig verliert sich De Jong stellenweise in Klatsch und Tratsch zu Hitler, Goebbels, Magda und Günther Quandt.

Überhaupt wird Quandt sehr nachsichtig geschildert: „Obwohl er zum größten Waffenproduzenten des „Dritten Reichs“ geworden war, wollte Günther Quandt keinen Krieg.“

Und eine naheliegende Frage: Warum wurde der englische Originaltitel „Nazi Billionaires“ nicht einfach übersetzt? „Nazi-Milliardäre“ trifft es doch viel besser als „Braune Erben“!

Erstveröffentlichung in antifa, Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur, 21. Juli 2022

Nicht das ganze Bild. Ein populäres Buch über die Organisation Consul - mit Leerstellen

Das Buchcover zeigt einige der Protagonisten, Buchtitel und Autor
Florian Huber: Rache der Verlierer. Die Erfindung des Rechtsterrors in Deutschland. Berlin Verlag 2020, 286 Seiten, 24 Euro
Novemberrevolution 1918: "Mit dem Monarchen verschwand ein System von Hierarchien aus Deutschland, das alle verinnerlicht hatten, vom Adeligen und Offizier bis zum Angestellten, Arbeiter und Dienstboten. Millionen hatten sich für diese Ordnung in den Schützengräben und in der Heimat aufgeopfert, um sie nun in ein paar novemberklammen Tagen zergehen zu sehen."

Nah an Motiven und Milieu der Terroristen
Das ist der Ausgangspunkt von Florian Hubers Buch über die Ermordung von Matthias Erzberger sowie Walther Rathenau und über die Täter aus der sogenannten Organisation Consul. Dabei schafft es Huber, die Lesenden sehr nahe an die Terroristen heranzuführen, an ihre Motive, an ihr Milieu und an die politischen Geschehnisse.

Im Mittelpunkt der rechten Terrorserie, in der bis 1922 schon 354 (bewiesene) Morde begangen wurden, steht der Marineoffizier Hermann Ehrhardt. Er gründete 1919 das nach ihm benannte Freikorps, eine von circa 350 Söldnergruppen im Dienst des Staates. Von der Regierung befehligt, zerschlug dieses Freikorps mit maßloser Gewalt die Münchner Räterepublik. 1920 war Ehrhardt der dritte Verschwörer im Kapp-Lüttwitz-Putsch und konnte nach dem Scheitern problemlos nach München entkommen. Dort wurde er von Polizeipräsident Pöner in der antirepublikanischen "Ordnungszelle Bayern" vor Verfolgung geschützt. Mit falscher Identität leitete er die paramilitärische Struktur "Organisation Consul", getarnt als "Holzverwertungsgesellschaft". "Bis zum Spätsommer 1921 hatte die Organisation Consul mit ihren Regionalablegern ein Netz von mindestens 5.000, internen Gerüchten zufolge bis zu 25.000 wartenden Kämpfern über das deutsche Reich ausgespannt."

Rekrutiert wurde die rechte Geheimarmee in der Unmenge an reaktionären Vereinen, Zusammenschlüssen und Organisationen, etwa dem berüchtigten "Alldeutschen Verband". Huber verfolgt die Wege von Friedrich Wilhelm Heinz und Ernst von Salomon, die als Intellektuelle ihre Taten später glorifiziert haben.

Auf der politischen Ebene war Karl Helfferich zentral als führender Politiker der Deutschnationalen Volkspartei im Parlament. Er inszenierte 1919 für und mit Hindenburg und Ludendorff die Dolchstoßlegende, und hetzte systematisch gegen Matthias Erzberger, Philipp Scheidemann und Walther Rathenau.

Die politische Schuld für die Attentate auf diese drei Politiker wurde damals und wird heute eindeutig bei Helfferich gesehen. Durchgeführt haben Terroristen der Organisation Consul die Anschläge, auf Befehl von Ehrhardt. Die Rechten einte der Hass auf die Republik und offener Antisemitismus. "Im Sommer 1922 zählt Walther Rathenau zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Weimarer Republik." Er hatte als Außenminister mit dem Rapallo-Vertrag die Annäherung an die Sowjetunion initiiert: "Verführer, Verderber, Verräter, Verweser, Zersetzer. Die Anfeindungen, die Walther Rathenau (…) auf sich gezogen hat, sei es wegen seiner jüdischen Herkunft, seiner Ansichten oder seiner widerspruchsvollen Persönlichkeit, haben ihn (…) begleitet." Nach der Ermordung Rathenaus setzte Reichskanzler Joseph Wirth im Reichstag, getragen vom Entsetzen und der Empörung der Bürger:innen, das Republikschutzgesetz durch und verkündete: "Der Feind steht rechts!" Kurzzeitig schützt die Republik ihre demokratische Verfasstheit. Im spektakulären Prozess 1922 wurden acht Angeklagte verurteilt, aber Hermann Erhardt als Auftraggeber wurde nicht belangt. Und 1924, in einem Prozess zur Aufklärung der Ermordung Erzbergers, stand die Justiz wieder ganz auf der Seite der Terroristen: "Die juristische Aufarbeitung der Terrorserie war mit der höchstrichterlichen Feststellung abgetan, dass es eine Mordorganisation Consul wohl nie gegeben habe."

Radikalisierung konservativer Politik
"Rache der Verlierer" ist inhaltlich und stilistisch stark in der Schilderung der Ereignisse, zeigt aber nicht das ganze Bild. Ohne die Vorgeschichte der Rechten im Kaiserreich ist der Terror von rechts nicht verständlich. Spätestens mit der Gründung der Konservativen Partei in den 1890er-Jahren und der Formierung von rechten Massenverbänden hatte sich die konservative Politik radikalisiert. Und dann passt die Charakterisierung der Terroristen als Verlierer nicht mehr, denn sie verfolgten die jahrzehntelang herrschende Erzählung des Kaiserreiches einfach weiter, protestantisch, deutschnational und autoritär.

Alle waren nach 1922 noch verstärkt im rechten Milieu aktiv, so war Ernst von Salomon in der sogenannten Landvolkbewegung an einem Anschlag auf den Reichstag 1929 beteiligt. Sie halfen tatkräftig, den Faschismus in Deutschland durchzusetzen. Und nach 1945 konnten die Terroristen unbehelligt in der BRD leben, Friedrich Wilhelm Heinz als Werbefachmann in Frankfurt am Main, von Salomon als Autor und Intellektueller. Der Mörder von Walther Rathenau schrieb 1951 mit "Der Fragebogen" den ersten Bestseller, die Rechtfertigung seiner Taten. Das Buch wird bis heute unverändert bei Rowohlt verlegt.

Erstveröffentlichung in der Zeitschrift antifa der VVN-BdA

Der gleiche alte Mist: Eckart Conze über die Schatten des Kaiserreichs

Das Bild zeigt das Buchcover: Neben Autor und Titel ist im rechten unteren Bereich ein Foto der Siegessäule in Berlin zu sehen, die ihren Schatten nach links wirftDer 18. Januar 1871, der Tag der Gründung des deutschen Nationalstaates im Spiegelsaal von Versailles, jährt sich zum einhundertundfünzigsten Mal. Einflussreiche Kräfte von rechts deuten die Geschichte des autoritären Kaiserreiches positiv, um ihrer heutigen und zukünftigen deutschnationalen Politik eine Legitimation zu verschaffen.

Gegen den verharmlosenden Erinnerungskult an das Kaiserreich und seine nationalistischen Traditionen setzt der Historiker Eckart Conze sein neues Buch "Schatten des Kaiserreiches - Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe".

Er fragt „Begann 1871, was zwischen 1933 und 1945 so katastrophal endete? War im Kaiserreich das „Dritte Reich“ bereits angelegt?“ und kann zeigen, dass sowohl die Entstehung des Nationalstaates, seine Konstruktion und die vor allem die reaktionären gesellschaftlichen Strukturen in den Ersten Weltkrieg geführt, die Weimarer Republik zerstört und den deutschen Faschismus ermöglicht haben.

Zu Beginn beschreibt Conze den Weg zum Nationalstaat. Die Befreiung von der französischen Besatzung 1813 gehört zur Vorgeschichte der „Reichsgründung“ ebenso wie die „Rheinliedbewegung“ 1840 und die bürgerliche Revolution 1848. Seit der Niederlage der 48er Revolution lenkt Bismarck die Entstehung des Nationalstaates unter der Vorherrschaft von Preußen. Es ist eine der nachdrücklichsten Feststellungen Conzes, dass Bismarck erst mit der Unterstützung der Liberalen seine „Revolution von oben“ und seine Kriege durchsetzen konnte.

Jetzt folgt der entscheidende Teil des Buches, denn Conze benennt offen, was den 1871 im Krieg gegründeten „autoritären Nationalstaat“ strukturell kennzeichnet.

Dieses Kaiserreich war keine Demokratie, denn das Wahlrecht (nur für Männer) war in Preußen, für 60 Prozent der Wähler, eingeschränkt. Es gab auch keine festgeschriebenen Grundrechte wie in der Verfassung von 1848. Entscheidend war, dass das Parlament keine Regierung bilden konnte und auch den Reichskanzler nicht abwählen konnte. Die Stellung von Kaiser und Reichskanzler war institutionell unangreifbar und von Preußen dominiert.

Zu diesen Grenzen der Demokratisierung kommt der ausschließende Nationalismus: „Den äußeren Feinden der Nation, allem voran dem „Erbfeind“ Frankreich, entsprachen als „Reichsfeinde“ im Innern alle Kräfte, die sich im autoritären, kleindeutsch-preußischen und protestantischen Nationalstaat nicht wiederfanden, die ihn ablehnten, weil er im Gegensatz zu ihren politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen stand. Das galt für Katholiken, es galt für die Arbeiterbewegung und für nationale Minderheiten wie Polen, Dänen oder frankophone Elsässer, für die Anhänger der Welfen (…) und sehr bald auch schon für die deutschen Juden. Sie alle verband die Stigmatisierung als Reichsfeinde, als „undeutsch“, der Vorwurf, durch nationale Unzuverlässigkeit die Einheit der Nation zu unterminieren und sie dadurch zu schwächen.“

Die Bedeutung des Antisemitismus in Gesellschaft und Politik hebt Conze hervor, und er weist auf die immer weiter wachsende Rolle der Verbände im Kaiserreich hin. Sie haben den politischen Diskurs nachhaltig nach rechts gedrückt, und auch die Lebenswelt von Millionen Deutschen über mehrere Jahrzehnte bestimmt.

Autoritarismus und Nationalismus gingen einher mit Imperialismus. Schon Mitte der 1880er Jahre annektierte das Kaiserreich den Großteil seiner Kolonien. Deutschland unterwirft die besetzten Gebiete einer drei Jahrzehnte andauernden Ausbeutung und Unterdrückung bis hin zum Völkermord. Die massive Aufrüstung und immer aggressivere Provokationen führen schließlich zur vom Kaiser und den Militärs gewünschten Eskalation. Am Ende steht der Erste Weltkrieg.

Anschließend zeigt Conze, wie Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ im Sinne der neurechten Historiker*innen den Diskurs bestimmt und ordnet die aggressiven Entschädigungsforderungen der Hohenzollern kritisch ein.

Eckart Conze hat das wichtigste Buch zum 18. Januar 1871 vorgelegt, seine „geschichtspolitische Intervention“ zielt auf die Gegenwart, und er warnt für die Zukunft vor den neuen Deutschnationalen: „Nation ist in dieser Sichtweise kein demokratisches und kein freiheitliches Konzept individueller Zugehörigkeit und Teilhabe, sondern beruht auf der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gemeinschaftsfremden.“ Er macht deutlich: Wer das Kaiserreich idealisiert, wendet sich gegen die Fundamente der Republik.

Conze ist allerdings naiv bei der Beurteilung der Kräfte, die die Restauration beharrlich vorantreiben. Es gibt eben nicht erst seit der Gründung der AfD - als Partei der Deutschnationalen - reaktionäre Vorstöße. Der Wiederaufbau des Berliner Schlosses mit dem Humboldt-Forum wird seit 2000 geplant, der Wiederaufbau der Garnisonskirche seit 2004. 1999 führte Deutschland Krieg gegen Rest-Jugoslawien, und es vergeht keine Woche ohne Naziskandale in Bundeswehr, Polizei und Geheimdiensten. Darauf gibt das Buch keine Antwort.

EUR 22,00
ISBN: 978-3-423-28256-7
2. Auflage
288 Seiten

Erstveröffentlichung am 22. Dezember 2020.

Pfadabhängigkeiten: Über den Paradigmenwechsel in der deutschen Rüstungsindustrie

Das Bild zeigt das BuchcoverOlivier Kempf analysiert in der aktuellen Le Monde Diplomatique den Krieg in der Ukraine als Kampf gleichwertig ausgerüsteter Gegner in einem "symetrischen Krieg", geführt auch mit den Waffen des 21. Jahrhunderts. Der Einsatz von Drohnen und Satelliten zu elektronischer Kampfführung führt zum Stellungskrieg und zur Materialschlacht, zum Kräftegleichgewicht ohne überlegene Seite. Die Handlungen des Gegners sind durch die intensive Aufklärung bekannt, im Krieg in der Ukraine gibt es keine militärischen Überraschungen.

Auf eine qualitativ neue Stufe möchten die -NATO und die EU ihre Armeen seit 2012 heben: Sie streben eine massive Überlegenheit durch die komplette digitale Vernetzung zusammen mit modernster Waffentechnik an. Die angestrebte Überlegenheit würde in letzter Konsequenz Unbesiegbarkeit bedeuten, da die digitalisierten NATO-Armeen dem Gegner immer mehrere Schritte voraus wären.

Den Weg dieser Aufrüstung in Deutschland, der EU und der NATO beschreibt Jürgen Wagner in seinem Buch "Im Rüstungswahn - Deutschlands Zeitenwende zu Aufrüstung und Militarisierung". Der Historiker und Politologe ist Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung Tübingen und klärt sachkundig über den Verlauf der Aufrüstung, die Akteure und ihr Zusammenspiel, aber auch über Konflikte bis zur "Zeitenwende" auf und beschreibt dann die Rüstungsexplosion in Deutschland durch das Sondervermögen vom Februar 2022.Der Autor verfolgt die Entwicklung der Bundeswehr, die ab 1992 ihren Schwerpunkt auf Auslandseinsätze legt und deshalb mit mobilen und leichten Formationen im wesentlichen Techniken und Mittel der sogenannten Aufstandsbekämpfung anwendet. Seit 2014 wird die Aufrüstung der NATO-Länder als politisches Projekt, gerichtet gegen Russland, offen vertreten. Das hat auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Vorfeld der Münchner "Sicherheitskonferenz" jüngst erklärt.

Wagner zeigt auf, wie der im "Münchner Konsens" endgültig formulierte deutsche Aufrüstungsplan entstanden ist. Ab dem Jahr 2011 formierten sich die Kräfte, die der deutschen Armee endlich wieder die Fähigkeiten für den großen kontinentalen Krieg zurückgeben sollten. Als Reaktion auf Außenminister Guido Westerwelles unmissverständlich vertretene militärische Zurückhaltung Deutschlands im Bombenkrieg gegen Libyen wurden die Weichen für beharrliches und systematisches Rüsten gestellt. "Damit war der Paradigmenwechsel eigentlich vollzogen, es brauchte nun aber noch jemanden, der ihn der Öffentlichkeit verkaufen konnte. Diese Person war mit dem ohnehin extrem militäraffinen damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck auch schnell gefunden."

Seit über einem Jahrzehnt folgt die Militärplanung von NATO, EU und Bundeswehr dem Ziel des "Aufbaus digitalisierter Großverbände". Dabei steht für Deutschland die europäische Zusammenarbeit mit Frankreich zur Vernetzung und Vergrößerung der nationalen Rüstungsindustrien im Mittelpunkt, um über große Produktionsserien von Waffen und Waffensystemen zugleich Output und Profitabilität zu erhöhen. Mit der Aufrüstung geht also die Erhöhung der Rüstungsexporte einher.

"Vor allem drei deutsch-französische Großprojekte sollen sich als europaweite Standardprojekte durchsetzen und von dort aus die globalen Rüstungsmärkte erobern: die bewaffnungsfähige Eurodrohne (MALE RPAS), das Luftkampfsystem der Zukunft (FCAS) sowie das Kampfpanzersystem der Zukunft (MGCS)." Allerdings ist unklar, ob diese Waffensysteme überhaupt fertiggestellt werden können. 2021 war sogar ungewiss, ob die Projekte weiter verfolgt werden können. "Die Umsetzung der mit dem Münchner Konsens artikulierten Weltmachtansprüche drohte zu scheitern oder zumindest auf halbem Wege stecken zu bleiben - bis der russische Angriffskrieg die Zeitenwende einläutete."

Mit der Sondervermögen genannten Rüstungsfinanzierung werden Pfadabhängigkeiten geschaffen, die über 2026 hinaus wirken werden. Das Sondervermögen läuft 2026 aus, und dann kommen die großen Verteilungskonflikte auf die Gesellschaft zu: "Die Entscheidungen, ob es zu einer Verstetigung der Zeitenwende kommen wird, dürften spätestens 2026 getroffen werden. Dann ist das Sondervermögen aufgebraucht und die Frage einer dauerhaften Erhöhung der deutschen Militärausgaben um 25 bis 30 Mrd. Euro wird im Raum stehen."

Aber nicht nur um "Butter oder Kanonen" geht es, auch um "olivgrün oder feldgrau".

Was passiert, wenn die Einführung komplexer multinationaler Waffensysteme an nationaler Konkurrenz, politischem Kalkül, Technik oder Finanzierung scheitert? Wird in Deutschland die westliche "olivgrüne" Militärtradition bleiben - oder wird die mächtige Tradition des preußisch-kaiserlichen Militarismus wiederkehren? Dass "feldgrau" noch lebt, wissen wir!

Jürgen Wagner hat ein unverzichtbares Handbuch geschrieben, in dem das ganze Panorama der Aufrüstung sichtbar wird - unbedingt lesen!

Im Rüstungswahn. Deutschlands Zeitenwende zu Aufrüstung und Militarisierung
Neue Kleine Bibliothek 316, 212 Seiten
Erschienen (Oktober 2022)
ISBN 978-3-89438-791-4

Erstveröffentlichung am 11. März 2023


Ein literarisches Mahnmal: Zur Novelle "Dunkelnacht" von Kirsten Boie

Das Bild zeigt das Buchcover"Wollten ihre Männer nicht gehen lassen, die Weiber!" sagt der Dritte. Die Fleissner Agathe auch nicht! Sie ist schwanger, hat sie gesagt, wir dürfen ihn ihr nicht nehmen! Die Männer lachen.

"Ja mei, da mussten s’ halt mitkommen, die Weiber", sagt der Führer der Jagdgruppe. "Das nenn ich Liebe!" ruft irgendwer und hebt sein Glas. "Jetzt hängen s’ gemeinsam."

Faschismus bedeutet unerbittliche und maßlose Gewalt. Diese Gewalt in einem Jugendbuch zu zeigen hat sich Kirsten Boie, die bekannteste und erfolgreichste Kinderbuchautorin im deutschsprachigen Raum (u. a. "Die Kinder vom Möwenweg", "Ritter Trenk", "Sommerby"), zur Aufgabe gemacht.

Kirsten Boie hat mit "Dunkelnacht" ein erschütterndes Buch zur Penzberger Mordnacht am 28. April 1945 geschrieben. Drei fiktive Jugendliche führen die Lesenden als Zeug:innen des Geschehens durch die Ereignisse. Marie, Schorsch und Gustl sind über ihre Eltern mit den Akteur:innen verbunden. Mit Ausnahme der drei Jugendlichen ist das gesamte Geschehen verbürgt, so hat es sich im oberbayerischen Penzberg 48 Stunden vor der Befreiung durch die US-Armee abgespielt.

Drei Rundfunksender besetzt
In der Nacht vom 27. auf den 28. April besetzte die antifaschistische "Freiheitsaktion Bayern" drei Rundfunksender und forderte über Radio die Bevölkerung auf, die durch den "Nero-Befehl" angeordnete Zerstörung von Fabriken und Infrastruktur zu verhindern, den Faschist:innen die Macht zu entreißen und den Krieg zu beenden.

In Penzberg setzt nun Hans Rummer, SPD-Bürgermeister bis 1933, mit vertrauten Männern aus der Arbeiter:innenbewegung gewaltlos den Nazibürgermeister ab. Die unmittelbaren Maßnahmen der freien Administration sind der Schutz des Bergwerkes und die sichere Ausfahrt der Frühschicht, die Befreiung und der Schutz der sowjetischen und französischen Zwangsarbeiter und die Einberufung einer demokratischen Versammlung für alle.

Der in die "Alpenfestung" fliehende Truppenteil der Wehrmacht lässt Rummer zunächst gewähren, setzt die Demokraten im Laufe des Tages dann aber doch fest und erwirkt beim Münchner Gauleiter den Hinrichtungsbefehl. Sieben Antifaschisten, darunter Hans Rummer, werden am frühen Abend des 28. April von der Wehrmacht erschossen, gleichzeitig wird die Werwolf-Gruppe des prominenten Naziliteraten Hans Zöberlein nach Penzberg beordert. In der Nacht wüten circa einhundert Faschisten in Zivilkleidung, vermummt und betrunken, aber systematisch in Penzberg. Nach Zurufen Ortskundiger werden Listen von Antifaschist:innen erstellt, und das Suchen und Zerstören beginnt. Mit Schildern um den Hals werden neun Menschen in der Ortsmitte an Balkonen und Bäumen erhängt, darunter zwei Frauen, eine war schwanger.

US-Armee befreit Penzberg
Angeleitet von der Werwolf-Gruppe funktioniert ein letztes Mal die Zusammenarbeit von NSDAP, SS, Volkssturm, Polizei, Stadtwache unter dem Schutz der Wehrmacht. Am 30. April zieht die US-Armee in Penzberg ein.

Im Handeln der Täter in diesen Stunden gab es immer wieder die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, immer die Freiheiten, die Morde zu verhindern. Die Verantwortlichen des Naziregimes haben diese Möglichkeiten nicht genutzt, sie haben entweder die Eskalation vorangetrieben, haben zögernd mitgemacht oder sind passiv geblieben. Nach der Befreiung gehen die Prozesse den in der BRD üblichen Weg von Revision und Freispruch oder Haftverschonung. Mit Schutzbehauptungen und Lügen vertauschen die Angeklagten Opfer und Täter, stellen sich als reine Befehlsempfänger dar.

Überall, in jedem Stadtviertel, in den kleinsten Orten gab es unzählige faschistische Verbrechen, zunächst nur in Deutschland, später im ganzen besetzten Europa. Stellvertretend beschreibt Kirsten Boie die Verbrechen in Penzberg. Sie hilft dem Gedenken, der Trauer und vor allem der Mahnung mit ihrer Stimme. "Sechzehn Ermordete und kein einziger Mörder. Das soll man verstehen", schreibt Boie im Nachwort. Ihr kommt das große Verdienst zu, die schrecklichen Ereignisse für junge Menschen in "Dunkelnacht" in die Gegenwart zu holen. Helfen wir mit, dass "Dunkelnacht" in den Kanon der Schulbuchlektüre aufgenommen wird.

ISBN: 978-3-7512-0053-0
Erscheinungstermin: 06.02.2021
Umfang: 128 Seiten
Verlag: Oetinger


Erstveröffentlichung 9. Januar 2022

Immer rechts. Warum wir keinen VS brauchen: Ronen Steinkes Buch zum BRD-Geheimdienst

Das Bild zeigt das Buchcover mit dem Text:<br />
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Ronen Steinke<br />
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Spiegel Bestseller<br />
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enthält den Fall Hans-Georg Maaßen<br />
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Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik machtDer Jurist und Autor Ronen Steinke arbeitet als Journalist für die Süddeutsche Zeitung und recherchiert schon lange im Bereich der deutschen "Sicherheitspolitik". Das vorliegende Buch ist eine Mischung aus aktuellen Reportagen und der Untersuchung der Geschichte, der Funktionsweise und der Bedeutung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) von 1949 bis heute. "Das Personal (…) hat sich innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre knapp verdoppelt. (…) Zugleich hat sich das Budget (…) innerhalb desselben Zeitraumes sogar verdreifacht." Die Macht des Geheimdienstes sind die knapp 4.000 Hauptamtlichen, zu denen noch circa 3.700 Agent:innen in den 16 Landesämtern für Verfassungsschutz kommen.

Der VVN bestens bekannt
Die VVN kennt den VS schon aus vielen Auseinandersetzungen: "Heute beobachtet der Verfassungsschutz im Bund, in Nordrhein-Westfalen, in Baden-Württemberg, Hessen und Bayern die Vereinigung noch immer. Seit 2005 informiert das Bundesamt allerdings schon nicht mehr in seinen jährlichen Verfassungsschutzberichten darüber. Das sei bei weniger wichtigen Gruppen nicht nötig."

1959 hatte die Bundesregierung ein VVN-Verbotsverfahren wegen "Verfassungswidrigkeit" angestoßen, das 1962 ohne Erklärung nicht mehr weitergeführt wurde. Der Grund: Das Gericht und die Anklage wurden von den furchtbaren Juristen Dr. Fritz Werner und Dr. Hermann Reuß geführt, und die internationale Öffentlichkeit reagierte entsetzt auf deren Nazivergangenheit. Seit der Öffnung der VVN für junge Mitglieder zum Bund der Antifaschisten im Jahr 1971 fand ab 1973 eine Erwähnung im VS-Bericht statt. Die Mitgliedschaft in der VVN-BdA wurde damit für viele Jahre zum Grund für ein Berufsverbot. Steinke schildert auch die Enttarnung eines Spitzels in Bayern 2011, der über Jahre genauestens die Aktiven für den VS beobachtet hat. Ab 2019 folgte dann der Versuch des Entzugs der Gemeinnützigkeit, wieder mit der konstruierten Behauptung der Verfassungswidrigkeit der VVN-BdA.

Die Geschichte des VS zeigt, dieser war als Teil des Staatsapparates der BRD immer rechts, sei es unter liberalen oder unter konservativen Regierungen. Bezeichnend ist da die "Karriere" des SA-Mannes Hubert Schrübbers, der schon ab 1939 als NS-Staatsanwalt Widerstandskämpfer:innen verfolgte und von 1955 bis 1972 Präsident des BfV war. Bezeichnend auch die Rolle des VS beim sogenannten Radikalenerlass und der Durchsetzung der Berufsverbote ab Beginn der 1970er-Jahre. Nicht zu vergessen die Rolle der "Schlapphüte" hinsichtlich des NSU-Terrors: Die Morde unter den Augen des VS bleiben ungeklärt. Der damals zuständige Leiter des Verfassungsschutzamtes Thüringen, Helmut Roewer, publiziert jetzt in rechten Medien, genau wie Hans-Georg Maaßen, Chef des Bundesamtes von 2012 bis 2018.

Die Befugnisse des VS sind im Vergleich zu ähnlichen Institutionen in den USA, in Frankreich und Österreich einzigartig, denn die offene Ausspähung legaler Aktivitäten gibt es dort nicht. Zugleich unterliegt der VS kaum parlamentarischer Kontrolle; dafür ist die Behörde weisungsgebunden an Bundes- und Länderinnenministerien. "Vielleicht ist Björn Höcke nächstes Jahr schon Innenminister in Thüringen und damit Dienstherr des Verfassungsschutzes. Dann schauen wir mal …", so ein AfD-Abgeordneter im Innenausschuss des Bundestages im Juni 2023.

Die Beobachtung und die Beeinflussung in den sozialen Medien durch systematisch aufgebaute Fake-Accounts, die Onlinedurchsuchungen sind moderne Methoden der Bespitzelung. Noch wichtiger und jahrzehntelang bewährt hat sich die Infiltration durch sogenannte V-Leute: "Es ist ein mächtiges, wirkungsvolles Instrument, das der Geheimdienst da in den Händen hält."

Steinke fordert offen die Abschaffung des VS: "Wenn der Inlandsgeheimdienst gegen legale politische Aktivitäten spioniert, dann schädigt das die Demokratie. Wenn der Inlandsgeheimdienst gegen - mutmaßlich - illegale politische Aktivitäten spioniert, dann (…) unterläuft [dies] das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit."

Abschaffung eher unwahrscheinlich
Allerdings ist die Bedeutung des täglich erfassten Herrschaftswissens in Verbindung mit dem kontinuierlichen Wachstum enorm und macht es unwahrscheinlich, dass der Verfassungsschutz wirklich abgeschafft wird. Unter Thomas Haldenwang ist der VS mächtiger als je zuvor.

Der liberale Jurist und Journalist Ronen Steinke hat ein wichtiges Sachbuch geschrieben. Alles, was wir über den Verfassungsschutz wissen müssen, finden wir darin. Er zeichnet ein realistisches Gesamtbild dieses Geheimdienstes und ermöglicht zugleich die Rehabilitierung der früheren Opfer der Überwachung als auch der heutigen. Dazu zählen neben der VVN viele andere Organisationen, Personen und Medien. Und die faschistische AfD? Für die VVN ist klar, dass die Partei mit politischen Mitteln bekämpft werden muss. Dieser "Politik-Beobachtungs-Geheimdienst" kann das nicht!

Ronen Steinke
Verfassungsschutz
Wie der Geheimdienst Politik macht
Berlin Verlag, Berlin 2023
ISBN 9783827014719
Gebunden, 224 Seiten, 24,00 EUR


Erstveröffentlichung am 20. September 2023
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