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Aus dem Susatal: Es geht los

Das Susatal, fotografiert von der Abtei St. Michael aus
 Foto: Fotogian on it.wikipedia
Lizenz: Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported
Zwischen Turin und Lyon soll für 20 Milliarden Euro eine Hochgeschwindigkeitsstrecke gebaut und in die Alpen hinein geschlagen werden, obwohl die bestehende Bahnstrecke überhaupt nicht ausgelastet ist. Was in Stuttgart der Gipskeuper, ist im Val di Susa asbest- und uranhaltiges Gestein, das durch den Tunnelbau freigesetzt würde.

Seit 20 Jahren protestieren die BewohnerInnen dort und leisten Widerstand. Bisher konnte kein einziger Spatenstich getan werden. Jetzt stehen die Projektbetreiber unter Druck: Gibt es keinen Baufortschritt, gehen die erheblichen Subventionen durch die EU flöten. Zur aktuellen Situation erreichte uns folgende mail aus dem Val di Susa:

"Liebe Freunde,
Heute Nacht sind sie gekommen. Und wieder verschwunden, nachdem sie von einem Steinhagel empfangen wurden. Die Zufahrtsstrassen sind durch gefällte Bäume und Felsen blockiert, die Bewegung hat ganze Arbeit geleistet. Das war natürlich nur ein Vorgeschmack. Die Mahnwache ist rund um die Uhr besetzt und wir haben Alarmstufe 1: allgemeine Mobilisierung im Tal für die nächsten Attacken. Unten der Artikel von "Repubblica" heute früh. Wie gesagt, steht die Presse nicht auf unserer Seite.
Denkt an uns!

Grüsse aus dem Valsusa auf dem Kriegsfuß,
S.
"

Valsusa, notte di tensione
Poi la rinuncia al blitz

"You are now entering Free Derry"

Sommer 1981: Im Westen erheben sich die Gipfel der Twelve Bens, die Straßenschilder auf dem Weg von Maam Cross nach Leenane sind in gälischer Sprache. Es ist eine gottverlassene Gegend. Trotzdem flattert an jedem Telefon-oder Strommasten eine kleine schwarze Fahne im Wind, oft hängt noch ein Plakat mit dem Bild von Margret Thatcher darunter: "Wanted for murder".
In Leenane eine Plakatwand: "Don`t let them die!" und die Zahl der Tage, die der Hungerstreik schon dauert.

Derry, Bogside: Eine einsame Hausmauer mit der Aufschrift "You are now entering Free Derry", Erinnerung an die Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung Ende der 1960er Jahre, auf dem freien Platz, der die Mauer umgibt, standen früher Häuserzeilen, niedergebrannt durch den loyalistischen Mob, dann abgerissen.

Heute stehen ausgebrannte Wracks von städtischen Bussen auf dem Platz, Überreste der Unruhen, die nach dem Tod von Bobby Sands und der anderen Hungerstreikenden ausbrachen.

Creggan Estate, Rathceeldrive, die Straße, in der die meisten Kinder Derrys leben - sagt "Mum".

"Mum" sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer und erzählt von einer Hausdurchsuchung durch die britische Armee ("the brits"), bei der sie zusehen musste, wie ihr Wohnzimmer komplett demoliert wurde, "sogar den offenen Kamin haben sie eingerissen", aber sie bewegte sich keinen Millimeter von ihrem Sofa, obwohl sie fast einen Herzinfarkt bekam. Aus gutem Grund: In ihrem Sofa waren Gewehre der IRA versteckt. Sie lacht, während sie das erzählt.

Ausflug mit Viviane, Sinn-Fein Aktivistin und Tochter des Hauses nach Muff, einem Küstenstädtchen auf der anderen Seite der Grenze, in der Republik Irland.

Am ersten Roundabout eine britische Patrouille. Zwei Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag, ein dritter leuchtet mit der Taschenlampe ins Auto. Er erkennt Viviane und beginnt sie zu beschimpfen: "IRA-Flittchen" und schlimmeres. Erst die deutschen Pässe bremsen ihn.

In einem Pub in Muff erzählt Viviane von ihrem letzten Aufenthalt im Verhörzentrum Castlereagh, zwei Finger haben sie ihr während des "Verhörs" gebrochen. Und wie froh sie ist, wenigstens einen Abend ohne den Dauerstress der britischen Besatzung verbringen zu können.

The peoples own MP

Am 16.3. 1981 stirbt Frank Maguire, der Parlamentsabgeordnete von Fermanagh-South Tyrone, an einem Herzinfarkt. Bei den fälligen Nachwahlen kandidiert Bobby Sands für das Anti-H-Block Komitee gegen Harry West, den Kandidaten der loyalistischen Ulster Unionist Party.

Es bleiben nur neun Tage für die Wahlkampane. Aber aus allen Teilen Irlands strömen Republikaner nach Fermanagh-South Tyrone, um zu helfen. Die Loyalisten halten dagegen. So berichten Wahlhelfer, die bis morgens um vier Plakate aufgehängt hatten, dass sie auf dem Rückweg feststellen mussten, das alle ihre Plakate weg waren. Sie gehen zum Wahlkampfbüro, beladen ihren Lieferwagen aufs Neue und fangen wieder von vorne an.

Am 9.April, dem Wahltag, bilden sich lange Schlangen vor den Wahllokalen. Abends werden die Wahlurnen verschlossen und mit einem Armeehubschrauber nach Enniskillen zur Auszählung geflogen. Dort, im College for Further Education, wird bis in den Nachmittag ausgezählt.

Dann tritt der Wahlleiter ans Mikropone und verkündet in die gespannte Stille hinein: "West, Harry Ulster Unionist Party 29.046 Stimmen. Sands, Bobby Anti-H-Block Komitee, politischer Gefangener 30.492 Stimmen".

Das Wahlprogramm von Bobby Sands waren die fünf Forderungen der Gefangenen:

1. Das Recht, jederzeit eigene Kleidung tragen zu dürfen.
2. Keine Zwangsarbeit im Gefängnis.
3. Das Recht, während der Freistunden die anderen politischen Gefangenen treffen zu dürfen.
4. Das Recht auf einen Besuch, einen Brief oder ein Paket pro Woche; ebenso das Recht, Unterrichtung und Freizeitgestaltung eigenständig zu organisieren.
5. Das Recht auf Haftverkürzung, das normalerweise allen Häftlingen zusteht



The People´s Own M.P. (Anonymous)

How many of us must die now
How many men must we loose
Before the Irish people
Their own destiny can use
From Tone or Robert Emmet
To Bobby Sands M.P.
And we gave him 30 000 votes
While in activity

Well no more will he remark sweet notes
Upon hte Ulster issue
All day across the snow flakes poured
The camp is deeply bare
For before he went on Hunger Strike
Young Bobby did compose
The Rythm of Time, The Weeping Wind
And The Sleeping Rose

(Refrain)
He was a poet and a soldier
He died courageously
And we gave him 30 000 votes
While in captivity

Thomas Ashe he gave everything in 1917
The Lord Mayor of Cork McSwiney died
His freedom to obtain
But never one of all our fallen
Died more courageously
Than young Bobby Sands from Twinbrook
The people´s own M.P.

(Refrain)

Oh forever we will remember him
That lad who died in pin
That his country north and south might be
United once again
For to mourn him is to organize
And build a movement strong
With Armalits and bullet bombs
And his music and his songs

(Refrain)

Bobby Sands über sich selbst

"Ein Tag in meinem Leben" - schrieb Bobby Sands in den H-Blocks von Long Kesh auf Toilettenpapier, mit einem Stift, den er in seinem Körper versteckt hielt.
(In einem Kassiber an den Armeerat der IRA vom 31.1.1981, aus den H-Blocks herausgeschmuggelt):

"Ich werde am 9. März siebenundzwanzig, also 9.3.54 geboren. Die Stella Primary School besucht und die Secondary in Rathcool. 9 Monate am Newtonabbey Tech. Dann als Lehrling bei einem Karosserieschlosser für 3 Jahre oder so. Ich war auch ein fantastischer Sportler. Als ich noch jung war, hab ich Fußball, Leichtathletik, Schwimmen und noch etwa zehntausend andere Sportarten gemacht. Aber ich war nie in einem Gaelic-football Verein. Übrigens habe ich für Willowfield Temperance Harriers (sehr protestantisch!) an allen wichtigen Laufwettbewerben im Norden für Jungs teilgenommen, nur zweimal war ich zu langsam und da haben sie mich geschnappt.

Das erste Mal wurde ich in Lisburn geschnappt. Ich war damals 18 und sehr naiv. Ich hatte eine "schlechte Zeit" in der Polizeikaserne und unterschrieb ein erzwungenes Geständnis. Verurteilt wurde ich Ende März, Anfang April 73 von Richter Higgins zu fünf Jahren wegen Besitz von 4 Pistolen, die dort versteckt waren, wo ich mich aufhielt (sie waren in keinem guten Zustand, deshalb kam ich so glimpflich davon). Die Dame des Hauses verkaufte ihre Seele für 300 Pfd. und haute ab nach England, vorher ließ sie die Briten ins Haus, um mir aufzulauern. (...)

Also, ich kam am 13.4.76 raus und lebte in Twinbrook mit Frau und Kind und wurde am 14.10.76 wieder geschnappt. (...) Ich wurde ins Verhörzentrum Castlereagh gebracht, wurde dort sehr schlecht behandelt, habe diesmal aber nur meinen Namen, Adresse und dass ich Arbeit suche , angegeben, ich habe nichts unterschrieben und nach 11 Monaten Untersuchungshaft (4 davon im H-Block) wurde ich zu 14 Jahren wegen vorsätzlichem Waffenbesitz verurteilt. Ich erkannte das Gericht nicht an. (...)

Die Verhandlung war eine Farce. Es gab einen Krawall, nachdem wir verurteilt worden waren, wir hatten nicht angefangen, die Wärter schlugen uns zusammen und drei von uns kamen in die Strafabteilung und ihnen wurden 6 Monate Haftverkürzung gestrichen.

Die ersten 22 Tage war ich in der Strafabteilung im Crumlin Road Jail, 15 Tage davon vollkommen nackt vor hunderten von Kriminellen. (...)

Mein Geburtstag wird wahrscheinlich in die spätere Stufe des Hungerstreiks fallen.

Was meine Familie anbetrifft: Meine Mutter und mein Vater sind wie alle Eltern, sehr verletztbar (...)

Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass ich sterben werde, ich spiele nicht den Draufgänger oder Egomanen. Ich bin sicher, ihr versteht mich (...)."

Wie alles anfing

16. September 1976

Der Gefangene, ein stiernackiger Rotschopf namens Ciceran Nugent, war zu drei Jahren wegen Entführung eines Lieferwagens verurteilt worden und war zufällig der erste wegen Terrorismus-Vergehens verurteilte IRA-Mann nach dem Stichtag für das Ende des special category status.

Nach der Kleidergröße für seine Gefängnisuniform gefragt, sagte er: "Ihr wollt mich wohl verarschen!" Das war der Moment, der Ereignisse in Gang setzte, die erst vier Jahre später zu einem außergewöhnlichen Abschluß kommen sollten.

Nugent wurde ohne jedes Kleidungsstück in eine Zelle gesperrt, er war gezwungen, sich mit einer Decke zu bekleiden.

Die Gefängnisregeln verlangten, dass ein Insasse bekleidet sein mußte, wenn er seine Zelle verlassen wollte. So kam Nugent und die IRA-Männer , die nach ihm eingesperrt wurden, in die Situation, dass sie vierundzwanzig Stunden am Tag eingesperrt waren.

Der Bruch der Gefängnisdisziplin durch ihre Weigerung, mit der Gefängnisverwaltung zusammen zu  arbeiten, zog weitere Bestrafung nach sich: Unter dem nordirischen System der bedingten Haftentlassung hatten die Gefangenen Anrecht auf 50% Straferlass bei guter Führung. Nichtzusammenarbeit hatte deshalb die Auswirkung, dass sich ihre Strafen faktisch verdoppelten.

"Zusammenarbeit" hätte sie berechtigt, vier Besuche von Familie und Freunden im Monat zu empfangen.

"Nichtzusammenarbeit"
kostete sie die drei "privilegierten" Besuche, und die Vorschrift, Gefängniskleidung tragen zu müssen, wenn sie den Besucherraum betreten wollten, kostete sie den vierten "vorgeschriebenen" Besuch.

Das isolierte sie praktisch komplett von der Außenwelt, ihr Kontakt wurde reduziert auf einen Brief im Monat hinaus und hinein.

Nachdem das Mobiliar ihrer Zellen bei Auseinandersetzungen mit den Wärtern zertrümmert worden war, liess man sie mit ihren Träumen und Erinnerungen und der harten Wirklichkeit eines 2,50 mal 3m großen Steinsargs allein, mit nichts außer einer Bibel, einer Matratze, drei Decken und einem Zellengenossen als Gesellschaft.

Der Decken-Protest hatte begonnen.

Irische Begräbnisse ...

Trauerzug für Bobby Sands
Foto - mit freundlicher Genehmigung: Bobby Sands Trust
Ein einsamer Dudelsackspieler geht die Stewardtownroad in Belfast hinunter.

Seine Melodie schwebt über den Köpfen der hunderttausendköpfigen Menge, die dem Sarg folgt und die Straßen säumt. Nur das Scharren ihrer Füße ist zu hören.

Im Sarg liegen die sterblichen Überreste von Bobby Sands, gestorben nach 66 Tagen im Hungerstreik. Auf dem Sarg die irische Trikolore, ein Paar schwarze Lederhandschuhe und eine weiße Rose.

Es regnet in Belfast an diesem 7.Mai 1981 und der rote Sand zwischen den Grabsteinen des Milltown-Friedhofs, mit ihren hängenden Christusfiguren und ihren marmornen Mariastatuen, wird von abertausend Füßen zerfurcht.

Owen Carron hält die Trauerrede: "Bobby Sands, dein Opfer wird nicht umsonst gewesen sein."

Dublin, 1. August 1915
O`Donovan Rossa ist in seine Heimat zurückgekehrt: Mitglied der Irish Republican Brotherhood, der Fenier. Wegen seines Kampfs gegen die britische Kolonialherrschaft 1865 zu lebenslanger Haft verurteilt, kommt er 1871 frei und geht in die USA. Dort stirbt er am 29. Juni 1915.

Jetzt ist sein Leichnam in der City Hall von Dublin aufgebahrt, aus ganz Irland sind tausende angereist, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Den Friedhof von Glasnevin überragt ein irischer Rundturm, seine Steine spiegeln an diesem Tag das Sonnenlicht, die Luft duftet nach trocknender Erde.

Padraig Pearse
hält die Trauerrede:

"Sie glauben, sie haben Irland befriedet.
Sie glauben, sie haben die Hälfte von uns gekauft und die andere Hälfte eingeschüchtert.
Sie meinen, sie hätten alles vorhergesehen und für alles vorgesorgt, aber sie sind Narren, Narren, Narren !
Sie haben uns unsre toten Fenier gelassen und solange Irland diese Gräber in sich trägt, wird ein unfreies Irland niemals befriedet sein."

Acht Monate später ist Padraig Pearse einer der Anführer des Osteraufstands gegen die englische Herrschaft.

31.Oktober 1921
Gezogen von zwei Pferden mit schwarzen Federbüschen, begleitet von Bischöfen im vollen Ornat, einer Abteilung von IRA-Freiwilligen in Uniform (was verboten ist), wird der Sarg von Terence Mac Swiney durch die Strassen von  London geleitet.

Mac Swiney kehrt aus dem Gefängnis in Brixton nach Cork in Irland zurück: Dort war er Bürgermeister und Offizier der örtlichen Einheit der IRA. Bei seiner Einführungsrede als Bürgermeister sagte er:
"Es sind nicht die, die am meisten Schaden zufügen können, sondern die, die am meisten leiden können, die siegreich sein werden."

Er wird von den Briten wegen des Besitzes verbotener Dokumente verhaftet und angeklagt. Am 12. August beginnt Mac Swiney einen Hungerstreik gegen seine Inhaftierung und stirbt nach 74 Tagen.   

"Unsere Rache ist das Lachen unsrer Kinder" (Bobby Sands)

Bobby Sands Wandmalerei in Belfast
Quelle: Selbst fotografiert (http://www.zeitgrund.de)
Fotograf/Zeichner: Olaf Baumann
Lizenz: CC-by-sa 2.0/de
Vor 30 Jahren, am 5. Mai 1981 starb Bobby Sands, Mitglied der Irisch Republikanischen Armee, inhaftiert in den H-Blocks von Long Cash in Lisburn/Nordirland, nach 66 Tagen im Hungerstreik.

Nachdem sie fünf Jahre gegen die Aberkennung des Status als politische Gefangene gekämpft hatten, setzten er und seine Kameraden das letzte Mittel, den unbefristeten Hungerstreik, ein.

Bis zum 3.Oktober, dem Abbruch des Streiks, starben zehn Gefangene im Hungerstreik.

Außer Sands waren das:

Francis Hughes (25 Jahre alt, am 12. Mai)
Raymond Mc Creesh (24 Jahre alt, am 21. Mai )
Patsy O`Hara (23 Jahre alt, am 21. Mai )
Joe Mc Donnell (30 Jahre alt, am 8. Juli )
Martin Hurson (25 Jahre alt, am 13. Juli )
Kevin Lynch (25 Jahre alt, am 1. August )
Kieran Doherty (25 Jahre alt, am 2. August )
Thomas Mc Elwee (25 Jahre alt, am 8. August )
Mickey Devine (27 Jahre alt, am 20. August )

Verantwortlich für ihren Tod war die britische Regierung unter Margret Thatcher.

"Unsere Rache ist das Lachen unsrer Kinder" (Bobby Sands)

Die in den nächsten Tagen folgenden Episoden aus der Geschichte des Hungerstreiks sind dem Andenken an diese zehn Männer gewidmet, verwendet wurden dafür Motive aus den Arbeiten von David Beresford, Tim Pat Coogan, Michael Farrell und eigenes Erleben.

"Über 1000 Strafanzeigen gegen S 21 - Gegner: Ist das noch Demokratie oder schon Polizeistaat, Herr Innenminister?"

Verdachtsunabhängige Videoüberwachung von Großdemonstrationen mit zehntausenden Teilnehmern bis zu Blockadeaktionen mit 50 Teilnehmer - allesamt friedlich -, Einkesselung von Protestierenden samt unbeteiligter Zuschauer ohne Ankündigung, ohne Aufforderung, die Versammlung aufzulösen - überfallartig und stundenlang bei Minus-Temperaturen, in Gewahrsamnahme bis zu sechs Stunden mit erkennungsdienstlicher Behandlung, Leibesvisitation etc.:

Das ist seit Ende der so genannten Schlichtung alltägliche Praxis der Polizei am Hauptbahnhof. Beamten von Polizeieinheiten außerhalb Stuttgarts ist das hiesige Verfahren aus ihrer Einsatzpraxis nicht bekannt, aber - so die Beamten - es gebe "von oben" die Anweisung, in Stuttgart anders zu verfahren.

Stuttgarter Landrecht also?

Auch bei der medialen Aufbereitung ihres "polizeilichen Handelns" ist die Pressestelle des Stuttgarter Polizeipräsidiums offensichtlich wenig zimperlich.

So beschwert sich eine Gruppe von Betroffenen, die Zweifel am Wahrheitsgehalt der Pressemitteilungen der Polizei äußert. Zu einer Pressemitteilung vom 01.02.2011, stellt sie in einem Schreiben an die Pressestelle der Polizei fest:

"1. Bei den Vorgängen am 01.02. am Kurt-Georg-Kiesinger-Platz wurden unsere Personalien nicht festgestellt.
2. Es wurden gegen uns keine Platzverweise im Zusammenhang mit den Vorgängen am Kurt-Georg-Kiesinger-Platz ausgesprochen.
3. Es ist deshalb unmöglich, dass die Polizei bei der Überprüfung der Personalien am ZOB feststellen konnte, ob wir bereits zuvor die Einfahrt am Kurt-Georg-Kiesinger-Platz angeblich blockiert haben."


Sie fordern eine öffentliche Korrektur der Polizeiversion, auch mit dem Hinweis auf die Verbreitung dieser Version durch die Medien. Die Polizeidarstellung war von den Stuttgarter Zeitungen bis zum Südkurier landauf, landab verbreitet worden: BILD vom 19.01.2011: "Über 1000 Strafanzeigen gegen S 21 - Gegner. Ist das Protest oder schon Anarchie, Herr Innenminister?"

Aktivist der Bürgerbewegung gegen Hochgeschwindigkeitstrassen im Susatal in Italien (NO TAV) spricht in Stuttgart!

Ausriß aus einem Mobilisierungsplakat der No TAV Bewegung
Paolo Prieri, Aktivist der Bewegung NO TAV, spricht im Rahmen der 6. Stuttgarter Open Fair auf der Versammlung "Recht auf Stadt" am 29.1. nachmittags nach der Demonstration ab 17.00 Uhr im Forum 3.

Außerdem findet am Vormittag von 11- 13 Uhr ein Gespräch/Erfahrungsaustausch mit Paolo statt (ebenfalls Forum 3 , Tanzsaal)

Im Susa Tal leistet eine breite Bürgerbewegung seit 20 Jahren Widerstand gegen eine ökologisch zerstörerische Hochgeschwindigkeitstrasse. Auffällig sind die Parallelen zum Kampf gegen S 21, sei es in den Propagandalügen der Betreiber, der Missachtung des Bürgerwillens, aber auch positiv in der Kraft und Entschlossenheit der Bewegung NO TAV.

Der Arbeitskreis "S21 ist überall - für eine europäische Vernetzung des Widerstands gegen unsinnige Bahnprojekte" lädt alle S 21 Gegner ein, Paolo Prieri zu hören und mit ihm zu diskutieren.

Stuttgart 21: Ein Brief aus dem Baskenland zum Schlichtungsverfahren

Protest Aufkleber gegen den LGV
Im Baskenland kämpft eine breite Bürgerbewegung seit 1996 gegen den Bau weiterer Hochgeschwindigkeitsstrecken (LGV), siehe auch diesen Beitrag. Martine Bouchet ist Sprecherin von CADE (Collectif des Associations de Defense de Environnement du Pays Basque), einem Zusammenschluß von 43 Organisationen und Vereinigungen, die gegen das LGV-Projekt im französischen Teil des Baskenlands kämpfen. Im folgenden Brief berichtet sie über ihre Erfahrungen mit der Schlichtung (Mediation) im Baskenland:

Guten Tag,

Wir freuen uns sehr, Nachricht von Euch zu erhalten, denn wir verfolgen so gut wir es können, was in Stuttgart passiert, und sind mit Eurem Kampf ganz und gar solidarisch.

Was die Schlichtung betrifft, so war im Baskenland von der Regierung eine Schlichterin ernannt worden. Wir sehen das folgendermaßen:

Das Hauptziel war es, die Bevölkerung in Erwartung der nahenden Regionalwahlen zu beruhigen und Zeit zu gewinnen. Für die gesonderte TGV-Hochgeschwindigkeitsstrecke sind hier die beiden größten Parteien (PS-Sozialistische Partei und UMP -“ die Partei, die in Frankreich an der Macht ist). Es gab keine wirkliche Schlichtung (das Wort „Mediation“ wurde benutzt, aber selbst nach der Mediatorin war es ein „Auftrag“, um zu sehen, wie die neue Bahnlinie ins Baskenland integriert und dabei die „empfindlichen Zonen“ (an die Stadt angeschlossene Gebiete oder Naturgebiete) vermieden werden könnten.

Natürlich konnten wir unsere Argumente vorbringen, aber wir haben das „Thema verfehlt“, denn ihr Auftrag war es eben nicht, das Projekt in Frage zu stellen, sondern möglichst zu beweisen, dass es die empfindlichen Zonen nicht verwüsten
würde.

Die Gegner der Schnellstrecke stehen aber auf dem Standpunkt, dass ihr Nutzen komplett bestritten werden muss, da das bereits existierende Eisenbahnnetz bei weitem nicht ausgelastet ist. Die Mediation hat also nur dazu gedient, in der Zeit der Wahlen ein 4-monatiges „stand by“ zu schaffen...

Frankreich (und Deutschland) haben so genannten „Vertrag von Aarhus“ unterschrieben. Wenn ein Projekt die Umwelt berührt (was sowohl für S 21 wie für die TGV-Schnellstrecke, abgekürzt LGV gilt), sieht dieser Vertrag vor, dass dann wir Bürger befragt werden müssen, so lange noch alle Optionen offen sind. Um den Anforderungen des Vertrages gerecht zu werden, hat Frankreich ein Verfahren der „öffentlichen Debatte“ eingerichtet. 2006 fand diese öffentliche Debatte im Baskenland statt, aber das war eine komplette Täuschung, da die vorgelegten Gegebenheiten, die das Projekt rechtfertigen sollten, falsch waren, ob es um den bestehenden Verkehr ging (die Zahlen wurden verdoppelt), um Entwicklungsperspektiven (mit Plänen für irrsinnige Wachstumsraten) oder um die (weit herunter geschätzten) Kosten.

Die gewählten Pro-LGV-Kandidaten stützen sich jetzt auf die Legitimierung durch die öffentliche Debatte, um ihr Projekt durchzusetzen -“ das ist die große Falle. Ich glaube, dass eine Schlichtung gemacht werden sollte, wenn zwischen den beiden Parteien ein Minimum von Vertrauen bestehen kann, sonst ist es eine Falle, weil die Seite, die eine falsche Debatte führt, sich anschließend auf ihre Legimität stützen kann. In Wirklichkeit ist das ein reiner Missbrauch von Demokratie.

Ich kenne den Stuttgarter Kontext natürlich nicht genügend. Aber ich denke trotzdem, dass es sicher eine kräftige Absprache zwischen der Macht und den Unternehmen für die Bauarbeiten der öffentlichen Hand gibt und die politischen Parteien in Deutschland so wie in Frankreich in den sehr großen Projekten sicherlich Finanzquellen erkennen...

Ich werde jedoch keinen klaren Standpunkt über die Schlichtung in Stuttgart abgeben können. Vor allem weil Deutschland hier den Ruf hat, ein Land zu sein, wo der soziale Dialog in den Sitten und Gebräuchen des Landes stärker verankert ist als in Frankreich -“ hier sind wir immer schneller beim Kräftemessen. Trotzdem muss ich Euch aufgrund meiner örtlichen Erfahrung zu größter Vorsicht raten...

- Unsere eigene „Legitimität“ haben wir uns erworben, indem wir selbst Volksabstimmungen organisiert haben, bei denen über 90 % der Abstimmenden zur Schnellstrecke „Nein“ gesagt haben; ist das nicht die beste Lösung, dass schließlich die betroffenen Bürger selbst sagen, was sie wollen?

Ich hoffe, diese Antwort ist ein wenig nützlich für Euch, und ich wäre wirklich sehr froh, wenn wir Euch ein bisschen helfen könnten: Einheit macht stark!

Ich warte auf Eure Nachrichten, bis sehr bald!

Ganz herzliche Grüße,
Martine Bouchet
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