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„Gezwungen, das Richtige so zu tun, dass es falsch aussieht“

Das Foto zeigt das Buchcover mit Titel und HerausgeberInnen vor dem Hintergrund eines zerstörten Gebäudes
© Sebastian Schröder
Anfang dieses Jahres erschien in der Edition Tiamat der Sammelband „Nach dem 7. Oktober – Essays über das genozidale Massaker und seine Folgen“, herausgeben von Tania Martini und Klaus Bittermann. Es war das erste im deutschsprachigen Raum erschienene Buch, das den 7. Oktober zum Thema hat. Aber wer nach Informationen und Analysen sucht – in diesem Buch findet mensch sie nicht.

Adressiert ist das Buch an die linke Öffentlichkeit in Deutschland. Die vielen linken Organisationen und Menschen in Deutschland, die verschämt oder passiv-aggressiv schweigen oder die sogar die israelische Politik rechtfertigen, sollen durch das Buch genau darin bestätigt und bestärkt werden.

Nach rechtsstaatlichen Maßstäben hätten die Verbrechen vom 7. Oktober durch ein unvoreingenommenes Justizsystem untersucht und dann über die Täter*innen und die Verantwortlichen geurteilt werden müssen. In einem zweiten Schritt hätten die Ursachen – die systematische Ungleichheit und die historische Ungerechtigkeit – verhandelt und im Kompromiss überwunden werden müssen. Nur dieser Prozess der Versöhnung kann den Konflikt lösen.

Stattdessen sieht die ganze Welt in Gaza in allen Einzelheiten ein außergewöhnliches Kriegsverbrechen, das in Heftigkeit, Ausmaß und Dauer so zuletzt im Zweiten Weltkrieg – bei der Belagerung von Leningrad 1941–44 – verübt wurde. Blockade, Bombardierung, Vertreibung, Verschleppung und Ermordung, Zerstörung ganzer Stadtteile und jeglicher Infrastruktur charakterisieren das Vorgehen der israelischen Armee. Es sind unzählige rassistische und gewalttätige Erklärungen höchster Politiker*innen und Militärs belegt, ebenso ist die vollkommen entgrenzte Kriegsführung der israelischen Armee dokumentiert.

„Nach dem 7. Oktober“ bietet keine Analysen zum Verständnis der Ereignisse, sondern ausschließlich eine radikal pro-israelische Position, die der Rechtfertigung von Unverhältnismäßigkeit und Entmenschlichung dient, wie im Folgenden dargelegt werden soll.

Nur vier der Texte wurden für das Buch geschrieben, alle anderen Beiträge sind ursprünglich Veröffentlichungen in der deutschen Presse aus dem Zeitraum von Oktober bis Dezember 2023. „Sie bezeugen einen bestimmten historischen Moment“, so Martini und Bittermann Und vor allen Dingen zeigen sie einen einseitigen Standpunkt.

Die zentralen Argumente werden von Martini und Bittermann im Vorwort knapp formuliert. Indem der 7. Oktober als „genozidales Massaker“ gelabelt wird, soll es als heutige Verlängerung des historischen Judenmordes des deutschen Faschismus gesehen werden. Das „Charakteristische der Shoah“ sei der „Antisemitismus und das Totale der Tat“. Die Herausgeber*innen sehen deshalb den „Zionismus als legitimes Projekt einer verfolgten und versprengten Minderheit“. Diese Position ist zentral für die Rechtfertigung der israelischen Politik gegenüber den Palästinenser*innen.

Der Gegner ist die postkoloniale Theorie, die nach Meinung der Herausgeber*innen die Delegitimierung des Staates Israel zum Ziel hat. Denn durch Kritik an Unrecht und Ungerechtigkeit wird die herausragende Bedeutung des Staates Israel als Folge von einzigartiger Verfolgung und Ermordung relativiert. „Israel […] als siedlerkolonialistischen Staat zu beschreiben, der Rassismus, gar Apartheid praktiziere und schlimmer noch, sich eines Genozids an den Palästinensern schuldig mache, soll diesen Staat delegitimieren.“ Im Kontext der anderen Thesen von Martini/Bittermann ist klar, dass jede kritische Äußerung als substantielle Gefährdung des Staates Israel, und damit des Staates der Überlebenden der Shoa, gelesen werden soll. Israelkritik und Antisemitismus werden gleichgesetzt. Auf die analytische Kategorie „siedlerkolonialistischer Staat“ wird nichts weiter entgegnet, auch nicht auf die Vorwürfe von systemischem Rassismus.

Während also der israelische Staat „als sichere Heimstätte und Resultat aus der von Diskriminierung, Verfolgung und Mord geprägten Geschichte der Juden und Jüdinnen“ gesehen wird, seien die Taten des 7. Oktober „unbeschreibbar“: „Das Morden der Hamas war derart hassvoll, sadistisch und entmenschlichend, dass die richtigen Worte fehlen, um zu beschreiben, was geschehen war.“

Israel ist das Opfer der Hamas, die „das Töten aller Juden“ zum Ziel hat. Obwohl die Hamas „seit 2007 die Palästinenser regelrecht enteignet und unterdrückt hat“ – was immer das auch genau heißen mag – werden jetzt Hamas und Gaza von Martini/Bittermann gleichgesetzt. „Dieses Massaker war lange und im Detail geplant – mit immens viel Geld und einer ungeahnt perfekten Infrastruktur in Gaza im Rücken.“ Nach dieser Argumentationskette sind alle Taten der israelischen Armee – obwohl Martini/Bittermann zugeben, dass die „Folgen der Bombardierung […] fürchterlich“ sind – gerechtfertigt: „Dennoch ist die Zerstörung der terroristischen Infrastruktur und der Hamas alternativlos.“ Stützen wollen die Autorinnen ihre kollektive Dämonisierung der Palästinenser*innen mit den Ergebnissen einer Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung, nach der die Mehrheit der befragten Palästinenser*innen die Taten des 7. Oktobers gutheiße.

Nicht nur werden Hamas und Gaza gleichgesetzt, sondern die Kritik an der israelischen Regierung wird pauschal mit dem Antisemitismus-Verdacht belegt: „Andere […] betrieben eine perfide Täter-Opfer-Umkehr. Weltweit kam es zu antisemitischen Äußerungen und Übergriffen.“ Damit die klassische Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus diffamierend wirken kann, müssen die Autor*innen unkonkret bleiben. „Oft wurden Plakate, die ihre Gesichter [der israelischen Geiseln] zeigten und in vielen Metropolen plakatiert waren, um an sie zu erinnern, heruntergerissen.“

Dass die israelische Regierung rechtsradikal ist, kann von den Autor*innen nicht ignoriert werden. Im Gegensatz zur „rechtsextremen Hamas“ gibt es in Israel anscheinend aber nur zwei Faschisten, und deren Agieren ist dysfunktional: „Ein Finanzminister Bezalel Smotrich oder ein Itamar Ben-Gvir […] sind längst auch ein Risiko für Israels innere Sicherheit.“ Die völkerrechtswidrige Besatzung oder die Einteilung der Menschen anhand ethnischer Kriterien werden nicht angesprochen. Stattdessen werden der israelische Staat und die israelische Gesellschaft als vorbildlich demokratisch beschrieben. Mit dem Verzicht auf die reaktionäre Justizreform und dem Erhalt der Rolle des Obersten Gerichts, mit dem Einsetzen einer Kommission zur Untersuchung der Fehler der Armee und mit einer Meinungsumfrage, in der dem Rücktritt von Netanjahu – nach Kriegsende – mehrheitlich zugestimmt wird, beweist sich nach Martini/Bittermann Israel als zivilisiertes Ganzes, das unter den Fehlern von Netanjahus Regierung leidet.

Sie rekurrieren auf das Bild von Israel als der einzigen Demokratie im Nahen Osten; so wollen sie davon ablenken, dass die Mehrheit der Bürger*innen rechts bis rechtsaußen gewählt hat, dass die Mehrheit der jüdisch-israelischen Bevölkerung rechts ist. Israel ist nicht nur das Opfer der Hamas, sondern auch der feindlichen arabischen Nachbarländer: „Dem Beschuss aus Gaza folgten Raketen aus Jemen und Libanon. Israel blieb keine Zeit für Trauer.“

Diese Thesen – israelische Harmlosigkeit gegen palästinensisch-arabische Totalaggression – sind der Grundkonsens aller Beiträge des Buches. Viele Artikel sind nicht der Rede wert; aus einigen Beiträgen sollen aber exemplarische Passagen zitiert werden.

Der Artikel „Wir, die Linken? Nicht mehr!“ der französischen Soziologin Eva Illouz gehört zu den bekanntesten Texten in der Diskussion in Deutschland, auch weil die Süddeutsche Zeitung auf eine Bezahlschranke verzichtet. Die linksliberale Intellektuelle beruft sich als Einzige auf rechtliche Kategorien: „Moralisches Empfinden, bürgerliches Recht und internationales Recht machen eine klare Unterscheidung zwischen verschiedenen Tötungsarten. Kollateralschäden […] unterscheiden sich moralisch und rechtlich von der Enthauptung von Kindern, weil ein anderes Maß an Absicht und direkter Verantwortung dahinter steht. Diese Unterscheidung zu leugnen, käme einer Leugnung der Voraussetzungen unseres Rechtssystems gleich.“ Da schon mit den ersten Erklärungen israelischer Politiker*innen und Generäle nach dem 7. Oktober offen der Bruch des Völkerrechts angekündigt wurde, richtet sich jede Forderung nach der Einhaltung internationalen Rechtes immer gegen Israel, das hat Eva Illouz wohl als eine von wenigen nicht erkannt. Und auch der Mythos der durch die Hamas enthaupteten Kinder wurde bekanntlich kurz nach dem 7. Oktober zweifelsfrei widerlegt. Trotzdem macht Illouz diese Lüge zu einem wichtigen Bild in ihrer Argumentation. Natürlich schweigt sie gleichzeitig zu den Fotos und Videos der durch israelische Bomben geköpften Kinder in Gaza.

Sie besteht auch darauf, dass es zwischen dem allgemeinen Konflikt zwischen Palästinenser*innen und Israelis einerseits und der Intention der Hamas andererseits keinen Zusammenhang gäbe: „Aber wir haben es hier mit mehreren […] Narrativen ohne feste oder ursächliche Verbindung zu tun.“ Sie sagt daraus folgernd: „[…] ich weigere [mich], das Leiden der Palästinenser am Verlust ihres Landes zu kontextualisieren. Wenn ich ihre Tragödie erfassen will, muss ich den Kontext ausblenden.“ Nicht verstehen wollen als Erkenntnismethode: So versucht sie, die israelische Regierung und Armee zu decken, und gleichzeitig das rechtswidrige und grausame Verbrechen an den palästinensischen Menschen zu relativieren.

Der Soziologe Armin Nassehi ist in der deutschen Öffentlichkeit als konservative Stimme sehr präsent. Bei ihm heißt es: Israel „kann nach dem Überfall der Hamas nur alles falsch machen. Die Hamas nicht zu zerstören, wäre eine Garantie für bereits angekündigte Wiederholungen des Überfalls. Es zu tun, erzeugt Bilder, die Israel ästhetisch in die Nähe eines Aggressors bringen. Die asymmetrische Kriegsführung der Hamas macht die eigene Bevölkerung nicht nur zur Geisel, sondern führt den Gegner als moralisches Monster vor. Die Kategorien verschwimmen, und das nicht, weil Israel prinzipiell etwas falsch machen würde, sondern weil es gezwungen wird, das Richtige so zu tun, dass es falsch aussieht.“ Offener kann die bedingungslose Unterstützung der israelischen Kriegsverbrechen nicht formuliert werden.

Seyla Benhabib, weltbekannte Politologin, Philosophin und Mitherausgeberin der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, fordert: „Es darf nicht zu einer zweiten Nakba kommen.“ Allerdings sind die von ihr geforderten Maßnahmen ja gerade zentrale Elemente der systematischen Vertreibung: „Der Waffenstillstand muss mit der sofortigen Evakuierung der Verwundeten, Alten und Jungen aus dem Gazastreifen einhergehen. […] Die Nachbarländer und die Gemeinden im Westjordanland sowie Jordanien und Ägypten und andere Länder müssen sich bereit erklären, palästinensische Flüchtlinge aufzunehmen, die den Kampfhandlungen entkommen wollen.“

Der Historiker Volker Weiß hat ein Standardwerk zur Neuen Rechten geschrieben. Er behauptet in „Nach dem 7. Oktober“: „Hinter einer pro-israelischen Fassade der Partei gibt es […] ganz andere Präferenzen.“ Die AfD, die im Bundestag 2019 den Anstoß für den berüchtigten Pro-Israel-Beschluss zu BDS (Boykott, Desinvestition, Sanktion) gegeben hat, ist „als Bollwerk gegen Antisemitismus […] unglaubwürdig.“ Das bürgerliche Pro-Israel-Lager möchte anscheinend nicht mit der AfD zusammen gesehen werden. Gewöhnlicher Rassismus darf bei Weiß auch nicht fehlen: Antisemitische Thesen „rufen im Netz begeisterte Reaktionen bei Nutzern mit türkischen und arabischen Namen hervor“.

Vier Beiträge wurden in „Nach dem 7. Oktober“ zum ersten Mal veröffentlicht. Zu Doron Rabinovici „Im Morgengrauen“ und Natan Snaider „Die Wunde Israel“ wird in Kürze ein eigener Artikel erscheinen, da dies die beiden programmatischen Texte des Buches sind.

Phillipp Lenhards nichtssagender Aufsatz „Worte finden“ folgt ganz der oben beschriebenen Argumentationskette. Neuartig ist allerdings seine These, die der Abwertung der Menschen mit palästinensischem Hintergrund in Deutschland dient: „Palästinenser stellen […] mit geschätzten 200.000 Personen […] eine vergleichsweise kleine Gruppe dar. […] Die Forderung, endlich den ‚migrantischen Stimmen‘ zuzuhören, diente also nicht selten dem Zweck, unter Verweis auf palästinensische Kronzeugen die deutsche Unterstützung Israels zu delegitimieren.“

Es folgen jetzt Zitate aus „Vom UN-Podium in den Gaza-Tunnel“ von Thomas von der Osten-Sacken und Oliver M. Piecha, eigens für das Buch „Nach dem 7. Oktober“ geschrieben:

„Da hocken sie nun im Dunklen der Tunnel von Gaza […] sie tragen ihr grünes Band um die Stirn und eine Balaclava macht sie gesichtslos. Bis sich irgendwo eine Falltür öffnet, der Himmel sichtbar wird und etwas Furchtbares auf die Welt losgelassen wird. Quälen, Töten, Vergewaltigen und Beutemachen: So verweist ihr Stammbaum doch eher auf die Orks, dieses Fußvolk des Bösen aus Tolkiens ‚Herr der Ringe‘. […] Es fällt schwer, solche Gestalten ob ihrer stumpfen, ungeheuren Brutalität nicht zu entmenschlichen.“

„Die hohe Kunst der Palästinenser bestand über Jahrzehnte im Sich-oben-Halten; möglichst ganz oben auf der Agenda, immer getrieben von der Angst, unter die Aufmerksamkeitsschwelle zu rutschen. ‚Palästina‘ wurde so zu einer extrem erfolgreichen Marke.“

„Wenn der Palästinenser nicht um Aufmerksamkeit heischt, ist er praktisch schon vergessen.“

„Der Palästinenser harrt als Ork im Tunnel oder liegt als Kind unter Haustrümmern begraben, ob Täter oder Opfer, er ist gesichtslos.“

„Wie ein Heer von Golems stehen sie [gemeint sind Pro-Palästina-Demonstrierende] plötzlich massenhaft herum, weil der Hass auf Israel einen Funken Lebendigkeit in ihnen erregt hat. Wirklich relevant ist dabei wohl einzig die Frage nach dem Identifikationsangebot ‚Palästina‘ als Ausdruck diverser Frustrationserfahrungen muslimisch geprägter Einwanderer.“

Wir fragen die anderen Autor*innen in „Nach dem 7. Oktober“: Macht es Ihnen nichts aus, im gleichen Buch wie Osten-Sacken/Pliecha zu veröffentlichen?

Wir fragen die Rezensent:innen des Buches „Nach dem 7. Oktober“: Warum haben Sie nicht auf die Aussagen von Osten-Sacken/Pliecha hingewiesen?!?

Dieses Buch unterstützt voll und ganz die brutale Vertreibung, Unterdrückung und Vernichtung des palästinensischen Volkes durch die israelische Politik. Nirgendwo Zweifel, nirgendwo Debatte – alle Autor*innen stehen felsenfest an der Seite des israelischen Staates. Ihre Beiträge erklären nichts und rechtfertigen alles.

Eine Rezension von Sebastian Schröder, Diplom-Soziologe

Erstveröffentlichung auf Die Freiheitsliebe.


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