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Automatisiertes Töten

Herbert Marcuse in Newton, Massachusetts, 1955
Copyright: Marcuse family, represented by Harold Marcuse

Ein sehr weitsichtiger Text von Herbert Marcuse, wenn man bedenkt, die sogenannte digitale Revolution, der Quantensprung in der Möglichkeit automatisiert zu morden, war noch nicht wirklich in Sicht, als dieser Text 1968 veröffentlicht wurde. Mit der neuen Drohnentechnik, bei der jemand am Schreibtisch sitzt und mit dem Joystick das Ziel ansteuert, wurde das letzte Band zwischen Opfer und Täter durchtrennt, Mord wird zum Spiel.

"(...) Besonders aufschlußreich und am bezeichnendsten für den Unterschied zwischen den neuen und den überlieferten Formen ist das, was wir technologische Aggression und Befriedigung nennen können. Das Phänomen ist rasch beschrieben: der Aggressionsakt wird physisch durch einen weitgehend automatischen Mechanismus ausgelöst, der weit stärker ist als der Mensch, der ihn in Bewegung setzt, in Bewegung hält und über dessen Ziel und Zweck entscheidet. Der extremste Fall ist die Rakete; das alltäglichste Beispiel das Auto. Bei der hier aktivierten und verbrauchten Kraft handelt es sich um mechanische, elektrische, nukleare Energie von "Dingen" und nicht um die triebgebundene Energie des Menschen. Hier wird gleichsam Aggression von einem Subjekt auf ein Objekt übertragen oder sie wird durch ein Objekt zumindest vermittelt, wobei das Ziel nicht durch einen Menschen, sondern vielmehr durch ein Objekt zerstört wird. Diese Veränderung in der Beziehung zwischen menschlicher und materieller Energie, zwischen der objektiven und der subjektiven Komponente der Aggression (der Mensch wird weniger auf Grund seiner physischen als auf Grund seiner psychischen Fähigkeiten zum Subjekt und Diener der Aggression) muß auch die psychische Dynamik verändern. Folgende Hypothese scheint durch die innere Logik des Prozesses nahegelegt: mit der "Delegation" von Zerstörung auf ein mehr oder weniger automatisches Ding, eine Menge oder ein System von Dingen wird die Triebbefriedigung des menschlichen Subjekts zwangsläufig unterbrochen, frustriert und "übersublimiert". Und solche Frustration drängt nach Wiederholung und Steigerung: mehr Gewalt, erhöhte Geschwindigkeit, größere Reichweite. Gleichzeitig geht damit eine Schwächung der persönlichen Verantwortung, des Gewissens, der Schuld und des Schuldbewußtseins einher: nicht ich als (moralisch und körperlich) handelnde Person habe es getan, sondern die Maschine. "Die Maschine" -“ das Wort deutet darauf hin, daß ein Apparat von menschlichen Wesen die Stelle des mechanischen Apparats einnehmen könnte: die Bürokratie, die Verwaltung, die Partei oder der Verband sind die Verantwortlichen; ich als Individuum bin nur Werkzeug. Und ein Werkzeug kann in ethischer Hinsicht überhaupt nicht verantwortlich oder schuldig sein. Damit wäre eine Schranke der Aggression aufgehoben, die die Kultur in einem langen und gewaltsamen Prozeß der Disziplinierung errichtet hatte. Damit wäre aber auch die erweiterte Reproduktion der Gesellschaft im Überfluß in einer verhängnisvollen psychischen Dialektik verfangen, die in die wirtschaftliche und politische Dynamik einmündet und diese vorwärtstreibt: je mächtiger und "technologischer" die Aggression sich gestaltet, um so weniger kann sie die primären Impulse befriedigen und beschwichtigen und um so stärker drängt sie nach Wiederholung, Intensivierung und Eskalation.

Sicher ist der Gebrauch von Werkzeugen der Aggressivität so alt wie die Zivilisation selbst, aber es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen den technologischen und den primitiveren Formen der Aggression. Letztere waren nicht nur quantitativ verschieden (d.h. schwächer); sie verlangten auch eine weit größere Anstrengung, eine stärkere Beteiligung des Körpers als die automatischen oder halbautomatischen Maschinen der Aggression. Das Messer, das "plumpe Werkzeug" und sogar der Revolver sind in viel stärkerem Maße "Teil" des Individuums, welches sie benutzt, und sie bringen dieses Individuum in eine engere Beziehung zu seinem Ziel. Die menschlichen Opfer des Gewehrs sind wahrnehmbar; die des Bomberflugzeuges und der Rakete sind der Wahrnehmung des Täters entrückt. (...)"

Aus: Herbert Marcuse. "Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft"

Haribo macht Kinder froh - und Putschisten ebenso

Foto: Alchemist-hp

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Die nicht gewählte brasilianische Regierung hat einen weiteren Schritt zur Umsetzung des Wunschprogramms der Unternehmerverbände unternommen: Der Leiter der Inspektion zur Bekämpfung von der Sklaverei ähnlichen Arbeitsbedingungen wurde abgesetzt, die Behörde soll umstrukturiert, die Definition von Sklavenarbeit aufgeweicht werden -“ ein Schritt, der keineswegs nur in der linken Öffentlichkeit und ihren Medien als Teil des Vorhabens bewertet wird, den Kampf gegen diese Arbeitsbedingungen zu beenden. Die “Brücke zur Zukunft-, wie das Programm von Temer und Konsorten euphorisch getauft worden war, erweist sich als das, was Kritiker von Beginn an sagten: Eine Brücke in die Vergangenheit. Wie andere auch, hat LabourNet Germany verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die bundesdeutschen Unternehmen an der Absetzung der gewählten sozialdemokratischen PT-Regierung keineswegs so unbeteiligt waren, wie es in der hiesigen Medienlandschaft zumeist dargestellt wurde. Sowohl die damaligen antidemokratischen Bekundungen der Topmanager von VW und Mercedes zeigen dies, als es auch die Rolle der deutschen Unternehmen im Paulistaner Unternehmerverband FIESP nahe legt. Es ist der Verband, der sich -“ in offen antidemokratischer Kampagne -“ für die Absetzung der gewählten Regierung (mit Millionenbeträgen) stark machte. Dass diese Unternehmen von diesem „Regierungswechsel“ profitieren, zeigt nun das Beispiel Haribo. Siehe dazu eine kurze Materialsammlung beim LabourNet zum Vorgehen der brasilianischen Regierung -“ und zu den Arbeitsbedingungen nicht nur bei den Haribo-Zulieferfirmen.


Vom LabourNet stammt dieser Vorspann und man kann sollte dort auch Fördermitglied werden.

nachschLAg: Ein unvollständiger Wochenrückblick

LATEINAMERIKA
Die Politik der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) stand im Mittelpunkt der Analysen und Debatten des ersten Tages des Internationalen Forums zur Sozialpolitik für arbeitende Kinder und Jugendliche, zu dem sich an die 300 arbeitende Kinder, Wissenschaftlerinnen, Studentinnen und Aktivisten aus drei Kontinenten in der Universität San Andrés von La Paz in Bolivien eingefunden hatten.

BRASILIEN
Der brasilianische Senat bewahrt den Sozialdemokraten Aécio Neves trotz Korruptionsvorwürfen vor einer Suspendierung. Er stellt sich damit gegen einen Entscheid des Obersten Gerichts.

In Brasilien sind im Jahr 2016 mindestens 118 Indigene ermordet worden. Das geht aus dem Anfang Oktober veröffentlichten Jahresbericht Conselho Indigenista Missionário (CIMI) hervor.

KOLUMBIEN
Dunkle Wolken über Kolumbiens Friedensprozess: Experten sehen eine große Herausforderung durch die 2018 anstehenden Präsidentschaftswahlen.

Kaum zehn Tage nach dem Massaker in der Nähe der Pazifikstadt Tumaco haben vermutlich kolumbianische Streitkräfte einen weiteren Zivilisten ermordet.

Die Gerichtsverhandlung gegen den Großgrundbesitzer Santiago Uribe wegen Paramilitarismus hat begonnen. Die Staatsanwaltschaft hatte im Juni die Anklage wegen Mord und Bildung einer kriminellen Vereinigung trotz Einspruch der Verteidigung bestätigt.

KUBA
Kubanische Ärzte prangern Auswirkungen der Blockade an: Vom 1. April 2016 bis zum 31. März 2017 übersteigt der geschätzte Wert der aufgrund der Blockade entstandenen wirtschaftlichen Schäden im Gesundheitsbereich Kubas 87 Millionen Dollar

Der ständige Vertreter Boliviens vor der UNO Sacha Llorenti forderte am Dienstag vor der UNO die sofortige Aufhebung der US-Bockade gegen Kuba, da es sich dabei um eine schwerwiegende und wiederkehrende Verletzung des Völkerrechts handle

Ohne großen Medienrummel, fast geräuschlos, kündigte Kubas Internetversorger ETECSA vor wenigen Tagen die Umsetzung eines alten Versprechens an: der massenhafte Ausbau privater Internetanschlüsse. Seit Ende letzten Monats profitieren die ersten fünf Provinzen und die Hauptstadt Havanna vom schnellen Internet „en casa“.

VENEZUELA
Nach den Regionalwahlen am Sonntag erkennt das oppositionelle Parteienbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) das Ergebnis nicht an. Zuvor hatte die Wahlbehörde CNE den Sieg der regierenden Sozialisten von Präsident Nicolás Maduro in 17 der 23 Bundesstaaten bestätigt. Die Opposition werde fünf Gouverneure stellen, im Bundesstaat Bolívar im Süden des Landes war der Ausgang bis zuletzt noch nicht entschieden. Bislang kontrollierte die Vereinte Sozialistische Partei (PSUV) 20 Bundesstaaten.

Gegen alle Voraussagen hat Venezuelas regierende Sozialistische Partei (PSUV) bei den Regionalwahlen am Sonntag einen großen Erfolg feiern können. Sie gewann in mindestens 17 der 23 Bundesstaaten die Gouverneursämter, die Opposition konnte sich nur in voraussichtlich fünf durchsetzen. In einem Staat, Bolívar, lagen die Kontrahenten so knapp beieinander, dass der Nationale Wahlrat (CNE) in der Nacht zum Montag noch keinen Sieger verkünden wollte. Die Beteiligung an der Abstimmung lag bei über 60 Prozent und damit deutlich höher, als die Demoskopen im Vorfeld erwartet hatten.

Ein Gemeinschaftsprojekt von Einfach Übel und redblog, Ausgabe vom 20. Oktober 2017

Das Ultimatum

Demonstration von Referendums­befürwortern vor dem katalanischen Wirtschafts­ministerium am 20. September 2017

Foto: Màrius Montón

Lizenz: Creative-Commons / „Namensnennung -“ Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“.
Auf das Angebot der katalonischen Regierung, mit der Zentralregierung zu verhandeln, kam ein Ultimatum: Bis zum Montag, den 16. Oktober 2017 verlangt Madrid eine schriftliche Erklärung, ob Katalonien seine Unabhängigkeit erklärt habe. Sollte dies der Fall sein, werde die Zentralregierung die Regionalregierung absetzen und die Zwangsverwaltung in die Wege leiten.
Die Uhr tickt, die Gerüchte über gegenstandslose und doch geführte Verhandlungen nehmen zu ... und es bleibt dennoch Zeit, hinter den Rauch zu schauen.

Raul Zelik hat auf häufig gestellte Fragen und die Tatsache, dass das Für und Wider einer Unabhängigkeit auch durch die Linke (in Deutschland) geht, mit dreizehn Thesen reagiert.
Raul Zelik schätze ich. Er hat einige Bücher geschrieben, die diesen Konflikt berühren, wie zum Beispiel „Mein bewaffneter Freund“, in dem es auch um die baskische Unabhängigkeit geht.
Er hat sehr oft politisch Stellung genommen und sich politisch eingemischt.
Raul Zeliks Thesen sind deshalb wichtig, weil sie einen Teil meines Herzens berühren. Natürlich wünscht man sich einen politischen Prozess (auch in Katalonien), der über einen Nationalismus, über eine Ethnisierung der sozialen Fragen hinausgeht. Noch mehr wünscht man sich, dass diese Teilmengen im Lauf eines politischen, vielleicht sogar revolutionären Prozesses herausgespült werden -“ was wir in vielen politische Bewegungen erlebt und unterstützt haben.
Und selbstverständlich ist es eine Wohltat, wenn überhaupt einmal in Europa der Wind „links“ weht, und die zentrale Konfliktlinie nicht zwischen Innen (Inländer) und Außen (Ausländer/Flüchtlinge), sondern zwischen Oben und Unten verlaufen würde.
Und es gibt auch die andere Seite, die mit diesen Sympathien, Erfahrungen und Enttäuschungen erst entstanden ist: Das Misstrauen gegenüber „nationale Unabhängigkeitsbewegungen“, in denen „David“ gegen „Goliath“ tapfer kämpft, ohne zu sagen, wer „David“ ist und was „David“ im Detail von „Goliath“ unterscheidet, außer dass er viel kleiner ist ...
Deshalb ist beides wichtig: Die Begeisterung für einen solchen politischen Prozess und die unangenehmen Fragen!

Zuerst also die Thesen von Raul Zelik und danach die fünf Re-FAQs von meiner Seite.

13 FAQs zu Katalonien, Republik und Unabhängigkeit von Raul Zelik

In den Diskussionen dieser Tage tauchen immer wieder dieselben Thesen auf: Die reichen Katalanen wollen nicht teilen, die Regierung Puigdemont handelt unverantwortlich, sollte man nicht besser auf eine Reform innerhalb Spaniens setzen? Hier meine 13 FAQs zum katalanischen Konflikt.

Warum sucht Katalonien eigentlich keinen Kompromiss?

Die katalanische Seite sucht seit 20 Jahren einen Kompromiss, wird vom Zentralstaat aber schlicht und einfach zurückgewiesen.
Dazu muss man wissen, dass die Unabhängigkeitsbewegung bis Mitte der 2000er Jahre in Katalonien sowieso nur eine marginale Rolle spielte. Dass sie seitdem so stark geworden ist, hat damit zu tun, dass der Zentralstaat den Reformversuch in den 2000er Jahren blockierte. 2005/6 versuchte eine Mitte-Linkskoalition aus PSOE, Grünen (ICV) und katalanischen Linksrepublikanern (ERC) nämlich das Autonomiestatut zu erneuern. Es ging um eine Anerkennung der Plurinationalität Spaniens und Reformen, die ein föderales System ermöglicht hätten. Dieses Autonomiestatut wurde erst von der PSOE-Mehrheit im gesamtspanischen Parlament beschnitten, dann 2010 vom Verfassungsgericht ganz für illegal erklärt. Viele Menschen sagten sich daraufhin: Wenn nicht einmal mit der Sozialdemokratie föderale Reformen möglich sind, werden wir innerhalb Spaniens nie etwas verändern können. Als Antwort gehen seither jährlich mehr als eine Million der 7 Millionen KatalanInnen auf die Straße und fordern das Recht, „selbst zu entscheiden“.

Eine demokratische Reform Spaniens wäre doch viel besser.

Eine demokratische Reform Spaniens scheint aber unmöglich. In den 2000er Jahren ist sie an der PSOE gescheitert, Podemos ist 2015 auf 20 Prozent gekommen.
Na schön, aber es gibt ja auch eine Verfassung, die bestimmte Reformen und ein Unabhängigkeitsreferendum verbietet.
Genau diese Verfassung ist das Problem. Sie wurde 1978 verabschiedet, als Spanien noch eine faschistische Diktatur war. Spaniens Öffnung war das Resultat eines Paktes zwischen den alten Eliten der Franco-Diktatur und der PSOE. Dieser Staatspakt modernisierte Spanien, sicherte den Franquisten aber ihre Machtpositionen in Polizei, Justiz und Großkonzernen. Außerdem wurde Spanien dauerhaft zu einem monarchistischen Zentralstaat mit Autonomiegemeinschaften (die der Zentralstaat jederzeit einseitig suspendieren kann). Eine föderale Lösung und die Gründung einer Republik wurden damit ausgeschlossen.
Und: Der Verfassungspakt von 1978 ermöglichte, dass die Verbrechen der Franco-Diktatur bis heute ungesühnt geblieben sind.

Was haben die KatalanInnen gegen den König? Sein Vater hat Spanien doch immerhin die Demokratie gebracht.

Nichts falscher als das. König Juan Carlos wurde von Franco als Nachfolger auserkoren und ausgebildet. An den Vorbereitungen zum Putsch faschistischer Militärs 1981, mit dem weitere Zugeständnisse an Minderheiten und politische Linke verhindert werden sollten, war König Juan Carlos beteiligt.
Das Königshaus ist also kein Garant der Demokratie, sondern steht im Gegenteil symbolisch für die Kontinuität der franquistischen Macht im Staat.

Die katalanische Rechte hat die Verfassung 1978 aktiv mitgetragen.

Ja, die katalanische Rechtspartei Convergència i Unió hat (wie PSOE und PCE) den Verfassungspakt 1978 unterstützt. Aber der Wunsch nach Unabhängigkeit und die Unzufriedenheit mit dem Staatspakt sind von der Bevölkerung artikuliert worden, nicht von der katalanischen Regierungspartei. Es waren lokale Bürgerbewegungen, die die Unabhängigkeit seit 2009 auf die Tagesordnung gesetzt und die katalanischen Parteien vor sich hergetrieben haben. Es war ein Aufbegehren gegen das Modell von 78 und seine Eliten -“ die spanischen, aber teilweise auch die katalanischen.

Wozu brauchen wir in Europa einen neuen Staat? Wir wollen doch weniger Nationalstaaten.

Viele demokratische und soziale Reformen, die das katalanische Parlament in den letzten 6 Jahren verabschiedet hat, werden vom Zentralstaat blockiert. Insgesamt sind 39 fortschrittliche Gesetze annulliert oder blockiert worden. Zum Beispiel Gesetze gegen Zwangsräumungen, gegen Energiearmut (von GeringverdienerInnen), gegen den Einsatz von Gummigeschossen durch die Polizei oder für ein Grundeinkommen.
Außerdem soll mit der Proklamation der Republik ein partizipativer verfassunggebender Prozess eröffnet werden. Auf Bürgerversammlungen soll über die Grundlagen der neuen Republik debattiert werden. Es gibt einen ausgearbeiteten Plan, wie ein solcher, partizipativer Verfassungsprozess aussehen könnte. Nirgends sonst in Europa gibt es ein vergleichbares Angebot demokratischer Massenbeteiligung.

Aber letztlich geht es doch nur ums Geld. Die Katalanen sind ja viel reicher als der Rest Spaniens.

Na ja, im Moment riskiert das katalanische Bürgertums vor allem große finanzielle Verluste. Manche ihrer Anführer müssen damit rechnen, lange ins Gefängnis zu gehen.
Außerdem ist Katalonien längst nicht so wohlhabend, wie oft behauptet wird. Die Arbeitslosenraten liegt nur ein bis zwei Prozent unter dem spanischen Durchschnitt, das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt ist niedriger als das der Autonomiegemeinschaft Madrid. Richtig ist allerdings, dass viele KatalanInnen kritisieren, sie würden zu viele Steuergelder an den Zentralstaat zahlen. Aber man muss auch sehen: Der Zentralstaat verteilt diese nach Gutdünken unter Geschäftspartnern; bei den andalusischen Landarbeitern landen sie nicht.
Vielleicht lässt sich wirtschaftliche Komponente des Konflikts andersherum viel treffender beschreiben: Das ökonomische Modell der zentralspanischen Eliten war immer extraktiv (und nicht produktiv) ausgerichtet: Es beruhte auf der Ausbeutung von Kolonien, auf Großgrundbesitz und zuletzt auf Immobilienspekulation. Akkumulation durch Landnahme würden Marxisten sagen. Deswegen stellt der Verlust der politischen Macht für die zentralspanischen Eliten auch ökonomisch eine so große Bedrohung dar.

Was soll die Unabhängigkeit? Selbstregierung ist in Europa doch sowieso nicht möglich.

Jein, denn warum sollte eine progressivere Gesellschaftsmehrheit in einer neuen Republik nicht auch progressivere Politik durchsetzen können? Sicher würde die EU schnell Druck ausüben. Aber es gibt ein paar Aspekte, die trotz EU sofort spürbar wären: der Abzug der reaktionären Guardia Civil und der politischen Justiz z.B. Und auch andere Reformen -“ vom Schutz des Wohnraums über die Aufarbeitung franquistischer Verbrechen bis hin zur Förderung von Genossenschaften -“ wären trotz EU durchsetzbar. Solche Reformen haben in Katalonien heute klare gesellschaftliche Mehrheiten und sie haben mit dem ökonomischen Rahmen der EU eher wenig zu tun.

Aber das alles facht den Nationalismus an.

In Katalonien wird „Souveränität“ heute als Synonym für das politische und demokratische Selbstbestimmungsrecht der BürgerInnen verstanden. Nationalistische und identitäre Fragen spielen in der Debatte kaum eine Rolle.
Ja, auf der spanischen Seite geht es seit ein paar Tagen erschreckend viel um Nationalstolz. Aber das sollte für AntifaschistInnen ein Argument sein, sich eindeutig -“ wenn schon nicht auf der katalanischen Seite, dann zumindest -“ gegen die zentralspanische Politik zu positionieren. Die Madrider Regierung und Teile der spanischen Mehrheitsgesellschaft kokettieren offen mit der Gewalt des Franquismus. Sie erinnern an die Möglichkeit, republikanische, linke oder katalanische Positionen zu vernichten. Aber dieser reaktionäre Nationalismus entsteht nicht neu -“ er war immer da. Und das ist genau auch einer der Gründe, warum die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien so stark geworden ist.

Die Unabhängigkeitsbewegung wird von der katalanischen Rechten angeführt.

Nein, die Bewegung ist aus lokalen Bürgerinitiativen entstanden und bezog ihre Kraft in den letzten Monaten aus der Selbstorganisierung von Nachbarschaften. Zehntausende haben sich z.B. an der illegalen Durchführung des Referendums und der Verteidigung der Wahllokale beteiligt. Diese Massenbeteiligung hat auch die bürgerliche Rechte (zumindest vorübergehend) verändert. Die Rechte bekennt sich heute zur Einwanderung, zur Mehrsprachigkeit, zum verfassunggebenden Prozess, zum zivilen Ungehorsam und zu sozialen Rechten. Das ist eine wichtige Diskursverschiebung und es ist erfreulich, dass auch bürgerliche Parteien sie mittragen.

Die spanische Linke ist gegen eine Unabhängigkeitserklärung.

Die katalanischen Sektionen von Podemos und Izquierda Unida sind für die Ausrufung einer Republik -“ am Liebsten im Rahmen einer Konföderation von Republiken. Die Madrider Parteizentralen von Podemos und IU sind hingegen gegen weitere Schritte.
Dahinter stehen allerdings wahltaktische Erwägungen. Katalonien und das Baskenland sind die einzigen beiden Regionen, wo UnidosPodemos bei den Wahlen 2016 stärkste Partei wurde. UnidosPodemos will diese WählerInnen halten und bei der spanischen Mehrheitsgesellschaft nicht zu stark anecken.
Aber ist es links, gesellschaftliche Prozesse den Wahlinteressen von Parteien unterzuordnen?

Das Risiko einer Unabhängigkeitserklärung ist zu hoch. Spanien kann jetzt ganz nach rechts rücken.

Das Risiko ist hoch. Aber es ist hoch, weil sich Europa und europäische Liberale und Linke nicht positionieren. Der Wille nach Selbstregierung ist immer legitim, die Bereitschaft zur Selbstermächtigung bleibt nie ohne Reaktion. Aber die katalanische Seite sucht weder Bürgerkrieg noch Straßenschlacht. Sie stellt sich der Staatsmacht unbewaffnet entgegen. Hier gibt es eine Massenbewegung, die mehr selbst entscheiden will, und eine Staatsmacht, die das mit Gewalt verhindern möchte.

Weder Rajoy noch Puigdemont.

Ganz falsch! Der spanische Regierungschef lässt die Bevölkerung verprügeln, der katalanische will die Bevölkerung abstimmen lassen und riskiert dafür, ins Gefängnis zugehen. Auch wenn einem das komisch vorkommen mag: Es gibt heute nicht viele europäische Linke, die bereit sind, so viel aufs Spiel zu setzen wie der katalanische Regierungschef in diesen Tagen. (Blog von Raul Zelik vom 9.10.2017.)

Fünf Re-FAQs zu Raul Zeliks Thesen

Raul Zelik schreibt: „Es waren lokale Bürgerbewegungen, die die Unabhängigkeit seit 2009 auf die Tagesordnung gesetzt und die katalanischen Parteien vor sich hergetrieben haben.“
Das wäre sehr stark und sympathisch! Wenn das aber tatsächlich so wäre, dann ist doch die „Aussetzung“ der Unabhängigkeit durch die katalanischen Regionalregierung erklärungsbedürftig, vorausgesetzt, die „Bürgerbewegungen“ hätten das Heft tatsächlich in der Hand?
Und noch etwas macht die Machtanordnung von Raul Zelik zweifelhaft: Die Deklaration der Unabhängigkeit war festgeschrieben, 48 Stunden nach dem Referendum! Dass Spanien nicht über eine Abspaltung verhandelt, dürfte auch Berufspolitikern bekannt gewesen sein! Warum setzt also die katalanische Regionalregierung die Unabhängigkeitserklärung mit der Begründung aus, man wolle die Zeit für Verhandlungen nutzen? Verhandlungen, die es über eine Abspaltung nicht geben wird! Worum geht es dann und warum bleiben in einer solch doppeldeutigen Lage die „Bürgerbewegungen“ stumm?

Raul Zelik schreibt: „Viele demokratische und soziale Reformen, die das katalanische Parlament in den letzten 6 Jahren verabschiedet hat, werden vom Zentralstaat blockiert. Insgesamt sind 39 fortschrittliche Gesetze annulliert oder blockiert worden. Zum Beispiel Gesetze gegen Zwangsräumungen, gegen Energiearmut (von GeringverdienerInnen), gegen den Einsatz von Gummigeschossen durch die Polizei oder für ein Grundeinkommen.“
Wenn das so stimmt, dann stellt sich doch die Frage: Warum hat man diese sehr konkreten Punkte nicht zum Anlass genommen, einen Konflikt (also einschließlich Gesetzesbruch) mit der Zentralregierung einzugehen, indem an sie „illegal“ in Katalonien umsetzt? Dann wäre doch genau das, was Katalonien und Spanien trennt auf die Tagesordnung gesetzt worden.

Raul Zelik schreibt: „Außerdem soll mit der Proklamation der Republik ein partizipativer verfassunggebender Prozess eröffnet werden. Auf Bürgerversammlungen soll über die Grundlagen der neuen Republik debattiert werden. Es gibt einen ausgearbeiteten Plan, wie ein solcher, partizipativer Verfassungsprozess aussehen könnte. Nirgends sonst in Europa gibt es ein vergleichbares Angebot demokratischer Massenbeteiligung.“

Das klingt in der Tat gut und erstrebenswert. Aber auch hier ist doch die Frage: Warum hat man nicht genau diesen partizipativen Prozess vor einem Referendum in Gang gesetzt? Damit wäre die Beteiligung nicht nur eine auf der „Straße“, sondern auch ein konstitutiver Prozess, der viele Menschen einbindet und tatsächlich auch zu Wort kommen lässt. Ein solcher Prozess wäre kein Verfassungsbruch, sondern ein Beweis dafür, dass es um mehr geht als um Verteilungskämpfe innerhalb politischer Eliten. Am Ende eines solchen politischen und gesellschaftlichen Konzeptes stünde dann eine „neue Verfassung“ und kein schwer einzuklagendes Versprechen.

Raul Zelik schreibt: „Außerdem ist Katalonien längst nicht so wohlhabend, wie oft behauptet wird. Die Arbeitslosenraten liegt nur ein bis zwei Prozent unter dem spanischen Durchschnitt, das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt ist niedriger als das der Autonomiegemeinschaft Madrid.“
Genau dieses „Katalonien“ gibt es doch nur als nationalistische Metapher, ob als Armen- oder Reichenversion. Katalonien ist kein anderer Stern, sondern eine kapitalistische Region und dort sind wenige Menschen ganz reich, viele eben nicht und viel zu viele sehr arm! Der Verweis auf fast ähnliche Arbeitslosenzahlen zeigt doch, dass es im wirklichen Arbeits-Leben sehr wenige Unterschiede zwischen Katalonien und Spanien gibt. (Klassen-)Unterschiede, die benannt werden müssen, damit sie nicht im nationalen Dusel (hier die -“guten- Katalanen, dort die -“ bösen -“ Spanier) ausradiert werden.

Raul Zelik schreibt: „Auch wenn einem das komisch vorkommen mag: Es gibt heute nicht viele europäische Linke, die bereit sind, so viel aufs Spiel zu setzen wie der katalanische Regierungschef in diesen Tagen.“

Das verleitet sehr schnell zur Demut, denn die Frage, was die „europäische Linke“ aufs Spiel setzt, ist schnell beantwortet, auch in diesem Land Deutschland.

Dennoch wirkt das ein bisschen zu heroisch, wenn man nicht ausführt, was Raul Zelik nur ganz knapp angerissen hat:

„Es war ein Aufbegehren gegen das Modell von 78 und seine Eliten -“ die spanischen, aber teilweise auch die katalanischen.“

Welche Rolle spielen also die katalanischen Eliten, zu denen auch der katalanische Präsident Puigdemont gezählt werden darf?

Erstveröffentlichung auf Rubikon, 16. Oktober 2017

„Herr Mann, Herr Hummel und die Nazis“. (Überschrift in der Stuttgarter Zeitung vom 11.3.2017, S.28)

1.7.2016, Ludwigsburg:

Die Firma Mann+Hummel begeht ihr 75. Firmenjubiläum und weiht das neue Technologiezentrum ein. Den Beschäftigten ist allerdings nicht nach Feiern zumute. Sie protestieren lautstark und machen ihrem Unmut auf einer Versammlung Luft:

„Wir protestieren entschieden gegen die Vernichtung von 500 Arbeitsplätzen in den Inlandswerken von Mann+Hummel, davon 275 in Ludwigsburg.

Wütend und empört sind wir besonders über die ausgesprochenen 121 Kündigungen. Seit heute, dem 1.7.2016 befinden sich 121 in einem gekündigten Arbeitsverhältnis! 91 davon sind aus der Produktion, viele Kollegen schon über 46 Jahre alt und viele sind Gewerkschaftsmitglieder.

Zeitgleich findet heute eine Feier von Mann+Hummel statt zur Einweihung des neuen Technologiezentrums. 350 ausgewählte Gäste sind geladen. Darunter der Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen, die Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut, der Vorsitzende des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Matthias Wissmann von der CDU, der Oberbürgermeister von Ludwigsburg, Werner Spec und auch der Raumfahrer Ulf Merbold.

Nicht eingeladen sind die Kolleginnen und Kollegen von Mann+Hummel.

Sich selbst zu feiern und zeitgleich Kündigungen auszusprechen, dies bewerten wir als eine ungeheuere Provokation der Belegschaft.

Wir sind uns einig und fordern:

Sofortige Rücknahme der ausgesprochenen Kündigungen!

Unser Protest richtet sich auch an die Ludwigsburger Kreiszeitung. Während heute eine dreiseitige „Anzeigensonderveröffentlichung“ von Mann+Hummel erscheint, wurde es abgelehnt, heute eine Traueranzeige über „den Verlust von 275 Mitarbeiter(n)“ abzudrucken, die einige Kollegen initiiert hatten. Hat nur der das Recht auf Meinungsäußerung, der das meiste Geld hat? Wir sehen darin einen Akt der politischen Zensur und verlangen dazu eine Stellungnahme der Verantwortlichen der LKZ.“

1938, Stuttgart und Wien:
Die Firmengründung im Jahre 1941 hat eine Vorgeschichte:
Adolf Mann und Erich Hummel beginnen ihre Unternehmerlaufbahn als leitende Angestellte der Firma Wilhelm Bleyle in Stuttgart.
1938 bekommen die Inhaber Max und Fritz Bleyle Schwierigkeiten mit der NS-Justiz.
Max Bleyle und der Geschäftsführer Arthur Weber müssen sich wegen Volksverrat, Devisenvergehen und Steuerhinterziehung vor einem NS-Sondergericht verantworten.
„... Diese Situation haben die langjährigen Angestellten der Firma Wilh. Bleyle GmbH., Mann und Dr. Hummel, ausgenutzt, um mit den Herren Bleyle und Weber am Tag vor der Hauptverhandlung vor dem Sondergericht über den Betrieb der Firma Wilh. Bleyle GmbH einen von ihnen ausgearbeiteten Kauf- und Pachtvertrag abzuschließen, durch den die Gesellschafter der GmbH auf das schwerste übervorteilt wurden. ..." (Zitate aus der Abschrift von Dr. Edmund Natter, 12.11.1945)
Der öffentliche Kläger Bauer (im Entnazifizierungsverfahren) bestätigte dies ebenfalls am 19.1.1949. Er schreibt: „... Dem Befr. (gemeint ist Adolf Mann) ist es damals gelungen, einen unverhältnismäßig günstigen Vertrag herauszuschlagen aus dem er in den 6 Jahren bis 1945 ein Einkommen von RM 3 265 945,-- bezogen hat. ... Er hat aus der Not des deutschen Volkes, in die es durch den von der NSDAP vom Zaum gerissenen Krieg gekommen ist, riesige Profite in seine eigene Tasche gesteckt..." (RM bedeutet: Reichsmark)

Max Bleyle dagegen wurde in dem Prozess zu einer 5-jährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Fritz Bleyle kam in die ,,lrrenanstalt“ nach Winnenden.

Dieses „Geschäftsmodell“ zur Bereicherung behalten Mann und Hummel bei, als es im angeschlossenen Österreich um die Arisierung zweier jüdischer Unternehmen geht.

Zum Vorgang der „Arisierung“ äußert sich Adolf Mann laut Firmenchronik wie folgt :
Die Verkaufsverhandlungen mit den jüdischen Vorbesitzern seien „im besten Einvernehmen“ geführt worden.

Mit dem besten Einvernehmen kann es nicht weit her gewesen sein.
Mira Steirer, eingesetzte Verwalterin, beschreibt den Vorgang im Antwortschreiben auf einen Fragebogen der amerikanischen Militärverwaltung vom 19.1.1948:
„In der sich in unseren Händen befindlichen Korrespondenz mit dem Mutterhaus Bleyle, Stuttgart, befindet sich Kopie eine Briefes des seinerzeitigen Prokuristen Hermann Zimmer, aus dem klar hervorgeht, dass er zusammen mit dem seinerzeitigen kommissarischen Verwalter, Herrn Norbert Streit, Herrn Bratmann (Vertreter des jüdischen Besitzers -“ Anmerkung des Verfassers) durch Abnahme seines tschechischen Passes gezwungen hat, in den Verkauf einzuwilligen.“

Da weder Zimmer noch Streit irgendwelche amtlichen Befugnisse zum Entzug des Passes gehabt haben, will man sich gar nicht vorstellen, unter welchen Umständen die Abnahme des Passes wohl vor sich gegangen sein mag.

Über die „Arisierungsverhandlungen“ mit dem Besitzer der zweiten Firma schreibt Steirer:
„Herr Ing. Engelhardt hat unseres Wissens keinen Kaufvertrag unterschrieben, sondern ist -“ da er persönlich bedroht war -“ bei Nacht und Nebel ohne Verständigung seiner Wiener Angestellten abgereist.“

Über den „Arisierer“ Norbert Streit bemerkt Steirer lakonisch:
„Herr Streit ist vor kurzem wegen Zugehörigkeit zur Partei und andere Delikte gesessen. Soweit uns bekannt, befindet er sich seit kurzem auf freiem Fuß.“

Um das Maß voll zu machen, behauptet die Firmenchronik, es spräche für den „Anstand“ von Adolf Mann, dass die 300.000 Reichsmark (360.000 Schilling -“ Anmerkung des Verfassers) der „höchste Arisierungspreis gewesen sei, der in Wien bezahlt wurde.“
Steirer gibt den Effektivwert der Firma aber mit 2 Millionen Schilling an, „niedrig geschätzt.“

Ob im Falle der anderen Firma (Ing. Otto Engelhardt) überhaupt Zahlungen geleistet wurden, darf bezweifelt werden. Jedenfalls spricht Steirer nur von der Zahlung von 360.000 Schilling an Bratmann bzw. den bestellten Liquidator.

Das erfüllt den Tatbestand der räuberischen Erpressung unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben und zeugt nicht von Anstand, sondern von erheblicher krimineller Energie !

Frühjahr 2017, Ludwigsburg:
Im Vorfeld des Firmenjubiläums äußert die Firma Mann + Hummel den „Wunsch“, dass ein Teil der Schlieffenstrasse in Mann + Hummel-Strasse umbenannt werden soll.
Eine Historiker-Kommission, von der Stadt Ludwigsburg beauftragt, Strassennamen und mögliche Umbenennungen zu untersuchen, rät, angesichts der oben geschilderten hässlichen Gründungsgeschichte der Firma, davon ab.

Der Gemeinderat erfährt das aber eher zufällig, da die Expertise der Historiker-Kommission bei Oberbürgermeister Spec unter Verschluß liegt. Das führt zu Diskussionen im Gemeinderat und in der Öffentlichkeit, die teils abstruse Blüten treibt :
In einem Kommentar der Ludwigsburger Kreiszeitung heißt es:
„Und niemand wirft den Firmengründern Adolf Mann und Erich Hummel vor, dass sie im Dritten Reich an Verbrechen beteiligt waren (...).“ (LKZ vom 9.3.2017)

Aber das genau waren sie, wie wir oben gesehen haben. Es sei denn, man folgt dem fatalen Geschichtsverständnis des NS-Marine Richters und späteren Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Hans Filbinger, dass, was damals Recht war, heute nicht Unrecht sein könne.

Ein Stadtrat der Freien Wähler sieht in der Arbeit der Historiker gar „einen Angriff gegen Mann+Hummel“. Willkommen im postfaktischen Zeitalter.

Die Stadtverwaltung strapaziert inzwischen die Logik und den gesunden Menschenverstand, denn die Umbenennung sei zu „keinem Zeitpunkt verstanden worden als Würdigung von Personen, sondern der Firma, die nach den Firmengründern benannt ist.“

OB Spec schwelgt in wolkiger Unternehmer-Prosa, von „Innovation“, „Sicherung der Arbeitsplätze“ erzählt er. Das Unternehmen stelle „nicht einseitig die kurzfristige Rendite in den Vordergrund.“
Dabei scheint ihm entgangen zu sein, dass im Industriegebiet Ludwigsburger Weststadt seit den 1990iger Jahren ein Prozess der Deindustrialisierung stattgefunden hat, der tausende von Arbeitsplätzen gekostet hat. Allein bei Mann+Hummel schmolz die Zahl der Arbeitsplätze von ca. 4000 Anfang der 1990iger Jahre auf 1600 aktuell. Der jeweilige Arbeitsplatzabbau wurde immer damit gerechtfertigt, die restlichen Arbeitsplätze zu sichern. Das war damals genauso wenig wahr, wie heute. Denn natürlich plant Mann+Hummel weiteren Arbeitsplatzabbbau, auch bei Entwicklung, Vertrieb und Einkauf.

Nachtrag:
Am 23.3.2017 teilt die Stadtverwaltung mit, dass die Umbenennung nicht weiter verfolgt werde.

Die Geschäftsleitung von Mann + Hummel teilt mit, dass ihr Mitglied, Arbeitsdirektorin Filiz Albrecht mit sofortiger Wirkung aus dem Unternehmen ausscheidet. Gründe werden nicht genannt.

Die Kollegen, die sie letztes Jahr betriebsbedingt kündigte und die vor dem Arbeitsgericht klagten, haben ihre Prozesse gewonnen und sind immer noch bei Mann + Hummel.

Die Firma hat auf das Einlegen weiterer Rechtsmittel verzichtet.

Theorie der Halbbildung

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

"Dem Halbgebildeten verzaubert alles Mittelbare sich in Unmittelbarkeit, noch das übermächtige Ferne. Daher die Tendenz zur Personalisierung: objektive Verhältnisse werden einzelnen Personen zur Last geschrieben oder von einzelnen Personen das Heil erwartet."

Theodor W. Adorno : Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung. (1959) In: ders.: Gesammelte Schriften
Band 8. Soziologische Schriften I, S. 93 -“ 121.

kritisch-lesen.de Nr. 45: ... ...können wir nur selber tun!

Demilitarize the Police, Black Lives Matter
Foto: Johnny Silvercloud / Flickr
Lizenz: CC BY-SA 2.0
Selbstorganisation bleibt Handarbeit: Mietpreise, prekäre Arbeitsbedingungen, Verdrängung, Illegalisierung von Migrant_innen, Sanktionierung von Erwerbslosen, Kriminalisierung linker radikaler Projekte und vieles mehr -“ es gibt unzählige Bereiche, in denen Menschen von Profitstreben und staatlicher Macht gegeißelt werden. Die Betroffenen finden sich in einer machtlosen Position wieder, aus der heraus individualisierte Kämpfe dem berühmten Kampf gegen Windmühlen gleichkommen. Deshalb schließen sich immer wieder an verschiedensten Orten zusammen, um ein gemeinsames Bewusstsein für ihre Lage zu entwickeln. Sie organisieren sich -“ in Erwerbsloseninitiativen, Stadtteilgruppen, Migrant_innenorganisationen, feministischen Gruppen.

Fokus dieser Ausgabe sind selbst- oder basisorganisierte soziale Kämpfe und die Frage nach ihrer konkreten Ausgestaltung. Auf welche internationalen Traditionslinien bezieht sich Selbstorganisation? Wie wandelte sich konkrete Basisorganisation im Verlauf der Jahrzehnte? An welche sozialen Kämpfe knüpfen verschiedene Ansätze der Selbstorganisation an? Gibt es Beispiele, in denen selbst- oder basisorganisierte Kämpfe zu konkreten Veränderungen geführt haben? Und wie schnell besteht die Gefahr, von Staat, Kapitalismus oder Institutionen eingehegt und gezähmt zu werden? Unsere Autor_innen haben Beispiele aus verschiedenen Regionen der Welt analysiert und verbinden konkrete Praxis mit Erfahrungen und Theorie. Wir hoffen, mit dieser Ausgabe nicht nur neue Impulse zu setzen, sondern auch Bewährtes weiterzugeben.

In der Januar 2018-Ausgabe setzen wir uns die Partyhüte auf und laden alle zum 200. Geburtstag unseres Lieblings-Genossen ein: Karl Marx! Marx! Marx! Wir wollen sowohl Geschichten über sein Leben als Denker und Revolutionär erzählen als auch uns umsehen in der schier unendlichen Rezeption seiner Ideen. Wenn ihr Lust habt, mitzufeiern, dann schickt uns gerne Buch- oder Rezensionsvorschläge.

Und jetzt viel Spaß beim kritischen Lesen!

Zur Ausgabe Nr. 45

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