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Rede bei der 203. Montagsdemo gegen S21

Heute hatte ich die Gelegenheit, bei der 203. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 eine kurze Rede zu halten. Diese sei hier dokumentiert:

Liebe S21 GegnerInnen,
liebe FreundInnen der Versammlungsfreiheit,
heute haben erneut tausende Menschen gegen Stuttgart 21 demonstriert und damit klargemacht, dass sie sich nicht ihrer Grundrechte berauben lassen.

Ich vertrete das Stuttgarter Bündnis für Versammlungsfreiheit. Wir halten es für unerträglich, dass ganz offensichtlich gerade an den Wochenenden, an denen S21 GegnerInnen ihr Anliegen einer breiten Masse bekannt machen könnten, dies gerichtlich untersagt wurde.

Ich sage: Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht wertgeschätzt.

Der juristische Trick: Die Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs wird zum Bestandteil der Rechtsordnung "ernannt" und damit zum Schutzgut der öffentlichen Sicherheit. Und die darf ja nicht "bedroht" werden. Es gibt im Gegensatz zum Grundrecht auf Versammlungsfreiheit jedoch kein Grundrecht auf störungsfreien Verkehr oder Einkauf!

Letztlich ließe sich mit dieser Begründung eigentlich jede Demonstration verbieten.

Könnte es sein, daß dieses Urteil des VGH politisch motiviert ist? Es mutet doch zumindest seltsam an, daß derselbe Gerichtshof vor drei Jahren ganz anders geurteilt hat. Da hieß es in seiner Entscheidung am 29. Oktober 2010: "Das Interesse des Aktionsbündnisses gegen -ºStuttgart 21-¹, mit seiner Versammlung möglichst große Beachtung zu finden" überwiege das öffentliche Interesse, am Arnulf-Klett-Platz Verkehrsbeeinträchtigungen zu vermeiden. Außerdem hat dieser VGH regelmäßig Neonaziaufmärsche genehmigt, für die ganze Innenstädte komplett abgeriegelt und Tausende Polizisten eingesetzt werden wie kürzlich Göppingen. Alles, um die Versammlungsfreiheit von ein paar Dutzend Neonazis zu schützen. Wir halten das für einen wirklich besorgniserregenden Umgang mit Grundrechten.

Die Befangenheit des VGH macht nicht einmal vor den Grundrechenarten halt, ich zitiere wieder dessen Urteil: "Die von der Antragsgegnerin errechnete Zahl von insgesamt ca. 8300 Verkehrsteilnehmern überwiegt bei Weitem die Anzahl der Teilnehmer der Montagsdemonstration, die sich im Jahresverlauf 2013 auf durchschnittlich 1500 Personen und im Durchschnitt der letzten beiden Monate auf ca. 1200 Personen belaufen hat. Selbst bei Zugrundelegung der von der Veranstalterin angegebenen Zahlen von 2000 bis 3000 Teilnehmern änderte sich an diesem Zahlenverhältnis nichts wesentliches."

Im ersten Fall sind es pro Demonstrant ca. 7 Verkehrsteilnehmer, die behindert werden, im zweiten Fall sind es nur noch ca. 3 Verkehrsteilnehmer.

Wenn eine Halbierung des Zahlenverhältnisses "nichts wesentliches ändert", und man davon ausgehen kann, dass die Mitglieder des ersten Senats des VGH rechnen können, dann gibt es für diese Willkür nur eine Erklärung: Der VGH als dienstbarer Erfüllungsgehilfe der S21-Betreiber.

Ein Indiz dafür, dass der VGH genau weiß, wie er hier das Recht verbiegt, ist, dass er auf der anderen Seite nämlich kein Zahlenverhältnis festlegt, ab welchem man den Verkehr dann behindern darf. Die Absurdität der VGH Argumentation wäre zu offensichtlich.

Warnen wollen wir vor einer Orientierung auf die Wahlen, wie dies einige trotz der Erfahrungen der letzten Jahre wieder erwägen. Die 2008 geplante Verschärfung des Versammlungsrechtes wurde letztlich auf Grund breiten Protestes auf Eis gelegt. Unter der Grün-Roten Regierung hat sich jedoch nicht alles zum positiven geändert. Das VGH Urteil wirft ein Licht darauf, wie das angekündigte “bürgerfreundliche- Versammlungsgesetz aussehen wird, wenn sich dagegen kein Protest regt. Wir sagen deshalb: Jede demokratische Bewegung muss sich auch die Verteidigung und Erweiterung der politischen Grundrechte zur Aufgabe machen.

Natürlich muss diesem Schandurteil auch juristisch entgegen getreten werden. Entscheidend ist aber, dass die Versammlungsfreiheit immer wieder auf der Straße verteidigt wird.

Wir fordern OB Kuhn auf, seinen Ordnungsbürgermeister anzuweisen, seine Verfügung gegen die Montagsdemos zurück zu nehmen und auf die Umsetzung des VGH-Urteils zu verzichten!

Einstellung aller Verfahren gegen S21 GegnerInnen, die in Zusammenhang mit dem Urteil des VGH eingeleitet wurden!

Angesichts der zu befürchtenden weitgehenden Auswirkungen des VGH-Urteils appellieren wir an alle demokratischen Kräfte auch zukünftig im Rahmen der Montagsdemo gegen S21 für die Versammlungsfreiheit auf die Straße zu gehen.

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit.

Siehe auch: "Recht aufs Demonstrieren erkämpfen", im Gespräch mit der Tageszeitung junge Welt
"Kritik an Verlegung der Montags-Demos", Beitrag von Christian Schwarz in den Stuttgarter Nachrichten zu unserer Pressemitteilung "Anschlag auf Versammlungsfreiheit!"

Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs zu Montagsdemos gegen Stuttgart 21: Anschlag auf Versammlungsfreiheit!

Am 16. und 23.12.2013 dürfen die Montagsdemos gegen Stuttgart 21 nicht auf dem Arnulf-Klett-Platz vor dem Hauptbahnhof stattfinden.

Begründung: Die Stadt Stuttgart „habe bei der gebotenen Abwägung in vertretbarer Weise den Interessen (...) der betroffenen Verkehrsteilnehmer den Vorrang gegenüber dem von der Versammlungsfreiheit geschützten Interesse (der S21- Gegner) (...) eingeräumt.“

Zu deutsch: Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit wird der Straßenverkehrsordnung, bzw. den „Interessen der Verkehrsteilnehmer“ geopfert.

Der juristische Trick: Die Sicherheit und Leichtigkeit (!) des Straßenverkehrs wird zum Bestandteil der Rechtsordnung „ernannt“ und damit zum Schutzgut der öffentlichen Sicherheit. Und wenn die „bedroht“ ist -“ siehe oben.

Mit dieser Begründung lässt sich jede Demonstration verbieten.

Diese Entscheidung des VGH ist von erheblicher politischer Brisanz:

Ist es doch derselbe Verwaltungsgerichtshof, der regelmäßig jeden Neonazi-Aufmarsch genehmigt, obwohl dafür ganze Innenstädte komplett abgeriegelt - der Verkehr also vollständig zum Erliegen kommt - und tausende Polizisten eingesetzt werden (Heilbronn, Göppingen etc.), um die Versammlungsfreiheit von ein paar dutzend Neonazis zu „schützen“.

Zum anderen hat derselbe Verwaltungsgerichtshof vor drei Jahren in gleicher Sache das gerade Gegenteil entschieden:

„Das Interesse des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, mit seiner Versammlung möglichst große Beachtung zu finden, überwiegt das öffentliche Interesse an der Vermeidung von Verkehrsbeeinträchtigungen am Arnulf-Klett-Platz.“ (Entscheidung vom 29.10.2010, Az. 1 S 2493/10)

Dass die Argumentation von Ordnungsbürgermeister Schairer an den Haaren herbeigezogen ist, zeigt auch die wundersame Verlängerung der Verkehrsstaus: Vom 30.11.2013 („Auf dem Cityring bildet sich regelmäßig ein bis zu einem Kilometer langer Stau“, Schairer im StZ- Interview) bis zum 10.12.2013 hat sich die Staulänge - zumindest im Schriftsatz der Stadt Stuttgart - dann verfünf- bzw. verachtfacht.

Der grüne OB schweigt zu alledem.

„Offensichtlich handelt Schairer im Einvernehmen mit dem grünen OB Kuhn. Da ist die Ankündigung eines „bürgerfreundlichen“ Versammlungsgesetzes durch die grün-rote Landesregierung schon fast als Drohung zu verstehen,“ so Thomas Trüten, der Sprecher des Stuttgarter Bündnisses für Versammlungsfreiheit. Und weiter: „Angesichts dieser Entwicklung sehen wir uns erneut in unserer Forderung nach einem fortschrittlichen Versammlungsgesetz bestätigt. Die Vorrangigkeit des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit vor nachgeordneten Vorschriften und Gesetzen muss politisch und juristisch durchgekämpft werden. Wir rufen deshalb die demokratische Öffentlichkeit auf - unabhängig vom jeweiligen Standpunkt zu Stuttgart 21 - am 16. und 23.12.2013 im Rahmen der Montagsdemos gegen diesen Anschlag auf die Versammlungsfreiheit zu demonstrieren.“


Quelle: Pressemitteilung vom 14.12.2013 / versammlungsrecht.info

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