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kritisch-lesen.de Nr. 12 - Wem gehört die Stadt?

Foto: © Jörg Möller
In unserer mittlerweile zwölften Ausgabe geht es im Schwerpunkt um Möglichkeiten emanzipatorischer und widerständiger Stadtpolitiken. Untrennbar damit verbunden ist in der öffentlichen Diskussion seit einigen Jahren der Begriff Gentrifizierung, der den Prozess der Aufwertung von Stadtteilen beschreibt, die sich klischeemäßig an einer wachsenden (oftmals grün-„alternativen“) Infrastruktur von Galerien, Bioläden und übermäßigem Latte Macchiato-Konsum ablesen lässt. Doch was für einige ein honigsüßer (T)raum zu sein scheint, wird für andere zu einer bitteren Realität: Gentrifizierung führt zu einer weitreichenden Verdrängung der bisherigen, meist ärmeren Bewohner_innen zugunsten oder gerade durch ökonomisch, sozial und kulturell Privilegierte. An diesem Punkt knüpfen wir an, um Notwendigkeiten und Potentiale der Raumaneignung sichtbar zu machen.

Zunächst widmet sich Sebastian Friedrich dem Buch Wir bleiben alle von Andrej Holm und streicht die Vielschichtigkeit von Gentrifizierungsprozessen und die Notwendigkeit breiter Bündnisse für effektiven Widerstand heraus. Die Besprechung Häuserkampf ist doch Achtziger von Franziska Plau fokussiert die Dynamiken städtischer Machtverhältnisse am Beispiel des Ungdomshuset in Kopenhagen und hebt insbesondere die internationale Vergleichbarkeit von Verdrängungsprozessen hervor. Ebenfalls für auf andere Städte übertragbar hält Sebastian Kalicha in seiner Rezension zu Wie bleibt der Rand am Rand von Robert Sommer den Umgang mit Obdachlosigkeit in Wien und die erschreckenden bis absurden Versuche, Menschen, die nicht ins Stadtbild passen, aus den konsumorientierten Zentren zu vertreiben. Davon ausgehend widmen sich zwei Autor_innen Publikationen zu Möglichkeiten der widerständigen Raumaneignung. Konkrete Freiraumpolitiken und ihre Aushandlungen schildert Ulrich Peters in seiner Rezension zu Gender und Häuserkampf und macht dabei deutlich, dass auch in linken Zusammenhängen ein Bewusstsein darüber existieren muss, dass Freiräume keine machtfreien Orte sind. Ein Beispiel für individuelle, allnächtliche Raumaneignung betrachtet Jorane Anders in Der erschriebene Aufstand: Graffiti und Street-Art als Rückeroberung der Stadt.

Eine traurige Aktualität erhält der von Tompa Láska rezensierte Sammelband Kaltland und die darin enthaltene Auseinandersetzung mit den Pogromen gegen Migrant_innen in den 1990er Jahren angesichts der erschütternden Morde durch organisierte Nazis und des Umstands, dass in der öffentlichen „Debatte“ mal wieder Rassismus bloß als gesellschaftliches Randphänomen behandelt wird. Einen gelungenen Blick in die Geschichte linker Arbeiter_innenkämpfe leistet nach Ismail Küpeli das Buch Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland: Von den Anfängen bis 1914. Mit welchen Normalisierungsstrategien die Bundeswehr ihre Nachwuchssorgen zu lösen versucht, stellt anschließend Heinz-Jürgen Voß in seiner Rezension zu An der Heimatfront ausführlich dar. Nicht um Krieg, aber dafür um die Frage, wie „Psyche“ und die Erfindung des „Anderen“ zusammengedacht werden könnten, geht es dann in Adi Quartis Rezension Fabelhafte Psyche! zu einem aktuell erschienenen Bändchen von Jacques Derrida. Schließlich denkt mal wieder Gabriel Kuhn allerhand zusammen. In seiner Rezension von Pogo, Punk und Politik stellt er sich gegen die weitverbreitete Annahme, Punk sei unpolitisch.

Zum Tode von Georg Kreisler, der in gewissem Sinne sehr politischen Punk machte, möchten wir die Rezension zu seiner vor zwei Jahren erschienenen Autobiographie Letzte Lieder aus unserem Archiv als eine Art Nachruf ans Herz legen.

Viel Spaß beim kritischen Lesen!

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SPD! Vorwärts zum Ansprung...

Ohne dem Ende vorgreifen zu wollen: zumindest das Bündnis mit der FDP wird sich wohl mangels Masse für Merkel demnächst erledigen. Wie schon erwähnt: wenn es bei der FDP-Umfrage vielleicht auch nicht zum Quorum reicht, eine ergiebige Anzahl von Merkel-Gegnern wird der Koalition sehr zur Last fallen.

Deshalb sind alle Grübeleien über den Abgang Lindners überflüssig. Eins ist unbestreitbar: von dem erwarteten liberalem Elan seit der Abschaffung Westerwelles kann keine Rede sein. Als Rösler bei PHOENIX auftauchte, entwickelte er den Schwung eines Faultiers am Baum. Und sein danach ausgekramter Feuerbold als Nachtraber hatte auch nur etwas mehr Lärm zu bieten als früher. Aber wenig Fruchtiges für die neuen Liberalen...

Also wird es wohl nicht bis 2013 halten mit der Koalition. Und Neuwahlen wären Gift in einer Lage, wo die Regierung möglichst lange und möglichst dauerwurstig Gesetze gegen den Mehrheitswillen durchprügeln muss. Die nachher schwer zu beseitigen sein sollen.

Also fliegender Wechsel ohne Wahlen mitten im Lauf. Wer steht da bereit? Natürlich alle Fraktionen. Vor allem aber - erprobt - die SPD. Dass beim Parteitag sämtliche Oberen einer neuen großen Koalition das Halali geblasen hatten, darf in so einem Fall niemand irreführen- oder beruhigen. Wie schnell waren die Sozen doch immer bereit, auf die notleidende Nation zu verweisen, für die -im Augenblick der Gefahr- gerade die Sozialisten einzustehen hätten. Egal,was vorher gesagt wurde. "HEILIG VATERLAND, in Gefahren/Deine Söhne sich um Dich scharen..." Zugleich die ebenso regierungsgeilen GRÜNEN noch mal beruhigt: Is ja nur Zwischenschicht! Nach den Wahlen 2013 - aber dann...

Dass - über mehr oder weniger treffende Argumente hinaus - SPD und GRÜNE in froher Erwartung keinen fundamentalen Widerspruch gegen Merkels Tricks mehr zulassen, zeigt der fast einstimmige Beschluss - ohne LINKE - der Bundesbank keine kollektive Weisung zu erteilen.

Obwohl die das wollte! Mit frommem Augenaufschlag alle zusammen: Die Bundesbank ist doch autonom! Nicht weisungsgebunden! Leicht gesagt, wenn man ihr alles schon aufgebrummt hat, ohne jemand zu fragen.

Also, keine Sorgen, parteifrohe Leserinnen und Leser: Es bleibt alles beim Alten! Gerade wenn die lästige FDP durch die noch unterwürfigere SPD ersetzt sein wird. Erzengel Gabriel trainiert schon Zweitverkündigung.

Lettland: Montags Plusterbacke, sonntags Hungerfresse

Ähnlichkeiten mit aktuellen Ereignissen sind nicht beabsichtigt: Andrang von Sparern vor der Sparkasse der Stadt Berlin am Mühlendamm nach dem Zusammenbruch der Darmstädter- und Nationalbank, 1931
Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-12023 / CC-BY-SA
Lizenz: Creative Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0
Die WELT hat vor knapp einer Woche das Rezept herausgehängt, wie auch Staaten voller Schulden wie Griechenland das Vertrauen der MÄRKTE erwerben können.

Lettland wird gepriesen. Beamten entlassen, Löhne gekürzt usw. Erstmal Krise. Und Kopfhängerei.Und wie stehen die Letten jetzt wieder da! Schuldenbremse führen sie begeistert ein, noch bevor es nötig wird. Und geilen sich auf bei der Aussicht, bald auch Eu-gezwiebelt zu werden.

Aus Versehen werden zwei Wahrheiten eingemischt. Einmal - dass die meisten Banken Lettland gar nichts Lettisches an sich haben, sondern Filialen ausländischer Banken darstellen. Mit entsprechender Interessenausrichtung.
Die andere: Eine für das kleine Land sehr große Menge von Arbeiterinnen und Arbeitern haben im Ausland eine Arbeit angenommen- zu welchen Bedingungen auch immer.
Das erklärt das Lob der WELT und der Finanzinteressen, die sie vertritt. Es geht darum, alle erworbenen Rechte zu vernichten und eine atomisierte Menge zur bestmöglichen Verwendung zu erzeugen.Mit Bereitschaft zum Ortswechsel,falls verlangt. Für Griechenland der Zaunpfahl zum Winken.

Soviel geprahlt vor einer Woche. Am Sonntag drauf die Überraschung: auf ein Gerücht über Twitter hin werden sämtliche Bankautomaten geleert. Angeblich eine schwedische Bank auf der Kippe. Wie aus dem Interview mit dem lettischen Zauberkünstler hervorgeht, handelt es sich dabei schon um das zweite Mal. Doppelter Panikanfall, wie es keuschsprachlich in den europäischen Zeitungen zu heißen hat. Begründet dürfen solche Befürchtungen ja nie sein. Ist das ein Zeichen für massenhafte Begeisterung? Und wachsende EU-Freudigkeit nach den Brüssel-Wohltaten? Das alles bei Nur-Anwärtern, die es noch gar nicht voll erwischt hat. Wie sollen da die hauptberuflichen Prügelknaben reagieren?

In Brüssel ein Sieg? Ja - einer der Glaubensgemeinschaft über die Berechenbarkeit

Vor fast allen Nachrichten in TV erblicke ich einen zufriedenen Menschen bei ARD, der sich bei der Deutschen Bank 2 Prozent auf ein ganzes Jahr gesichert hat. Ein anderer hört das neidisch - und hätte gern, dass auch ich neidisch werde. Dabei wird ganz offiziell die Inflationsrate für nächstes Jahr auf mindestens zweieinhalb bis wahrscheinlich drei Prozent angesetzt. Also ein Prozent Verlust garantiert. Wie soll mich das neidisch machen?

Erklärbar ist das nur, wenn die Mehrzahl von uns das Elternwort aus der Nachkriegszeit nicht aus den Ohren bekommt. "Andere wären froh drum!" Gemeint damit der Trost, wenn es das dritte Mal in der Woche gebrannte Mehlsuppe gab. Anderen geht es noch schlechter. Also halten wir uns an das Gegebene. Heimische. Vorhandene. Zufrieden sein. Nicht Maulen. Glauben....

Das heißt aber: Berechenbarkeit wird abgeschafft. Wir reihen uns ein in die Glaubensgemeinschaft der Starken, die zusammenhalten.

Berechenbarkeit war früher einmal die Grundlage des Bankenwesens. Man verglich die Übereinstimmung von Versprechen und nachheriger Handlung. Bei offensichtlicher Nichtübereinstimmung wurde das Geschäft aufgegeben. Kein Vertrag geschlossen.

Nach diesem Muster ist die Deutsche Regierung seit Jahren eine Brutstätte der Verlogenheit.Und dürfte keinen Penny Kredit mehr bekommen.Es gibt wohl nichts, was seit Schwarzrot, aber vor allem auch seit Schwarzgelb hintereinander als alternativlos hingestellt worden wäre - und Monate später verworfen. Keine Griechenlandhilfe! Wenn Griechenland Euroland verlässt, ist alles verloren. Griechenland kann durchaus gezwungen werden, den Euro aufzugeben. Kredithilfen für Griechenland, damit es uns nicht verlässt.

Nacheinander unerbittlich eingehämmert. Was sollte von all dem gelten, wenn es ernst gemeint gewesen wäre?

Um so verdienstvoller, um so notwendiger die Glaubensakte. Keine deutsche Zeitung ohne den Lobgesang für Merkel. Die Siegeslitanei. Am Anfang waren noch ein paar europäische Staaten skeptisch. Am Ende waren alle dafür - außer England. Sind die nachträglichen Zustimmer durch irgendetwas überzeugt worden zwischen Freitagmorgen und Freitagnachmittag? Sie gaben sich einfach geschlagen. Gegen Deutschlands Wirtschaftsmacht kommt man ohnedies nicht an.

Ganz konsequent wird von den deutschen Parteien allesamt - außer noch einigen Mitgliedern der LINKEN - kein Wort so oft verwendet wie "Vertrauen". Vertrauen erzeugen - und es weitergeben. An die "Märkte". Entsprechend die Erbitterung gegen "Miesmacher und Meckerer". Zweifler. Flaumacher. Plattmacherausdrücke. Gut abgehangen - seit dem ersten Weltkrieg.

Frau Bismarck
Ein Chorsänger könnte Merkel mit Bismarck vergleichen. Als er nach dem Sieg über Österreich 1866 den Norddeutschen Bund schuf. Mit vollem Wahlrecht für alle Männer. Dieser Ansatzpunkt fand dann 1871 seine Vollendung. Mit der Reichsgründung. Auch damals wollten manche Badener nicht. Aber was aufbieten gegen eine Lawine? Einwand gegen den Vergleich: Den perfide inszenierten Krieg gegen Frankreich brauchte Bismarck aber trotzdem, um seine Völker einzutreiben. Wo kriegt die Kanzlerin einen Kriegsgrund her, um entsprechend Europa zusammenzutrommeln? Reicht die bloße Gegnerschaft gegen England dazu schon aus? Krieg dann neuzeitlich symbolistisch "nur" als Wirtschaftsangriff verstanden. Irgendwas muss sich doch finden lassen, das uns die Grundorientierung des "Kalten Kriegs" ersetzen könnte.

Vorkötter in der FR vom Wochenende jubelt vorsichtiger. Sieht aber nach allerlei Zwischenniederlagen immerhin pflichtmäßig Licht am Ende des Tunnels. Braucht dafür allerdings den verschlissensten Glaubensrest auf. Tut so, als könne das mit der Verschuldungskontrolle und vor allem der darauf folgenden Bestrafung wirklich funktionieren. Noch ein paar Kehlentritte wie gegen Griechenland wird sich niemand leisten wollen.Dem Nackten wird man auch nach erfolgter Konfirmation nicht in die Tasche greifen können. Die Kaputtgeschlagenen kaufen nichts mehr. Also wird es bei den bewährten Tricks wohl bleiben. Schulden steigen!

Wie Luther das sah, wird Glauben um so verdienstvoller, je weniger irdisch gesehen für Erfüllung spricht. "Ich Armer wäre nach meiner Schuld sündig verloren, ginge es nach Gottes Gerechtigkeit. Nur weil ich trotzdem glaube, erlöst mich seine Gnade." Der Ausdruck "Sünder" wird pervertiert beibehalten.

Den Akt der Zerknirschung und rückhaltloser Hingabe vollzogen alle vor Merkel, die zwar wussten, dass sie weit mehr Schulden haben als die zugestandenen 60 Prozent, aber unter keinen Umständen angeben wollten, wie sie diese ALTEN Schulden je begleichen würden, ohne neue zu machen. Den guten Rat - EXPORT -können nicht alle zugleich befolgen.

Vor allem, da die Banken wieder fein rauskommen. Der Schuldenschnitt gegenüber Griechenland hat das Kapital arg vergrätzt. Nie wieder so was! Das immerhin eint mit England.

Und noch eines: die Niederschlagung der Macht der Gewerkschaften in sämtlichen Ländern. Thatcher - seinerzeit auch eine angeblich Isolierte - ist damit seinerzeit aus ihrer Sicht sehr gut gefahren. Seither ist trotz erbitterter Einsätze - vor allem in Griechenland - keine Gewerkschaft mehr stark genug, sich der Mafia in den Parlamenten und dem Druck des Kapitals von außen zu widersetzen. Auch das sollte zusammenschließen. Und ist vielleicht Merkels wirkliche Absicht und eigentlicher Erfolg. Europa - Ödland ohne Widerstand.

Soviel also zu Europa als Mythos für die Jubelrede. Da sollte man aber mal genauer hinschauen. Als das mit der Demokratie und dem Rechtsstaat wirklich anfing - in Attika ungefähr 600 vor Christus - da machte der damalige Staatschef Solon Ernst mit dem, wovon in Merkels Mund nur noch ein Lall verblieb. Schuldenabwälzung - Seisachtheia. Als Solon sah, dass auch danach der Streit nicht aufhörte, entschloss er sich zum zehnjährigen Exil. Ließ vorher alle Bürger schwören, dass sie in seiner Abwesenheit Frieden hielten. Und blieb zur Sicherung des Vertrags, heißt es, freiwillig im Ausland, im Elend, bis an sein Ende.

Wenigstens darin hätte die größte Europäerin unserer Tage es ihm nachtun können!
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