Remember Alex...
Heute vor sechs Jahren hat sich Alex das Leben genommen...
Heute vor sechs Jahren hat sich Alex das Leben genommen...
"Seine Scheuerfrau hatte ihm eben erzählt, daß in der großen Fabrik, wo ihr Mann arbeitete, ein paar hundert tote Ratten zusammengelesen worden waren.
Jedenfalls begannen unsere Mitbürger ungefähr zu dieser Zeit unruhig zu werden. Denn vom 18. April an wimmelte es in den Fabriken und Lagerhäusern von Hunderten von Rattenleichen. Manchmal mußten die Tiere getötet werden, wenn ihr Todeskampf zu lange dauerte. Aber von den Außenquartieren bis ins Stadtinnere, überall, wohin Dr. Rieux kam, überall, wo unsere Mitbürger sich versammelten, stieß man auf die Ratten, die zu Haufen in den Abfalleimern oder in langen Reihen in den Straßengräben lagen. Nun bemächtigten sich auch die Abendzeitungen der Geschichte und fragten, ob die Behörden, ja oder nein, gewillt seien zu handeln und was für Sofortmaßnahmen ins Auge gefaßt worden seien, um die Bevölkerung vor dieser ekelhaften Invasion zu schützen. Die Stadtbehörde hatte gar nichts überlegt und nichts ins Auge gefaßt, berief jedoch eine Ratsversammlung ein. Dem Entrattungsdienst wurde der Befehl erteilt, die toten Ratten jeden Morgen bei Tagesanbruch einzusammeln.
Dann sollten zwei Wagen dieser Dienststelle die Tiere in die Abfallverbrennungsanstalt fahren.
Aber in den folgenden Tagen verschlimmerte sich die Lage. Die Zahl der eingesammelten Nagetiere nahm ständig zu, und die Ernte war jeden Morgen reicher. Vom vierten Tag an kamen die Ratten in Gruppen heraus und starben. Aus den Verschlagen, den Untergeschossen, den Kellern, den Kloaken stiegen sie in langen, wankenden Reihen hervor, taumelten im Licht, drehten sich um sich selber und verendeten in der Nähe der Menschen. Nachts hörte man in den Gängen und den engen Gassen deutlich ihren leisen Todesschrei.
Am Morgen fand man sie in den Straßengräben der Vorstädte ausgestreckt, ein bißchen Blut auf der spitzen Schnauze, die einen aufgedunsen und faulig, die andern steif, mit gesträubten Schnauzhaaren. In der Stadt selber traf man sie in kleinen Haufen auf dem Flur oder in den Höfen. Manchmal starben sie auch einzeln in den Vorräumen der Verwaltungsgebäude, in den Schulhöfen, manchmal auf der Terrasse der Cafés. Unsere entsetzten Mitbürger entdeckten sie an den belebtesten Orten der Stadt. Der Waffenplatz, die Boulevards, die Aussichtsstraße dem Meer entlang waren ab und zu verunziert. Bei Morgengrauen wurde die Stadt von den toten Tieren gesäubert, im Laufe des Tages kamen sie langsam wieder, zahlreicher und zahlreicher. Manch ein nächtlicher Spaziergänger spürte unter seinem Fuß plötzlich die weiche Masse einer eben verendeten Ratte. Es war, als wolle die Erde, auf der unsere Häuser standen, sich selber von der Last ihrer Säfte befreien, so daß die Eiterbeulen, die sie bisher innerlich geplagt hatten, nun aufbrachen.
Man stelle sich das Entsetzen in unserer kleinen Stadt vor, die bis jetzt so ruhig gelebt hatte und nun in wenigen Tagen völlig aufgewühlt wurde, einem gesunden Menschen gleich, dessen dickes Blut plötzlich in Aufruhr gerät!
Die Sache ging so weit, daß die Agentur Ransdoc (Informationen, Nachweise, Auskünfte auf allen Gebieten) in ihrer Rundfunksendung "Unentgeltliche Nachrichten" bekanntgab, daß am 25. April allein 6231 Ratten eingesammelt und verbrannt worden waren. Diese Zahl gab dem täglichen Schauspiel, das die Stadt vor Augen hatte, einen klaren Sinn und vermehrte die Verwirrung. Bis jetzt hatte man sich über einen etwas widerwärtigen Zwischenfall beklagt. Nun merkte man, daß das Geschehen, dessen ganze Tragweite noch nicht abzusehen war und dessen Ursprung unerklärlich blieb, etwas Bedrohliches hatte. Nur der alte, asthmatische Spanier rieb sich weiter die Hände und wiederholte mit kindlicher Freude: "Sie kommen, sie kommen!"
Am 28. April indessen gab Ransdoc eine Ausbeute von ungefähr achttausend Ratten bekannt, und in der Stadt erreichte die Beklemmung ihren Höhepunkt. Man verlangte durchgreifende Maßnahmen, man klagte die Behörden an, und einige, die ein Haus am Meer besaßen, spielten bereits mit dem Gedanken, sich dorthin zurückzuziehen. Aber am nächsten Tag verkündete die Agentur, die Erscheinung habe unvermutet aufgehört, und der Entrattungsdienst habe nur noch eine ganz unbedeutende Anzahl toter Ratten eingesammelt."
Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat. Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.
Eines ist offenbar in diesem Land so klar wie Kloßbrühe: Die rechte Scheiße reproduziert sich ohne große Umstände spontan wie von selbst. Die tiefe Sehnsucht nach "einfachen" Lösungen, egal wie irrational, überwiegt zumindest bei den zahlenmäßig sichtbaren Corona LeugnerInnen aller Couleur. Wie sonst ist es zu erklären, daß - obwohl nur wenige hundert Meter vom reaktionären Geschehen auf dem Cannstatter Wasen entfernt ein Bündnis für positive, solidarische Antworten demonstriert - die bundesweit wohl größte "Schwurbeldemo" gegen das Coronavirus stattfindet? Vermutlich ist den dortigen TeilnehmerInnen die Demo für Solidarität. Freiheitsrechte. Klare Kante gegen Rechts. so was von Scheißegal gewesen.
Dazu ein kurzer Rant, der mir heute Nacht durch den Kopf ging, und den ich zu später Stunde auch auf Twitter von mir gegeben habe.
Vor ein paar Tagen hat sich kein Mensch für die Zustände in den Schlachthöfen interessiert. Außer ein paar Veganern vielleicht, aber das sind ja irgendwie sowieso Terroristen. Inzwischen ist das Aufmacher in der Tagesschau. Aber nicht unbedingt aus Mitleid mit den Tieren. Oder den ArbeiterInnen bei Westfleisch usw.
Die Situation in den Schlachthöfen ist jedoch schon immer so - nicht etwa erst seit Brechts Heiliger Johanna der Schlachthöfe - und hat das schlechte Gewissen noch nie wirklich gestört. Aber - und deswegen reagieren jetzt alle empört, als sei das eine Neuigkeit - das Zauberwort heisst "systemrelevant". Auf deutsch: wichtig im Sinne der kapitalistischen Verwertungslogik. Überspitzt? Eher nicht, wer redet den noch von den rumänischen Spargelerntehelfern?
Sprich: die Frage, wer oder was ist warum in der Coronakrise systemrelevant stellt sich die Tage nicht nur in den Schlachthöfen sondern auch in der Automobilindustrie, den Friseuren, den in der Pflege Beschäftigten usw. und vor allem dem Personal, das dort traditionell ausgiebig ausgebeutet, über das aber gleichzeitig weniger in den Medien berichtet wird. So wird eigentlich immer deutlicher: Die Coronakrise ist im Grunde eine Krise des kapitalistischen Systems, in der die Fähigkeit zur Reproduktion seiner Produktivkräfte immer destruktiver in den Abgrund gerissen und die Lebensgrundlagen zerstört werden.
Nur wird diese Klassenfrage schon immer nicht unbedingt "bewußt" gestellt und auch nicht vom revolutionären Subjekt der Begierde. Wir erleben dieser Tage die diffuse Suche nach einer Perspektive und Antworten, die per se nicht schlecht, sondern normal ist. Leider fällt die revolutionäre Erkenntnis nicht vom Himmel, denn das Sein bestimmt das Bewußtsein und es gibt mindestens dreimal soviele Meinungen, wie es verschiedene Medienberichte, Kommentare usw. gibt, die mehr oder weniger dazu geeignet sind, klare Sicht zu bekommen. Eher weniger, denn beispielsweise die saudumme Forderung, man möchte endlich Lockerungen kam weniger von den Betroffenen selber, sondern es waren Interessen und klare Ansagen aus "der" Industrie. Das fatale Signal wurde dann sogleich von den Dumpfbacken richtig verstanden und so gleich begierig in die Tat umgesetzt und so strömten nach dem Chaos, das die Ministerrunden von sich gaben, die Massen zuhauf in die Parks und die lieben Kleinen mit jeweils 1,5 Meter Abstand in die Schulen.
Über diesen Umstand klagen hieße Eulen nach Athen zu tragen. Es wäre auch zu schön um wahr zu sein, wenn eine Klasse in einem Kernland des Kapitalismus, die seit über 100 Jahren mit Revolution nichts am Hut hat, über Nacht alle Prägung über Bord wirft.
Denn gemessen an der Masse der Menschen ist die Zahl der Corona Leugner und anderer Reaktionärer immer noch eine widerliche, laute und sehr unangenehme Minderheit, die für meinen Geschmack noch deutlicher diskriminiert werden muss. Denn das, was die machen, ist kein Spaß: "Die Situation wird sich so entwickeln, wie es dieses Virus tut: Dem Virus ist völlig egal, wer da demonstriert und was die Leute denken; im Gegenteil. Es wird sich weiter verbreiten und mit Demos wird sich die Pandemie nicht beruhigen." (Miss Freethinking)
Angesichts der Reproduktionsfähigkeit der Dummheit der Covidioten möchte ich behaupten, dass die radikale Linke sich mal aus dem Acker der jahrelang gemütlich gepflegten Subkultur aufmachen und aufhören sollte, die rückständigen Teile der Menschheit als Maßstab für das eigene Selbstbewusstsein zu nehmen. Denn ob aus den schon von Marx postulierten gefesselten Produktivkräften dann tatsächlich "eine Epoche sozialer Revolution" eintritt, ist weder ausgemacht, noch sicher, sondern hängt in entscheidenden Maße von der Bereitschaft eben der radikalen Linken ab, sich darauf wirklich einzulassen: Entweder haben wir eine positive Perspektive gegen dieses gesellschaftliche Jammertal oder es bleibt die revolutionäre Gartenlaube. Gerade in diesen Zeiten der Coronakrise verengt sich alles auf die Kernfrage: Klasse gegen Klasse. Hört sich altbacken an, ist aber so. Meine Hoffnung ist deshalb bei den paar Hundert Menschen, die sich gestern am Kursaal in Bad Cannstatt für Solidarität. Freiheitsrechte. Klare Kante gegen Rechts. gestellt haben.
Denn ansonsten - um den Rant mit Kanzlerin Merkel abzuschließen - "... können wir einpacken." Zumindest, wenn die "Systemrelevanten" sich den Kern des Begriffs nicht zu eigen machen und hm, ich sag es mal so - die Machtfrage stellen. Prophylaktisch natürlich und organisiert.
Auch die ehrwürdigste Verhaltensweise des Sozialismus, Solidarität, ist erkrankt. Sie wollte einmal die Rede von der Brüderlichkeit verwirklichen, sie aus der Allgemeinheit herausnehmen, in der sie eine Ideologie war, und dem Partikularen, der Partei vorbehalten, die in der antagonistischen Welt die Allgemeinheit einzig vertreten sollte. Solidarisch waren Gruppen von Menschen, die gemeinsam ihr Leben einsetzten, und denen das eigene, im Angesicht der greifbaren Möglichkeit, nicht das wichtigste war, so daß sie, ohne die abstrakte Besessenheit von der Idee, aber auch ohne individuelle Hoffnung, doch bereit waren, füreinander sich aufzuopfern. Solches Aufgeben der Selbsterhaltung hatte zur Voraussetzung Erkenntnis und Freiheit des Entschlusses: fehlen diese, so stellt das blinde Partikularinteresse sogleich wieder sich her. Mittlerweile aber ist Solidarität übergegangen ins Vertrauen darauf, daß die Partei tausend Augen hat, in die Anlehnung an die längst zu Uniformträgern avancierten Arbeiterbataillone als die eigentlich stärkeren, ins Mitschwimmen mit dem Strom der Weltgeschichte. Was an Sekurität dabei zeitweise etwa zu gewinnen ist, wird bezahlt mit permanenter Angst, mit Kuschen, Lavieren und Bauchrednerei: die Kräfte, mit denen man die Schwäche des Gegners ausfühlen könnte, werden dazu verbraucht, die Regungen der eigenen Führer zu antizipieren, vor denen man im Innersten mehr zittert als vorm alten Feind, ahnend, daß am Ende die Führer hüben und drüben sich auf dem Rücken der von ihnen Integrierten verständigen werden. Davon ist der Reflex zwischen den Individuen zu spüren. Wer, den Stereotypen gemäß, nach denen die Menschen heute vorweg sich aufteilen, unter die Progressiven gezählt wird, ohne daß er jenen imaginären Revers unterzeichnet hätte, der die Rechtgläubigen zu verbinden scheint, die sich an einem Unwägbaren von Gestik und Sprache, einer Art rauhbautzig gehorsamen Resignation wie an einem Losungswort erkennen, der macht immer wieder die gleiche Erfahrung. Rechtgläubige, oder auch die ihnen allzu ähnlichen Abweichungen, kommen ihm entgegen und erwarten Solidarität von ihm. Sie appellieren ausdrücklich und unausdrücklich ans fortschrittliche Einverständnis. Im Augenblick aber, wo er von ihnen die kleinsten Beweise der gleichen Solidarität, oder auch nur Sympathie für den eigenen Anteil am Sozialprodukt des Leidens erhofft, zeigen sie ihm die kalte Schulter, die von Materialismus und Atheismus im Zeitalter der restaurierten Popen allein übriggeblieben ist. Die Organisierten wollen, daß der anständige Intellektuelle sich für sie exponiere, aber sobald sie nur von weither fürchten, sich selber exponieren zu müssen, ist er ihnen der Kapitalist, und die gleiche Anständigkeit, auf die sie spekulierten, lächerliche Sentimentalität und Dummheit. Solidarität ist polarisiert in die desperate Treue derer, für die es keinen Weg zurück gibt, und in die virtuelle Erpressung an jenen, die mit den Bütteln nichts zu schaffen haben mögen, ohne doch der Bande sich auszuliefern.
Theodor W. Adorno - Minima Moralia
Dialektisches Denken ist der Versuch, den Zwangscharakter der Logik mit deren eigenen Mitteln zu durchbrechen. Aber indem es dieser Mittel sich bedienen muß, steht es in jedem Augenblick in Gefahr, dem Zwangscharakter selber zu verfallen: die List der Vernunft möchte noch gegen die Dialektik sich durchsetzen. Nicht anders läßt das Bestehende sich überschreiten als vermöge des Allgemeinen, das dem Bestehenden selbst entlehnt ist. Das Allgemeine triumphiert übers Bestehende durch dessen eigenen Begriff, und darum droht in solchem Triumph die Macht des bloß Seienden stets sich wiederherzustellen aus der gleichen Gewalt, die sie brach. Durch die Alleinherrschaft der Negation wird nach dem Schema des immanenten Gegensatzes die Bewegung des Gedankens wie der Geschichte eindeutig, ausschließlich, mit unerbittlicher Positivität geführt. Alles wird unter die in der gesamten Gesellschaft historisch je maßgebenden wirtschaftlichen Hauptphasen und ihre Entfaltung subsumiert: das ganze Denken hat etwas von dem, was Pariser Künstler le genre chef d'oeuvre nennen. Daß das Unheil gerade von der Stringenz solcher Entfaltung bewirkt wird; daß jene geradezu mit der Herrschaft zusammenhängt, ist in der kritischen Theorie zumindest nicht explizit, welche wie die traditionelle vom Stufengang auch das Heil erwartet. Stringenz und Totalität, die bürgerlichen Denkideale von Notwendigkeit und Allgemeinheit, umschreiben in der Tat die Formel der Geschichte, aber eben darum schlägt in den festgehaltenen herrschaftlich großen Begriffen die Verfassung der Gesellschaft sich nieder, gegen welche dialektische Kritik und Praxis sich richten. Wenn Benjamin davon sprach, die Geschichte sei bislang vom Standpunkt des Siegers geschrieben worden und müsse von dem der Besiegten aus geschrieben werden, so wäre dem hinzuzufügen, daß zwar Erkenntnis die unselige Geradlinigkeit der Folge von Sieg und Niederlage darzustellen hat, zugleich aller dem sich zuwenden muß, was in solche Dynamik nicht einging, am Wege liegen blieb - gewissermaßen den Abfallstoffen und blinden Stellen, die der Dialektik entronnen sind. Es ist das Wesen des Besiegten, in seiner Ohnmacht unwesentlich, abseitig, skurril zu scheinen. Was die herrschende Gesellschaft transzendiert, ist nicht nur die von dieser entwickelte Potentialität, sondern ebensowohl das, was nicht recht in die historischen Bewegungsgesetze hineinpaßte. Die Theorie sieht sich aufs Quere, Undurchsichtige, Unerfaßte verwiesen, das als solches zwar vorweg ein Anachronistisches an sich trägt, aber nicht aufgeht im Veralteten, weil es der historischen Dynamik ein Schnippchen schlug. An der Kunst läßt sich das am ehesten einsehen. Kinderbücher wie Alice in Wonderland oder der Struwwelpeter, vor denen die Frage nach Fortschritt und Reaktion lächerlich wäre, enthalten unvergleichlich beredtere Chiffren selbst der Geschichte als die mit der offiziellen Thematik von tragischer Schuld, Wende der Zeiten, Weltlauf und Individuum befaßte Großdramatik Hebbels, und in den schnöden und albernen Klavierstücken Saties blitzen Erfahrungen auf, von denen die Konsequenz der Schönbergschule, hinter der alles Pathos der musikalischen Entwicklung steht, nichts sich träumen läßt. Gerade die Großartigkeit der Folgerungen mag unversehens den Charakter des Provinziellen annehmen. Benjamins Schriften sind der Versuch, in immer erneutem Ansatz das von den großen Intentionen nicht bereits Determinierte philosophisch fruchtbar zu machen. Sein Vermächtnis besteht in der Aufgabe, solchen Versuch nicht den verfremdenden Rätselbildern des Gedankens einzig zu überlassen, sondern das Intentionslose durch den Begriff einzuholen: der Nötigung, dialektisch zugleich und undialektisch zu denken.
Theodor W. Adorno - Minima Moralia
Dann wieder
Was keiner geglaubt haben wird
was keiner gewusst haben konnte
was keiner geahnt haben durfte
das wird dann wieder
das gewesen sein
was keiner gewollt haben wollte.
(Erich Fried - 1921 bis 1988)