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Man muss den rollenden Schneeball zertreten...

Erich Kästner 1961
Foto: von Basch
Lizenz: [CC BY-SA 3.0 nl]

Wie aktuell der Bezug des heute leider allzuoft auf seine Kinder- und Jugendliteratur reduzierten Erich Kästner zur Gegenwart ist, hatte ich ja schon hier vermerkt: "Wie die Faust aufs Auge von Pegida & Co." sowie sein Gedicht "Warnung vor Selbstschüssen". Heute der Schlußteil seiner Rede "Über das Verbrennen von Büchern":

„(...) Die Ereignisse von 1938 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muß den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr an! Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist die Lehre, das ist das Fazit dessen, was uns 1933 widerfuhr-š Das ist der Schluß, den wir aus unseren Erfahrungen ziehen müssen, und es ist der Schluß meiner Rede. Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben. Es ist eine Angelegenheit des Terminkalenders. Nicht des Heroismus.“

Bitte nicht auf die deutsche Art klatschen!

Heute mal wieder ein hier leider viel zu lange vernachlässigtes Thema: Warum es uncool ist, auf die deutsche Art zu klatschen (Links, zwo, drei, vier!) und so praktisch jedes Stück zur Marschmusik werden zu lassen (Bierzelteffekt). Das erläutert Klaus Kauker in seinem 2010 gedrehten Video. Woher das kommt? Von dem Beitrag "Was ist eigentlich so schlimm daran, auf die deutsche Art zu klatschen?" bei den Blogrebellen, die auch beleuchten, warum das mit dem Quintenzirkel so wichtig für DJs und MusikerInnen ist. Was man unter anderem bei Norah Jones, Sammy Davis Jr. (Der das nochmal ganz genau erläutert, ab Minute 9:20), Phil Collins, Aretha Franklin und hups, der Kelly Family nachschauen kann, die es im Gegensatz zum Publikum drauf haben, ebenso selbiges bei Tobias Mann - Deutschuntericht

An den Bürger

Karl Kraus
Daß im Dunkel die dort leben,
so du selbst nur Sonne hast;
daß für dich sie Lasten heben,
neben ihrer eignen Last;
daß du frei durch ihre Ketten,
Tag erlangst durch ihre Nacht:
was wird von der Schuld dich retten,
daß du daran nie gedacht!

Karl Kraus

Über vermuffelte, griesgrämige Individuen

Theodor W. Adorno (vorne rechts) mit Max Horkheimer (links) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

"Wir werden nicht dadurch freie Menschen, daß wir uns selbst, nach einer scheußlichen Phrase, als je Einzelne verwirklichen, sondern dadurch, daß wir aus uns herausgehen, zu anderen in Beziehung treten und in gewissem Sinn an sie uns aufgeben. Dadurch erst bestimmen wir uns als Individuen, nicht indem wir uns wie Pflänzchen mit Wasser begießen, um allseitig gebildete Persönlichkeiten zu werden. Ein Mensch, der unter äußerem Zwang, ja durch sein egoistisches Interesse zur Freundlichkeit gebracht wird, gelangt am Ende eher zu einer gewissen Humanität in seinem Verhältnis zu anderen Menschen als jemand, der nur, um mit sich selbst identisch zu sein - als ob diese Identität immer wünschbar wäre -, ein bösartiges, vermuffeltes Gesicht macht und einem von vornherein bedeutet, man sei für ihn eigentlich nicht vorhanden und habe in seine Innerlichkeit, die vielfach gar nicht existiert, nichts hineinzureden."

Theodor W. Adorno: Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika. In: Tiedemann u.a. (Hrsg.): Theodor W. Adorno - Gesammelte Schriften Band 10.2, Frankfurt am Main 2003, S. 735f.

Via Kult des Fragmets

Charles Bukowski - "Consummation of Grief"

Charles Bukowski
Zeichnung von Commonurbock23
Lizenz: GFDL via Wikimedia Commons

I even hear the mountains
the way they laugh
up and down their blue sides
and down in the water
the fish cry
and the water
is their tears.

I listen to the water
on nights I drink away
and the sadness becomes so great

I hear it in my clock
it becomes knobs upon my dresser
it becomes paper on the floor
it becomes a shoehorn
a laundry ticket
it becomes
cigarette smoke
climbing a chapel of dark vines...
it matters little
very little love is not so bad
or very little life
what counts
is waiting on walls

I was born for this

I was born to hustle roses down the avenues of the dead.

Charles Bukowski 16. August 1920 in Andernach als Heinrich Karl Bukowski; -  9. März 1994 in San Pedro (Los Angeles)

Über Abweichungen

Theodor W. Adorno (vorne rechts) mit Max Horkheimer (links) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

"Jeder macht sich verdächtig, der mit der Kritik am Kapitalismus die am Proletariat verbindet, das mehr und mehr die kapitalistischen Entwicklungstendenzen selber bloß reflektiert. Über die Klassengrenzen hinweg ist das negative Element des Gedankens verpönt. Die Weisheit des Kaisers Wilhelm, "Schwarzseher dulde ich nicht", ist in die Reihen derer eingedrungen, die er zerschmettern wollte. Wer etwa auf das Ausbleiben eines jeglichen spontanen Widerstands der deutschen Arbeiter hinwies, dem ward entgegengehalten, alles sei derart im Fluß, daß kein Urteil möglich sei; wer nicht an Ort und Stelle, unter den armen deutschen Opfern des Luftkriegs sich befinde, der doch diesen ganz gut gefiel, solange es gegen die andern ging, habe überhaupt den Mund zu halten, und außerdem stünden Agrarreformen in Rumänien und Jugoslawien unmittelbar bevor. Je weiter jedoch die rationale Erwartung entschwindet, daß das Verhängnis der Gesellschaft wirklich gewendet werde, um so ehrfürchtiger beten sie dafür die alten Namen: Masse, Solidarität, Partei, Klassenkampf her. Während kein Gedanke aus der Kritik der politischen Ökonomie bei den Anhängern der linken Plattform mehr feststeht; während ihre Zeitungen ahnungslos täglich Thesen ausposaunen, die allen Revisionismus übertrumpfen, aber gar nichts bedeuten und morgen auf Abruf durch die umgekehrten ersetzt werden können, zeigen die Ohren der Linientreuen musikalische Schärfe, sobald es sich um die leiseste Respektlosigkeit gegen die der Theorie entäußerten Parolen handelt. Zum Hurra-Optimismus schickt sich der internationale Patriotismus. Der Loyale muß zu einem Volk sich bekennen, gleichgültig welchem. Im dogmatischen Begriff des Volkes aber, der Anerkennung des vorgeblichen Schicksalszusammenhangs zwischen Menschen als der Instanz fürs Handeln, ist die Idee einer vom Naturzwang emanzipierten Gesellschaft implizit verneint."


Theodor W. Adorno
: Minima Moralia, (Anhang I), aus dem öffentlich zugänglichen Werk (pdf)

Bertolt Brecht zur Frage von Organisation und Bündnispolitik

Bertolt Brecht (1954)
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-W0409-300 / Kolbe, Jörg / CC-BY-SA 3.0
Über Kompromisse
oder
Wein und Wasser aus zwei Gläsern trinken

Mi-en-leh lehrte über Kompromisse:

Kompromisse sind oft nötig.
Viele Leute verstehen darunter, Wasser in seinen Wein schütten.
Gemeint ist, unverdünnt sei Wein unbekömmlich.
Oder, der vorhandene Wein reiche für den Durst nicht aus.
Ich habe eine andere Ansicht von Kompromissen.
Ich trinke dann Wein und Wasser aus zwei Gläsern.
Denn es ist viel zu schwer, dann wieder den Wein aus dem Wasser zu schütten.

Bertolt Brecht: Me-Ti. Buch der Wendungen
(Im Buch Me-Ti ist Mi-en-leh Brechts Pseudonym für Lenin)

Via Die Wurfbude. Würfe und Entwürfe.

Der Mensch als Anhängsel der Maschine.

Herbert Marcuse in Newton, Massachusetts, 1955
Copyright: Marcuse family, represented by Harold Marcuse
"Die Maschine ist indifferent gegenüber den gesellschaftlichen Anwendungen, denen sie unterworfen wird, vorausgesetzt, diese Anwendungen verbleiben im Rahmen ihres technischen Vermögens."

Herbert Marcuse - Der eindimensionale Mensch

Wehe den Besiegten

“Schicksalsland, wo die einen ewig im Licht stehen und die anderen ewig im Dunkel. Ich durchfuhr es kreuz und quer in den Evakuierungszügen, die uns aus Auschwitz unter dem Druck der letzten Sowjetoffensive westwärts fuhren und danach von Buchenwald gen Norden nach Bergen-Belsen. Wenn der Schienenweg durch den Schnee und über einen Zipfel böhmischen Landes führte, kamen die Bäuerinnen an den Todeszug gelaufen mit Brot und Äpfeln und mußten durch Blindschüsse der Begleitmannschaft verjagt werden. Im Reich aber: die Gesichter von Stein. Ein stolzes Volk. Ein stolzes Volk, immer noch. Der Stolz ist ein wenig in die Breite gegangen, das sei zugegeben. Er preßt sich nicht mehr in mahlenden Kiefern heraus, sondern glänzt in der Zufriedenheit des guten Gewissens und der begreiflichen Freude, es wieder einmal geschafft zu haben. Er beruft sich nicht mehr auf die heroische Waffentat, sondern auf die in der Welt einzig dastehende Produktivität. Aber es ist der Stolz von einst, und es ist auf unserer Seite die Ohnmacht von damals. Wehe den Besiegten.-

Jean Améry - Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten

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