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Zum Ende

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

Lizenz: CC BY-SA 3.0

Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. Es ist das Allereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nach solcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber es ist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Standort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins, wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist, während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloß dem was ist erst abgetrotzt werden muß, um verbindlich zu geraten, sondern eben darum selber auch mit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit geschlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat. Je leidenschaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sich abdichtet um des Unbedingten willen, um so bewußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er der Welt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß er noch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegenüber der Forderung, die damit an ihn ergeht, ist aber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

Revenge of the Zombies. Ein kurzer Rant zu den #Covidioten in #Stuttgart und anderswo.

The Yards. Schlachthöfe in Chicago, 1941 - Foto von John Vachon
Lizenz: Gemeinfrei
Eines ist offenbar in diesem Land so klar wie Kloßbrühe: Die rechte Scheiße reproduziert sich ohne große Umstände spontan wie von selbst. Die tiefe Sehnsucht nach "einfachen" Lösungen, egal wie irrational, überwiegt zumindest bei den zahlenmäßig sichtbaren Corona LeugnerInnen aller Couleur. Wie sonst ist es zu erklären, daß - obwohl nur wenige hundert Meter vom reaktionären Geschehen auf dem Cannstatter Wasen entfernt ein Bündnis für positive, solidarische Antworten demonstriert - die bundesweit wohl größte "Schwurbeldemo" gegen das Coronavirus stattfindet? Vermutlich ist den dortigen TeilnehmerInnen die Demo für Solidarität. Freiheitsrechte. Klare Kante gegen Rechts. so was von Scheißegal gewesen.

Dazu ein kurzer Rant, der mir heute Nacht durch den Kopf ging, und den ich zu später Stunde auch auf Twitter von mir gegeben habe.

Vor ein paar Tagen hat sich kein Mensch für die Zustände in den Schlachthöfen interessiert. Außer ein paar Veganern vielleicht, aber das sind ja irgendwie sowieso Terroristen. Inzwischen ist das Aufmacher in der Tagesschau. Aber nicht unbedingt aus Mitleid mit den Tieren. Oder den ArbeiterInnen bei Westfleisch usw.

Die Situation in den Schlachthöfen ist jedoch schon immer so - nicht etwa erst seit Brechts Heiliger Johanna der Schlachthöfe - und hat das schlechte Gewissen noch nie wirklich gestört. Aber - und deswegen reagieren jetzt alle empört, als sei das eine Neuigkeit - das Zauberwort heisst "systemrelevant". Auf deutsch: wichtig im Sinne der kapitalistischen Verwertungslogik. Überspitzt? Eher nicht, wer redet den noch von den rumänischen Spargelerntehelfern?

Sprich: die Frage, wer oder was ist warum in der Coronakrise systemrelevant stellt sich die Tage nicht nur in den Schlachthöfen sondern auch in der Automobilindustrie, den Friseuren, den in der Pflege Beschäftigten usw. und vor allem dem Personal, das dort traditionell ausgiebig ausgebeutet, über das aber gleichzeitig weniger in den Medien berichtet wird. So wird eigentlich immer deutlicher: Die Coronakrise ist im Grunde eine Krise des kapitalistischen Systems, in der die Fähigkeit zur Reproduktion seiner Produktivkräfte immer destruktiver in den Abgrund gerissen und die Lebensgrundlagen zerstört werden.

Nur wird diese Klassenfrage schon immer nicht unbedingt "bewußt" gestellt und auch nicht vom revolutionären Subjekt der Begierde. Wir erleben dieser Tage die diffuse Suche nach einer Perspektive und Antworten, die per se nicht schlecht, sondern normal ist. Leider fällt die revolutionäre Erkenntnis nicht vom Himmel, denn das Sein bestimmt das Bewußtsein und es gibt mindestens dreimal soviele Meinungen, wie es verschiedene Medienberichte, Kommentare usw. gibt, die mehr oder weniger dazu geeignet sind, klare Sicht zu bekommen. Eher weniger, denn beispielsweise die saudumme Forderung, man möchte endlich Lockerungen kam weniger von den Betroffenen selber, sondern es waren Interessen und klare Ansagen aus "der" Industrie. Das fatale Signal wurde dann sogleich von den Dumpfbacken richtig verstanden und so gleich begierig in die Tat umgesetzt und so strömten nach dem Chaos, das die Ministerrunden von sich gaben, die Massen zuhauf in die Parks und die lieben Kleinen mit jeweils 1,5 Meter Abstand in die Schulen.

Über diesen Umstand klagen hieße Eulen nach Athen zu tragen. Es wäre auch zu schön um wahr zu sein, wenn eine Klasse in einem Kernland des Kapitalismus, die seit über 100 Jahren mit Revolution nichts am Hut hat, über Nacht alle Prägung über Bord wirft.

Denn gemessen an der Masse der Menschen ist die Zahl der Corona Leugner und anderer Reaktionärer immer noch eine widerliche, laute und sehr unangenehme Minderheit, die für meinen Geschmack noch deutlicher diskriminiert werden muss. Denn das, was die machen, ist kein Spaß: "Die Situation wird sich so entwickeln, wie es dieses Virus tut: Dem Virus ist völlig egal, wer da demonstriert und was die Leute denken; im Gegenteil. Es wird sich weiter verbreiten und mit Demos wird sich die Pandemie nicht beruhigen." (Miss Freethinking)

Angesichts der Reproduktionsfähigkeit der Dummheit der Covidioten möchte ich behaupten, dass die radikale Linke sich mal aus dem Acker der jahrelang gemütlich gepflegten Subkultur aufmachen und aufhören sollte, die rückständigen Teile der Menschheit als Maßstab für das eigene Selbstbewusstsein zu nehmen. Denn ob aus den schon von Marx postulierten gefesselten Produktivkräften dann tatsächlich "eine Epoche sozialer Revolution" eintritt, ist weder ausgemacht, noch sicher, sondern hängt in entscheidenden Maße von der Bereitschaft eben der radikalen Linken ab, sich darauf wirklich einzulassen: Entweder haben wir eine positive Perspektive gegen dieses gesellschaftliche Jammertal oder es bleibt die revolutionäre Gartenlaube. Gerade in diesen Zeiten der Coronakrise verengt sich alles auf die Kernfrage: Klasse gegen Klasse. Hört sich altbacken an, ist aber so. Meine Hoffnung ist deshalb bei den paar Hundert Menschen, die sich gestern am Kursaal in Bad Cannstatt für Solidarität. Freiheitsrechte. Klare Kante gegen Rechts. gestellt haben.

Denn ansonsten - um den Rant mit Kanzlerin Merkel abzuschließen - "... können wir einpacken." Zumindest, wenn die "Systemrelevanten" sich den Kern des Begriffs nicht zu eigen machen und hm, ich sag es mal so - die Machtfrage stellen. Prophylaktisch natürlich und organisiert.

Solidarität. Freiheitsrechte. Klare Kante gegen Rechts. Kundgebung am Samstag, den 9. Mai 2020 in Bad Cannstatt.

Viele Menschen mussten soziale Kontakte einfrieren, ganze Industriezweige wurden kurzfristig heruntergefahren oder stillgelegt. Arbeitslosigkeit, möglicher Kollaps des Gesundheitssystems und die Sorge um die Nächsten: Viele Menschen blicken jetzt in eine ungewisse Zukunft.

Corona trifft alle, aber nicht alle gleichermaßen. Während die einen nicht mehr wissen, wie sie den Spagat zwischen Homeoffice und Kinderbetreuung stemmen sollen, sitzen andere die Krise im Wochenendhaus aus. Während Geflüchtete in Ellwangen eingeschlossen von der Infektion bedroht sind, setzten sich andere mit dem Privatjet nach Neuseeland ab. Unmut ist da verständlich -“ und berechtigt.

Die Corona-Pandemie wirkt als Katalysator für die wahrscheinlich größte Wirtschaftskrise der letzten Jahrzehnte. Die aktuellen Kündigungswellen in der Automobil-Industrie oder der Gastronomie sind die Vorboten des großen Knalls.

Die Krisenmaßnahmen der Regierung sprechen eine deutliche Sprache. Rettungsschirme in Milliardenhöhe für Konzerne werden begleitet von der Aushöhlung der Arbeitsrechte und der Verlängerung der Arbeitszeiten. Im Fokus stehen die Profite der großen Player, nicht die ökonomische Sicherheit der Bevölkerung.

Der Lockdown hat das öffentliche Leben in den letzten Wochen extrem eingeengt oder sogar beendet. Das gilt nicht nur für die ohnehin zu wenig unterstützte Kultur und Kunst, die für ein humanes gesellschaftliches Klima unverzichtbar sind. Freiheitsrechte wurden in kurzer Zeit abgebaut oder abgeschafft und politische Artikulation auf der Straße vielerorts unmöglich gemacht. Die grün-schwarze Landesregierung in BW nutzt die aktuelle Situation und baut die polizeilichen Befugnisse massiv aus. Hier werden Grundrechte abgeschafft.

Widerstand dagegen ist gerechtfertigt: Gegen die Verlängerung der Arbeitszeiten, gegen Kurzarbeit, gegen die Verantwortungslosigkeit, Alleinerziehende mit der Kinderbetreuung alleinzulassen. Und gegen den Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Kurz: Wir müssen verhindern, dass die Lasten der Krise auf unseren Rücken ausgetragen werden und der Staat aufrüstet, um den Protest dagegen zu ersticken. Aber weder Verschwörungsideologien noch die Leugnung wissenschaftlicher und medizinischer Fakten sind Antworten auf die aktuelle Situation.

Wer sich ernsthaft gegen die aktuellen Probleme zur Wehr setzen will, kann und darf das niemals gemeinsam mit Rechten machen! An den „Wir für das Grundgesetz“-Demos nehmen organisierte Rechte aller Schattierungen teil. AfD und Co. sind innenpolitische Hardliner, sie stehen seit jeher für eine Law-and-order-Politik -“ und nicht etwa für Freiheitsrechte.

Es liegt an uns, solidarische Antworten auf die Krise zu finden und gemeinsam dafür zu sorgen, dass es eben nicht die Schwächsten sind, die jetzt die Krisenlasten tragen müssen. Unser Solidaritätsbegriff hat nichts mit den Durchhalteparolen aus dem Kanzleramt gemein. Mit Freiheit meinen wir nicht die Freiheit der Wirtschaft, Profite auf unsere Kosten zu machen, sondern uns dagegen zur Wehr zu setzen.Und wir zeigen klare Kante gegen die simplen Antworten und Versprechungen von rechts.

Klar ist: Kundgebungen unter freiem Himmel müssen in Pandemie-Zeiten anders aussehen und mit Rücksicht abgewickelt werden. Aber nur Online-Demos, Foto-Aktionen oder Spaziergänge können kein Ersatz für sichtbare, dringend notwendige Gegenpositionen auf der Straße sein.

Deshalb kommt am Samstag, 9. Mai 2020, um 14.30 Uhr zur Bündniskundgebung nach Cannstatt - Kursaal. Achtet aufeinander, haltet Abstand und tragt bitte Atemschutz.


Bisher rufen auf:
Aktionsbündnis 8. März, Antifaschistische Aktion (Aufbau) Stuttgart, Antifaschistisches Aktionsbündnis Stuttgart & Region, DIDF Stuttgart, Die Linke KV Stuttgart, Ende Gelände Stuttgart, Fridays for Future Stuttgart, Interventionistische Linke Stuttgart, Refugees4Refugees, Seebrücke Stuttgart, Solidarisches Stuttgart, SÖS - Stuttgart ökologisch sozial, ver.di Bezirk Stuttgart, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, VVN-BdA Esslingen, VVN-BdA Stuttgart, Werkstatthaus

(Stand 07. Mai 2020, via)

Katze aus dem Sack.

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

Lizenz: CC BY-SA 3.0

Auch die ehrwürdigste Verhaltensweise des Sozialismus, Solidarität, ist erkrankt. Sie wollte einmal die Rede von der Brüderlichkeit verwirklichen, sie aus der Allgemeinheit herausnehmen, in der sie eine Ideologie war, und dem Partikularen, der Partei vorbehalten, die in der antagonistischen Welt die Allgemeinheit einzig vertreten sollte. Solidarisch waren Gruppen von Menschen, die gemeinsam ihr Leben einsetzten, und denen das eigene, im Angesicht der greifbaren Möglichkeit, nicht das wichtigste war, so daß sie, ohne die abstrakte Besessenheit von der Idee, aber auch ohne individuelle Hoffnung, doch bereit waren, füreinander sich aufzuopfern. Solches Aufgeben der Selbsterhaltung hatte zur Voraussetzung Erkenntnis und Freiheit des Entschlusses: fehlen diese, so stellt das blinde Partikularinteresse sogleich wieder sich her. Mittlerweile aber ist Solidarität übergegangen ins Vertrauen darauf, daß die Partei tausend Augen hat, in die Anlehnung an die längst zu Uniformträgern avancierten Arbeiterbataillone als die eigentlich stärkeren, ins Mitschwimmen mit dem Strom der Weltgeschichte. Was an Sekurität dabei zeitweise etwa zu gewinnen ist, wird bezahlt mit permanenter Angst, mit Kuschen, Lavieren und Bauchrednerei: die Kräfte, mit denen man die Schwäche des Gegners ausfühlen könnte, werden dazu verbraucht, die Regungen der eigenen Führer zu antizipieren, vor denen man im Innersten mehr zittert als vorm alten Feind, ahnend, daß am Ende die Führer hüben und drüben sich auf dem Rücken der von ihnen Integrierten verständigen werden. Davon ist der Reflex zwischen den Individuen zu spüren. Wer, den Stereotypen gemäß, nach denen die Menschen heute vorweg sich aufteilen, unter die Progressiven gezählt wird, ohne daß er jenen imaginären Revers unterzeichnet hätte, der die Rechtgläubigen zu verbinden scheint, die sich an einem Unwägbaren von Gestik und Sprache, einer Art rauhbautzig gehorsamen Resignation wie an einem Losungswort erkennen, der macht immer wieder die gleiche Erfahrung. Rechtgläubige, oder auch die ihnen allzu ähnlichen Abweichungen, kommen ihm entgegen und erwarten Solidarität von ihm. Sie appellieren ausdrücklich und unausdrücklich ans fortschrittliche Einverständnis. Im Augenblick aber, wo er von ihnen die kleinsten Beweise der gleichen Solidarität, oder auch nur Sympathie für den eigenen Anteil am Sozialprodukt des Leidens erhofft, zeigen sie ihm die kalte Schulter, die von Materialismus und Atheismus im Zeitalter der restaurierten Popen allein übriggeblieben ist. Die Organisierten wollen, daß der anständige Intellektuelle sich für sie exponiere, aber sobald sie nur von weither fürchten, sich selber exponieren zu müssen, ist er ihnen der Kapitalist, und die gleiche Anständigkeit, auf die sie spekulierten, lächerliche Sentimentalität und Dummheit. Solidarität ist polarisiert in die desperate Treue derer, für die es keinen Weg zurück gibt, und in die virtuelle Erpressung an jenen, die mit den Bütteln nichts zu schaffen haben mögen, ohne doch der Bande sich auszuliefern.

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

Lesetipp im Zeichen der #Coronakrise: Vogelgrippe. Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien.

Mike Davis
https://archinect.com / CC BY-SA
Der im Jahr 2005 zuerst veröffentlichte und 2006 überarbeitete Text "Vogelgrippe" des marxistischen Analytikers, Stadtsoziologen und Historikers Mike Davis steht beim Verlag Assoziation A zum Download (PDF) zur Verfügung. Bei LinksLesen ist eine kurze Besprechung des lesenswerten Buches zu finden, ebenso wie eine kurze Charakterisierung des hierzulande leider viel zu wenig bekannten Autors. "(...) Davis ist mit seinen Werken sehr breit aufgestellt und recht gut lesbar. Er stellt in seinen Büchern stets einen Zusammenhang her zwischen gesellschaftlichen Phänomenen (eben Klimawandel, Epidemien, Stadtentwicklung usw.) und den Folgen für die verschiedenen Segmente der Gesellschaft. Die Auswirkungen für den prekärsten Teil einer Gesellschaft werden von Davis häufig in das Zentrum seiner Analyse gestellt. Allein diese Perspektive unterscheidet ihn von vielen anderen Autor*innen. (...)"

Zu "Vogelgrippe" hat Davis eine aktuelle, auf die Corona Pandemie bezogene Einleitung veröffentlicht:

"Mit COVID-19 ist endlich das Monster an der Tür. Die Forscher arbeiten Tag und Nacht daran, den Ausbruch zu charakterisieren, stehen jedoch vor drei großen Herausforderungen.

Erstens hat der anhaltende Mangel oder die Nichtverfügbarkeit von Testkits jede Hoffnung auf Eindämmung zunichte gemacht. Darüber hinaus werden genaue Schätzungen der wichtigsten Parameter wie Reproduktionsrate, Größe der infizierten Population und Anzahl der gutartigen Infektionen verhindert. Das Ergebnis ist ein Chaos von Zahlen.

Es gibt jedoch zuverlässigere Daten über die Auswirkungen des Virus auf bestimmte Gruppen in einigen Ländern. Es ist sehr beängstigend. Italien und Großbritannien beispielsweise melden eine viel höhere Sterblichkeitsrate unter den über 65-Jährigen. Die von Trump abgewinkelte „Grippe“ ist eine beispiellose Gefahr für die geriatrische Bevölkerung mit einer potenziellen Zahl von Todesopfern in Millionenhöhe.

Zweitens mutiert dieses Virus wie jährliche Influenza, während es durch Populationen mit unterschiedlichen Alterszusammensetzungen und erworbenen Immunitäten verläuft. Die Vielfalt, die Amerikaner am wahrscheinlichsten bekommen, unterscheidet sich bereits geringfügig von der des ursprünglichen Ausbruchs in Wuhan. Eine weitere Mutation könnte trivial sein oder die derzeitige Verteilung der Virulenz verändern, die mit dem Alter zunimmt, wobei Babys und Kleinkinder ein geringes Risiko für eine ernsthafte Infektion aufweisen, während Oktogenarier einer tödlichen Gefahr durch virale Pneumonie ausgesetzt sind.

Drittens können die Auswirkungen des Virus auf Kohorten unter 65 Jahren in armen Ländern und in Gruppen mit hoher Armut radikal unterschiedlich sein, selbst wenn das Virus stabil und wenig mutiert bleibt. Betrachten Sie die globale Erfahrung der spanischen Grippe in den Jahren 1918-19, die schätzungsweise 1 bis 2 Prozent der Menschheit getötet hat. Im Gegensatz zum Corona-Virus war es für junge Erwachsene am tödlichsten, und dies wurde oft als Folge ihres relativ stärkeren Immunsystems erklärt, das auf Infektionen überreagierte, indem es tödliche „Zytokinstürme“ gegen Lungenzellen auslöste. Das ursprüngliche H1N1 fand notorisch eine bevorzugte Nische in Armeelagern und Schlachtfeldgräben, in denen es junge Soldaten zu Zehntausenden niederschlug. Der Zusammenbruch der großen deutschen Frühlingsoffensive von 1918 und damit der Ausgang des Krieges wurde der Tatsache zugeschrieben, dass die Alliierten, in Gegensatz zu ihrem Feind, die Lücken mit neu eingetroffenen amerikanischen Truppen auffüllen konnten.

Es wird jedoch selten gewürdigt, dass 60 Prozent der weltweiten Sterblichkeit in Westindien auftraten, wo Getreideexporte nach Großbritannien und brutale Anforderungspraktiken mit einer großen Dürre zusammenfielen. Die daraus resultierende Nahrungsmittelknappheit brachte Millionen armer Menschen an den Rand des Hungers. Sie wurden Opfer einer unheimlichen Synergie zwischen Unterernährung, die ihre Immunantwort auf Infektionen unterdrückte, und weit verbreiteter bakterieller und viraler Pneumonie. In einem anderen Fall setzte der von Großbritannien besetzte Iran, mehrere Jahre Dürre, Cholera und Nahrungsmittelknappheit, gefolgt von einem weit verbreiteten Malaria-Ausbruch, den Tod eines geschätzten Fünftels der Bevölkerung voraus.

Diese Geschichte - insbesondere die unbekannten Folgen von Wechselwirkungen mit Unterernährung und bestehenden Infektionen - sollte uns warnen, dass COVID-19 in den Slums von Afrika und Südasien einen anderen und tödlicheren Weg einschlagen könnte. Die Gefahr für die globalen Armen wurde von Journalisten und westlichen Regierungen fast vollständig ignoriert. Das einzige veröffentlichte Stück, das ich gesehen habe, behauptet, dass die Pandemie nur geringe Auswirkungen haben sollte, da die Stadtbevölkerung Westafrikas die jüngste der Welt ist. In Anbetracht der Erfahrung von 1918 ist dies eine dumme Hochrechnung. Niemand weiß, was in den kommenden Wochen in Lagos, Nairobi, Karachi oder Kolkata passieren wird. Die einzige Gewissheit ist, dass sich reiche Länder und reiche Klassen darauf konzentrieren werden, sich unter Ausschluss internationaler Solidarität und medizinischer Hilfe zu retten.(...)"

Diese Stärken in Davis Texten nährt die Hoffnung, daß sich die radikale Linke aus ihrer durch die Coronakrise verstärkten Schockstarre befreit. Sie muss den Menschen helfen, die in der Coronakrise vor allem offen in Erscheinung getretene Krise des Kapitalismus zu erkennen, die wie nie zuvor ein Schlaglicht auf dessen Unfähigkeit wirft, eine angemessene medizinische Versorgung zu organisieren.

"(...) Der Ausbruch hat sofort die starke Klassenunterschiede im Gesundheitswesen aufgedeckt: Personen mit guten Gesundheitsplänen, die auch von zu Hause aus arbeiten oder unterrichten können, sind bequem isoliert, sofern sie umsichtige Sicherheitsvorkehrungen treffen. Öffentliche Angestellte und andere Gruppen gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmer mit angemessener Deckung müssen schwierige Entscheidungen zwischen Einkommen und Schutz treffen. In der Zwischenzeit werden Millionen von Niedriglohnarbeitern, Landarbeitern, ungedeckten Kontingentarbeitern, Arbeitslosen und Obdachlosen zu den Wölfen geworfen. Selbst wenn Washington das Test-Fiasko endgültig löst und eine angemessene Anzahl von Kits bereitstellt, muss der Nichtversicherte dennoch Ärzte oder Krankenhäuser für die Verwaltung der Tests bezahlen. Insgesamt werden die Rechnungen für Familienärzte steigen, während Millionen von Arbeitnehmern ihren Arbeitsplatz und ihre vom Arbeitgeber bereitgestellte Versicherung verlieren. (...)"

Seit Erscheinen von Davis Studie im Jahr 2005 haben sich vor allem in den USA dazu die Rahmenbedinungen für die Gesundheitssysteme nicht wesentlich verbessert, im Gegenteil wurde weiter kaputtgespart d.h. auf Profit getrimmt. Am deutlichsten tritt dazu in den von dessen neoliberalen Spielart in Italien und Spanien und vor allem in den praktisch zerstörten Gesundheitssystem Britanniens und der USA zu Tage:

"(...) Es ist gelinde gesagt enttäuschend, dass weder Sanders noch Warren in den Hauptdebatten den Verzicht von Big Pharma auf die Erforschung und Entwicklung neuer Antibiotika und Virostatika hervorgehoben haben. Von den 18 größten Pharmaunternehmen haben 15 das Feld vollständig aufgegeben. Herzmedikamente, süchtig machende Beruhigungsmittel und Behandlungen gegen Impotenz bei Männern sind Gewinnführer, nicht die Abwehr gegen Krankenhausinfektionen, neu auftretende Krankheiten und traditionelle tropische Killer. Ein universeller Impfstoff gegen Influenza - das heißt ein Impfstoff, der auf die unveränderlichen Teile der Oberflächenproteine ?? des Virus abzielt - ist seit Jahrzehnten eine Möglichkeit, hat aber nie eine profitable Priorität. (...)"

Aber auch hierzulande konzentrieren sich die Bemühungen mehr darauf, die Pandemie zu verlangsamen, um das Gesundheitssystem nicht "zu überlasten". Das hört sich nicht danach an, als seien Zustände wie in der Lombardei oder im Elsaß undenkbar. Im Gegenteil bekommen so die geweckten Begehrlichkeiten "Maßnahmen" ultrakonservativer Politiker vom Schlage Söder zur Beschneidung demokratischer Grundrechte einen Sinn. Warum geben in Baden-Württemberg einzelne Gesundheitsämter Listen mit den Daten von Corona-Infizierten an die Polizei? Warum ein zentralisiertes ggf. auch anlaßloses Handytracking mutmaßlicher Infizierter statt machbarer, dezentralisierter Datenverarbeitung (PDF)? Warum verschmelzen die Grenzen der "Sicherheitsarchitektur", wenn nicht nur die Landesregierung in Baden-Württemberg überlegt, Bundeswehrsoldaten zur Übernahme polizeilicher Aufgaben anzufordern bzw. einzusetzen? Denn ansonsten würde es Maßnahmen geben, die eben nicht vor allem auf die Absicherung der Profite von Konzernen wie Daimler abzielen, sondern die Frage stellen, was ist mit den Menschen, die dort oder in anderen Betrieben wie Stihl nicht gerade unter Quarantänebedingungen arbeiten, mit den 13 Millionen Behinderten, den Marginaliserten und den sowieso ausgegrenzten über die allenfalls am Rande der Nachrichtensendungen berichtet wird...

Vermächtnis

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

Dialektisches Denken ist der Versuch, den Zwangscharakter der Logik mit deren eigenen Mitteln zu durchbrechen. Aber indem es dieser Mittel sich bedienen muß, steht es in jedem Augenblick in Gefahr, dem Zwangscharakter selber zu verfallen: die List der Vernunft möchte noch gegen die Dialektik sich durchsetzen. Nicht anders läßt das Bestehende sich überschreiten als vermöge des Allgemeinen, das dem Bestehenden selbst entlehnt ist. Das Allgemeine triumphiert übers Bestehende durch dessen eigenen Begriff, und darum droht in solchem Triumph die Macht des bloß Seienden stets sich wiederherzustellen aus der gleichen Gewalt, die sie brach. Durch die Alleinherrschaft der Negation wird nach dem Schema des immanenten Gegensatzes die Bewegung des Gedankens wie der Geschichte eindeutig, ausschließlich, mit unerbittlicher Positivität geführt. Alles wird unter die in der gesamten Gesellschaft historisch je maßgebenden wirtschaftlichen Hauptphasen und ihre Entfaltung subsumiert: das ganze Denken hat etwas von dem, was Pariser Künstler le genre chef d'oeuvre nennen. Daß das Unheil gerade von der Stringenz solcher Entfaltung bewirkt wird; daß jene geradezu mit der Herrschaft zusammenhängt, ist in der kritischen Theorie zumindest nicht explizit, welche wie die traditionelle vom Stufengang auch das Heil erwartet. Stringenz und Totalität, die bürgerlichen Denkideale von Notwendigkeit und Allgemeinheit, umschreiben in der Tat die Formel der Geschichte, aber eben darum schlägt in den festgehaltenen herrschaftlich großen Begriffen die Verfassung der Gesellschaft sich nieder, gegen welche dialektische Kritik und Praxis sich richten. Wenn Benjamin davon sprach, die Geschichte sei bislang vom Standpunkt des Siegers geschrieben worden und müsse von dem der Besiegten aus geschrieben werden, so wäre dem hinzuzufügen, daß zwar Erkenntnis die unselige Geradlinigkeit der Folge von Sieg und Niederlage darzustellen hat, zugleich aller dem sich zuwenden muß, was in solche Dynamik nicht einging, am Wege liegen blieb - gewissermaßen den Abfallstoffen und blinden Stellen, die der Dialektik entronnen sind. Es ist das Wesen des Besiegten, in seiner Ohnmacht unwesentlich, abseitig, skurril zu scheinen. Was die herrschende Gesellschaft transzendiert, ist nicht nur die von dieser entwickelte Potentialität, sondern ebensowohl das, was nicht recht in die historischen Bewegungsgesetze hineinpaßte. Die Theorie sieht sich aufs Quere, Undurchsichtige, Unerfaßte verwiesen, das als solches zwar vorweg ein Anachronistisches an sich trägt, aber nicht aufgeht im Veralteten, weil es der historischen Dynamik ein Schnippchen schlug. An der Kunst läßt sich das am ehesten einsehen. Kinderbücher wie Alice in Wonderland oder der Struwwelpeter, vor denen die Frage nach Fortschritt und Reaktion lächerlich wäre, enthalten unvergleichlich beredtere Chiffren selbst der Geschichte als die mit der offiziellen Thematik von tragischer Schuld, Wende der Zeiten, Weltlauf und Individuum befaßte Großdramatik Hebbels, und in den schnöden und albernen Klavierstücken Saties blitzen Erfahrungen auf, von denen die Konsequenz der Schönbergschule, hinter der alles Pathos der musikalischen Entwicklung steht, nichts sich träumen läßt. Gerade die Großartigkeit der Folgerungen mag unversehens den Charakter des Provinziellen annehmen. Benjamins Schriften sind der Versuch, in immer erneutem Ansatz das von den großen Intentionen nicht bereits Determinierte philosophisch fruchtbar zu machen. Sein Vermächtnis besteht in der Aufgabe, solchen Versuch nicht den verfremdenden Rätselbildern des Gedankens einzig zu überlassen, sondern das Intentionslose durch den Begriff einzuholen: der Nötigung, dialektisch zugleich und undialektisch zu denken.

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

Zeitgemäß

Dann wieder

Was keiner geglaubt haben wird
was keiner gewusst haben konnte
was keiner geahnt haben durfte
das wird dann wieder
das gewesen sein
was keiner gewollt haben wollte.

(Erich Fried - 1921 bis 1988)

Hanloser: X - Die andere Querfront. Skizzen des antideutschen Betruges am 14. Januar

"Weder taugen die Antideutschen als Kritikerinnen deutscher Verhältnisse, noch ist von ihnen irgendein kluger Gedanke zu erhaschen oder eine Theorie über die hiesigen oder gar internationalen Entwicklungen; schon gar nicht über den Antisemitismus, den sie laufend beschwören. Sie sind mittlerweile Bestandteil eines politische Lager übergreifenden, Bürger- wie Staatenkriege bejahenden Blocks, der jeglicher Emanzipation, jeglichem Aufbruch, ja selbst der Verhinderung des Schlimmsten, das heißt einer autoritär-rechten Formierung von Gesellschaft und Staat, entgegensteht." -“ Aus dem Vorwort

Aus antideutschen Linken wurden Flüchtlingsfeinde, Souveränisten oder Verteidiger der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung. In einer historischen Skizze soll dieser beispiellose Zerfall kritischen Denkens nachgezeichnet und aufgeklärt werden.

Als 1989/90 die DDR unterging, geriet auch die bundesrepublikanische Linke ins Schlingern. Mit dem größer werdenden Deutschland verstärkten sich überwunden geglaubte reaktionäre Ideologien wie Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Im Glauben, diese Übel abzuwehren, trommelten einige Intellektuelle aus der Linken für den Golfkrieg 1991, formierten sich als leidenschaftliche Bellizisten anlässlich des "War on Terror", des Kriegs gegen den Irak 2003 und gegen Libyen durch die NATO 2011. Ein Teil der Antideutschen befleißigt sich einer -ºIslamkritik-¹, der auch rassistische Invektiven nicht fremd sind. Vor allem fand ein markanter Wechsel in der Bündnispolitik statt.

In Zeiten der AfD und des neuen Rechtsrucks sind ausgerechnet die vormaligen -ºAntideutschen-¹ Fürsprecher neuer Grenzziehungen und einer restriktiven Flüchtlingspolitik. Dass der prominenteste Antideutsche der 90er Jahre, Jürgen Elsässer, mittlerweile zu dem Kopf einer neuen rechten nationalistischen Bewegung wurde, erstaunt nur jene, denen die Antideutschen ein Buch mit sieben Siegeln sind.

Dienstag, 14. Januar 20:00 Uhr
Buchladen Schwarze Risse
Gneisenaustr.2 a / Mehringhof
Metro - station: Mehringdamm
Eintritt frei!

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