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Getrennt - Vereint



Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

Lizenz: CC BY-SA 3.0
Die Ehe, deren schmähliche Parodie fortlebt in einer Zeit, die dem Menschenrecht der Ehe den Boden entzogen hat, dient heute meist dem Trick der Selbsterhaltung: daß einer der beiden Verschworenen jeweils die Verantwortung für alles Üble, das er begeht, nach außen dem andern zuschiebt, während sie in Wahrheit trüb und sumpfig zusammen existieren. Eine anständige Ehe wäre erst eine, in der beide ihr eigenes unabhängiges Leben für sich haben, ohne die Fusion, die von der ökonomisch erzwungenen Interessengemeinschaft herrührt, dafür aber aus Freiheit die wechselseitige Verantwortung füreinander auf sich nähmen. Die Ehe als Interessengemeinschaft bedeutet unweigerlich die Erniedrigung der Interessenten, und es ist das Perfide der Welteinrichtung, daß keiner, wüßte er auch darum, solcher Erniedrigung sich entziehen kann. Manchmal könnte man daher auf den Gedanken verfallen, daß nur solchen, die der Verfolgung von Interessen enthoben sind, also Reichen, die Möglichkeit einer Ehe ohne Schande vorbehalten sei. Aber diese Möglichkeit ist ganz formal, denn jene Privilegierten sind es gerade, denen die Verfolgung des Interesses zur zweiten Natur wurde - sonst behaupteten sie nicht das Privileg.

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

Tisch und Bett



Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

Lizenz: CC BY-SA 3.0

Sobald Menschen, auch gutartige, freundliche und gebildete, sich scheiden lassen, pflegt eine Staubwolke aufzusteigen, die alles überzieht und verfärbt, womit sie in Berührung kommt. Es ist, als hätte die Sphäre der Intimität, das unwachsame Vertrauen des gemeinsamen Lebens sich in einen bösen Giftstoff verwandelt, wenn die Beziehungen zerbrochen sind, in denen sie beruhte. Das Intime zwischen Menschen ist Nachsicht, Duldung, Zuflucht für Eigenheiten. Wird es hervorgezerrt, so kommt von selber das Moment der Schwäche daran zum Vorschein, und bei der Scheidung ist eine solche Wendung nach außen unvermeidlich. Sie bemächtigt sich des Inventars der Vertrautheit. Dinge, die einmal Zeichen liebender Sorge, Bilder von Versöhnung gewesen sind, machen sich plötzlich als Werte selbständig und zeigen ihre böse, kalte und verderbliche Seite. Professoren brechen nach der Trennung in die Wohnung ihrer Frau ein, um Gegenstände aus dem Schreibtisch zu entwenden, und wohldotierte Damen denunzieren ihre Männer wegen Steuerhinterziehung. Gewährt die Ehe eine der letzten Möglichkeiten, humane Zellen im inhumanen Allgemeinen zu bilden, so rächt das Allgemeine sich in ihrem Zerfall, indem es des scheinbar Ausgenommenen sich bemächtigt, den entfremdeten Ordnungen von Recht und Eigentum es unterstellt und die verhöhnt, die davor sich sicher wähnten. Gerade das Behütete wird zum grausamen Requisit des Preisgegebenseins. Je "großzügiger" die Vermählten ursprünglich zueinander sich verhielten, je weniger sie an Besitz und Verpflichtung dachten, desto abscheulicher wird die Entwürdigung. Denn es ist eben der Bereich des rechtlich Undefinierten, in dem Streit, Diffamierung, der endlose Konflikt der Interessen gedeihen. All das Dunkle, auf dessen Grund die Institution der Ehe sich erhebt, die barbarische Verfügung des Mannes über Eigentum und Arbeit der Frau, die nicht minder barbarische Sexualunterdrückung, die den Mann tendenziell dazu nötigt, für die sein Leben lang die Verantwortung zu übernehmen, mit der zu schlafen ihm einmal Lust bereitete - all das kriecht aus den Kellern und Fundamenten ins Freie, wenn das Haus demoliert wird. Die einmal das gute Allgemeine in der beschränkenden Zugehörigkeit zueinander erfuhren, werden nun von der Gesellschaft gezwungen, sich für Schurken zu halten und zu lernen, daß sie dem Allgemeinen der unbeschränkten Gemeinheit draußen gleichen. Das Allgemeine erweist sich bei der Scheidung als das Schandmal des Besonderen, weil das Besondere, die Ehe, das wahre Allgemeine in dieser Gesellschaft nicht zu verwirklichen vermag.

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

"Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. "


Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

"Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug. Daß man aber die Forderung, und was sie an Fragen aufwirft, so wenig sich bewußt macht, zeigt, daß das Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen ist, Symptom dessen, daß die Möglichkeit der Wiederholung, was den Bewußtseins- und Unbewußtseinsstand der Menschen anlangt, fortbesteht. Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole. Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht. Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte. [...]"

Theodor W. Adorno - Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1. Auflage 1971, ISBN 3-518-36511-8, S. 88 oder auch hier als PDF

Melange



Theodor W. Adorno (vorne rechts) mit Max Horkheimer (links) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

Das geläufige Argument der Toleranz, alle Menschen, alle Rassen seien gleich, ist ein Bumerang. Es setzt sich der bequemen Widerlegung durch die Sinne aus, und noch die zwingendsten anthropologischen Beweise dafür, daß die Juden keine Rasse seien, werden im Falle des Pogroms kaum etwas daran ändern, daß die Totalitären ganz gut wissen, wen sie umbringen wollen und wen nicht. Wollte man demgegenüber die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, als Ideal fordern, anstatt sie als Tatsache zu unterstellen, so würde das wenig helfen. Die abstrakte Utopie wäre allzu leicht mit den abgefeimtesten Tendenzen der Gesellschaft vereinbar. Daß alle Menschen einander glichen, ist es gerade, was dieser so paßte. Sie betrachtet die tatsächlichen oder eingebildeten Differenzen als Schandmale, die bezeugen, daß man es noch nicht weit genug gebracht hat; daß irgend etwas von der Maschinerie freigelassen, nicht ganz durch die Totalität bestimmt ist. Die Technik der Konzentrationslager läuft darauf hinaus, die Gefangenen wie ihre Wächter zu machen, die Ermordeten zu Mördern. Der Rassenunterschied wird zum absoluten erhoben, damit man ihn absolut abschaffen kann, wäre es selbst, indem nichts Verschiedenes mehr überlebt. Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte statt dessen auf die schlechte Gleichheit heute, die Identität der Film- mit den Waffeninteressenten deuten, den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann. Attestiert man dem Neger, er sei genau wie der Weiße, während er es doch nicht ist, so tut man ihm insgeheim schon wieder Unrecht an. Man demütigt ihn freundschaftlich durch einen Maßstab, hinter dem er unter dem Druck der Systeme notwendig zurückbleiben muß, und dem zu genügen überdies ein fragwürdiges Verdienst wäre. Die Fürsprecher der unitarischen Toleranz sind denn auch stets geneigt, intolerant gegen jede Gruppe sich zu kehren, die sich nicht anpaßt: mit der sturen Begeisterung für die Neger verträgt sich die Entrüstung über jüdische Unmanieren. Der melting pot war eine Einrichtung des losgelassenen Industriekapitalismus. Der Gedanke, in ihn hineinzugeraten, beschwört den Martertod, nicht die Demokratie.Theodor W. Adorno, Minima Moralia -“ Reflexionen aus dem beschädigten Leben hier als PDF - 513 kB

Nicht gedacht soll ihrer werden



Theodor W. Adorno (vorne rechts) mit Max Horkheimer (links) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

Das Vorleben des Emigranten wird bekanntlich annulliert. Früher war es der Steckbrief, heute ist es die geistige Erfahrung, die für nicht transferierbar und schlechterdings artfremd erklärt wird. Was nicht verdinglicht ist, sich zählen und messen läßt, fällt aus. Nicht genug damit aber erstreckt sich die Verdinglichung selbst auf ihren eigenen Gegensatz, das nicht unmittelbar zu aktualisierende Leben; was immer bloß als Gedanke und Erinnerung fortlebt. Dafür haben sie eine eigene Rubrik erfunden. Sie heißt "Hintergrund" und erscheint als Appendix der Fragebogen, nach Geschlecht, Alter und Beruf. Das geschändete Leben wird auch noch auf dem Triumphauto der vereinigten Statistiker mitgeschleppt, und selbst das Vergangene ist nicht mehr sicher vor der Gegenwart, die es nochmals dem Vergessen weiht, indem sie es erinnert.

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Wer zu Hause bleibt...



Bertolt Brecht (1954) Foto: Bundesarchiv, Bild 183-W0409-300 / Kolbe, Jörg / CC-BY-SA 3.0


„Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt

Und lässt andere kämpfen für seine Sache

Der muss sich vorsehen: denn

Wer den Kampf nicht geteilt hat

Der wird teilen die Niederlage.

Nicht einmal den Kampf vermeidet

Wer den Kampf vermeiden will: denn

Es wird kämpfen für die Sache des Feinds

Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.“



Bertolt Brecht, aus dem Fragment Koloman-Wallisch-Kantate

Siehe auch: WikiPedia zu Koloman Wallisch

They, the People.

Horkheimer (links) mit Theodor W. Adorno (vorne rechts) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

"Der Umstand, daß Intellektuelle meist mit Intellektuellen zu tun haben, sollte sie nicht dazu verführen, ihresgleichen für noch gemeiner zu halten als den Rest der Menschheit. Denn sie erfahren sich gegenseitig durchweg in der beschämendsten und unwürdigsten Situation von allen, der von konkurrierenden Bittstellern, und kehren sich damit fast zwangshaft untereinander die abscheulichstenSeiten zu. Die andern Menschen, insbesondere die einfachen, deren Vorzüge hervorzuheben der Intellektuelle so geneigt ist, begegnen ihm meist in der Rolle dessen, der einem etwas verkaufen will, ohne daß er darum fürchtet, der Kunde könne ihm je ins Gehege kommen. Der Automechaniker, das Mädchen im Likörladen hat es leicht, von Unverschämtheit frei zu bleiben: zur Freundlichkeit wird es ohnehin von oben angehalten. Wenn umgekehrt Analphabeten zu Intellektuellen kommen, um sich von ihnen Briefe aufsetzen zu lassen, so mögen auch jene leidlich gute Erfahrungen machen. Sobald aber die einfachen Leute um ihren Anteil am Sozialprodukt sich raufen müssen, übertreffen sie an Neid und Gehässigkeit alles, was unter Literaten oder Kapellmeistern beobachtet werden kann. Die Glorifizierung der prächtigen underdogs läuft auf die des prächtigen Systems heraus, das sie dazu macht. Berechtigte Schuldgefühle derer, die von der physischen Arbeit ausgenommen sind, sollten nicht zur Ausrede werden für die "Idiotie des Landlebens". Die Intellektuellen, die als einzige über die Intellektuellen schreiben und ihnen ihren schlechten Namen in dem der Echtheit machen, verstärken die Lüge. Ein großer Teil des herrschenden Anti-Intellektualismus und Irrationalismus, bis hinauf zu Huxley, wird in Gang gesetzt, indem die Schreibenden den Konkurrenzmechanismus anklagen, ohne ihn zu durchschauen, und ihm so verfallen. In ihrer eigensten Branche haben sie das Bewußtsein des tat twam asi sich versperrt. Deshalb laufen sie dann in die indischen Tempel."

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Zeitgenossen, Haufenweise


Erich Kästner 1961
Foto: von Basch
Lizenz: [CC BY-SA 3.0 nl]

Die Zeitlosigkeit der Gedichte des heute leider meist als Kinderbuchautoren wahrgenommenen Erich Kästner ist unglaublich. Wir hatten darauf ja schon in "Das Führerproblem, genetisch betrachtet", Der Zweck und die Mittel und anderen Texten Kästners hingewiesen. Heute:

Zeitgenossen, Haufenweise

Es ist nicht leicht, sie ohne Haß zu schildern,
und ganz unmöglich geht es ohne Hohn.
Sie haben Köpfe wie auf Abziehbildern
und, wo das Herz sein müßte, Telephon.

Sie wissen ganz genau, daß Kreise rund sind
und Invalidenbeine nur aus Holz.
Sie sprechend fließend, und aus diesem Grund sind
sie Tag und Nacht - auch sonntags - auf sich stoöz.

In ihren Händen wird aus allem Ware.
In ihrer Seele brennt elektrisch Licht.
Sie messen auch das Unberechnenbare.
Was sich nicht zählen läßt, das gibt es nicht!

Sie haben am Gehirn ernorme Schwielen,
fast als benutzten sie es als Gesäß.
Sie werden rot, wenn sie mit Kindern spielen,
die Liebe treiben sie programmgemäß.

Sie singen nie (nicht einmal im August)
ein hübsches Weihnachtslied auf offner Straße.
Sie sind nie froh und haben immer Lust.
Und denken, wenn sie denken, durch die Nase.

Sie loben unermüdlich unsre Zeit,
ganz als erhoielten sie von ihr Tantiemen.
Ihr Intellekt liegt meißtens doppelt breit.
Sie können sich nur noch zum Scheine schämen.

Sie haben Witz und können ihn nicht halten.
Sie wissen viel, was sie nicht verstehen.
Man muß sie sehen, wenn sie Haare spalten!
Es ist, um an den Wänden hochzugehn.

Man sollte kleine Löcher in sie schießen!
Ihr letzter Schrei wär noch ein dernier cri.
Jedoch, sie haben viel zuviel Komplicen,
als daß sie sich von uns erschießen ließen.
Man trift sie nie.

Erich Kästner, In: Werke. Bd. 1: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte. Hg. v. Harald Hartung. Hanser, München und Wien 1998, S. 72f. aus: Audio CD, gesprochen von Werner Schneyder

Die sie meinen


Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

Die Menschen haben den Begriff der Freiheit so manipuliert, daß er schließlich auf das Recht des Stärkeren und Reicheren herausläuft, dem Schwächeren und Ärmeren das wenige abzunehmen, was er noch hat. Der Versuch, daran etwas zu ändern, gilt als schmählicher Eingriff ins Bereich eben der Individualität, die aus der Konsequenz jener Freiheit in ein verwaltetes Nichts zergangen ist. Aber der objektive Geist der Sprache weiß es besser. Das Deutsche und Englische behält das Wort frei Dingen und Leistungen vor, die nichts kosten. Unabhängig von der Kritik der politischen Ökonomie wird damit Zeugnis abgelegt von der Unfreiheit, die im Tauschverhältnis selber gesetzt ist; es gibt keine Freiheit, solange ein jedes Ding seinen Preis hat, und in der verdinglichten Gesellschaft existieren als kümmerliche Rudimente der Freiheit nur Dinge, die vom Preismechanismus ausgenommen sind. Sieht man dann genauer hin, so findet sich freilich meist, daß auch sie ihren Preis haben und Zugaben sind zu den Waren oder wenigstens zur Herrschaft: die Parks machen denen die Gefängnisse erträglich, die nicht drin sind. Für Menschen von freiem, ungezwungenem, souveränem und legerem Wesen jedoch, für jene, die die Freiheit als Privileg von der Unfreiheit beziehen, hat die Sprache einen guten Namen bereit: den des Unverschämten.



Theodor W. Adorno - Minima Moralia

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