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Was mir heute wichtig erscheint #413

Tragödie: Bei einem Brand in einem Kinderheim in Guatemala sind bislang 40 Tote und zehn schwer verletzte Mädchen und Jungen zu beklagen. Die Kinder waren eingesperrt, es gibt den Verdacht auf systematische Misshandlungen und Vergewaltigungen. Mehr dazu bei amerika21.de

Hungerstreik: In Edirne befinden sich seit dem 22. Februar 6 Gefangene im Hungerstreik für die Beendigung der verschärften Isolationshaft von Abdullah Öcalan und gegen die Haftbedingungen in dem Typ F Gefängnis statt. Der Zustand von drei der Hungerstreikenden ist inzwischen kritisch.

Vorausschauend: "The man in the White House ... He's got a conscience as black as sin! There's just one thing I wanna know -” How'd that asshole ever manage to get in?" Frank Zappa.

Tiefpunkt: Der österreichische Standard zu den Ausschreitungen in Rotterdam: "Ein Wunder, dass es keine Toten gab".

Hilflos: DeMaizière behauptet, um Abgeschobene würde sich in Afghanistan gekümmert. Monitor hat das vor Ort geprüft.

Kriegsfotografinnen: Der Kampf um Bilder, Leben und Tod, sehenswerte Dokumentation des SWR unter anderem über Gerda Taro, online verfügbar bis 15.03.2017.

Richtungsentscheidung: Am 17. und 18. März findet in Baden-Baden das Treffen der FinanzministerInnen statt, das zur Vorbereitung des G20-Gipfeltreffens am 7. bis 9. Juli in Hamburg dient. Zwanzig Regierungen und Vertreter der globalen Finanzinstitutionen treffen Richtungsentscheidungen, die das Schicksal der Menschen in allen Ländern der Erde betreffen. Warum es wichtig ist, gegen den G20 Gipfel zu protestieren und die wichtigsten Fragen beantwortet die Bündnisseite NoG20 Baden-Baden.

Jahrestage: In diesem Jahr - 2017 - gibt es im Baskenland eine Reihe trauriger 80er-Jubiläen: am 31.März vor 80 Jahren wurde die Stadt Durango bombardiert, am 26.April ist der Jahrestag der planmäßigen Vernichtung von Gernika durch deutsche Faschisten, am 19. Juni 1937 wurde die baskische Niederlage mit dem Fall von Bilbao besiegelt. "Sieg oder Niederlage?"

Verstoß: Ins seiner Stellungnahme an das Bundesverfassungsgericht zur Frage der Verfassungswidrigkeit von Sanktionen im SGB II legt der Verein Tacheles da, warum er die Sanktionen im SGB II für einen Verstoß gegen das Völkerrecht, UN-Sozialpakt, Behindertenkonvention und gegen deutsches Verfassungsrecht hält. Siehe dazu auch: Interview von Radio Corax mit dem Rechtsreferenten Roland Roseno zur Frage der Verfassungswidrigkeit von Sanktionen.

Zorn: Während die Einreiseverbote des US-Präsidenten Außenpolitiker und Gerichte auf den Plan rufen, stößt der geplante US-Wall zu Mexiko auf Interesse Hunderter Firmen. Bericht im Neuen Deutschland.

Rückblick: Auf den 6. Jahrestag der Fukushima-Katastrophe, die Proteste in ganz Japan und überall auf der Welt, auch in der BRD fasst die Zusammenstellung beim LabourNet zusammen.

Automatisierung: Bis 2055 könnte jeder zweite Job wegfallen, so eine Untersuchung der sog. "Unternehmensberatung" McKinsey. Mehr bei t3n.

Peng: Seit neuestem dürfen auch Muslime und Homosexuelle Mitglied in historischen Schützenvereinen werden. Allerdings wird das vor Ort entschieden: "Die 1.300 lokalen Mitgliedsbruderschaften dürften nun selbst entscheiden, ob und wie sie die neuen Möglichkeiten umsetzen."

Verbot: "(...) Anlässlich kurdischer Demonstrationen in Hannover und München kam zu Tage, dass das Bundesinnenministerium (BMI) den Forderungen der türkischen Regierung, stärker gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorzugehen, umgehend entsprochen hat. Mit einem Erlass vom 2. März wurde die Anzahl der Gruppierungen, deren Fahnen und Symbole auf der Grundlage des seit 1993 bestehenden PKK-Verbots nicht öffentlich gezeigt werden, erheblich ausgeweitet. Akribisch wurden sämtliche Institutionen und Organisationen gelistet, denen eine Nähe zur PKK unterstellt wird. Darunter fallen auch sämtliche Frauen- und Jugendorganisationen, wie etwa der Verband der Studierenden aus Kurdistan (YXK).

Von besonderer Brisanz ist, dass erstmalig auch kurdische Parteien und Verbände in Syrien -“ namentlich die Partei PYD (Partei der Demokratischen Einheit) und der Streitkräfteverband der YPG (Volksverteidigungseinheiten) -“ als „Auslandsableger“ der PKK unter das Vereinsverbot subsumiert werden. Diese werden nicht nur im Kampf gegen den sog. Islamischen Staat in Syrien von der Internationalen Koalition unterstützt, sondern erweisen sich derzeit im syrischen Bürgerkrieg mit den verbündeten arabischen und christlichen Bevölkerungsgruppen als Anker der Demokratie und Stabilität.(...)" Weiter in der Presseerklärung von AZADÃŽ e.V., Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland, und Civaka Azad

Falsches Bewußtsein

Ulrike Meinhof 1964
Quelle: Privates Foto, aus der Sammlung Bettina Röhls, der Tochter Ulrike Meinhofs
"Aus der Emanzipationsforderung ist der Gleichberechtigungsanspruch geworden. Emanzipation bedeutete Befreiung durch Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Aufhebung der hierarchischen Gesellschaftsstruktur zugunsten einer demokratischen: Aufhebung der Trennung von Kapital und Arbeit durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel, Beseitigung von Herrschaft und Knechtschaft als Strukturmerkmal der Gesellschaft.

Der Gleichberechtigungsanspruch stellt die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Ungleichheit zwischen den Menschen nicht mehr in Frage, im Gegenteil, er verlangt nur die konsequente Anwendung der Ungerechtigkeit, Gleichheit in der Ungleichheit: Die Gleichberechtigung der Arbeiterin mit dem Arbeiter, der Angestellten mit dem Angestellten, der Beamtin mit dem Beamten, der Redakteurin mit dem Redakteur, der Abgeordneten mit dem Abgeordneten, der Unternehmerin mit dem Unternehmer. Und tatsächlich beschäftigt dieser Gleichberechtigungsanspruch heute noch jeden gewerkschaftlichen Frauenkongreß und jede Unternehmerinnentagung, weil er sich erst juristisch, nicht aber praktisch durchgesetzt hat. Es scheint, als hätte eine ungerechte Welt noch Schwierigkeiten, wenigstens ihre Ungerechtigkeiten gerecht zu verteilen."

Ulrike Meinhof, 1968 in "Emanzipation und Ehe" hrsg. von Christa Rotzoll

Was mir heute wichtig erscheint #412

Faschistoid: "Ist Trump verrückt? Braucht er einen Arzt, wie Spiegel Online diagnostiziert? Nein, er folgt einem klaren Kurs, den er immer wieder offenbart und den man auch benennen kann: Trump handelt und spricht faschistoid." Eine Bewertung durch Patrick Gensing.

Protest: Mittwoch 22.02.2017, 17-19 Uhr ist auf dem Schlossplatz Stuttgart eine Kundgebung gegen die nächsten Abschiebungen nach Afghanistan angemeldet. Veranstalter sind der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, Jugendliche ohne Grenzen und der AK Asyl Stuttgart.

Selektiv: Solidarität muss praktisch werden. Aber spiegelt das die Realität wider? Ist der Solidaritätsbegriff wirklich unteilbar und strömungsübergreifend unwidersprochen gültig? Oder ist Solidarität vielmehr abhängig von Zustimmung zu bzw. Ablehnung von politischen Inhalten der Betroffenen? Die Rote Hilfe veranstaltet dazu eine Reihe von Podiumsdiskussionen, die unter anderem auch nach Stuttgart führt.

Auswertung: "In diesem Jahr war sie mit besonderer Spannung erwartet worden, die alljährliche Münchner Sicherheitskonferenz (MSC), schließlich stand diesmal der erste „Meinungsaustausch“ mit der neuen US-Regierung unter Donald Trump auf den Programm, die ja bislang -“ vorsichtig formuliert -“ die Ursache für einige transatlantische Irritationen war. Kein Wunder also, dass sich vom 17. bis 19. Februar 2017 auch diesmal wieder „25 Staats- und Regierungschefs“ und über „80 Außen- und Verteidigungsminister“ einfanden, wie die MSC-Webseite stolz verkündete. Und tatsächlich wird die Sicherheitskonferenz (SiKo) schon seit einigen Jahren in einer Rangliste der wichtigsten Denkfabrik-Konferenzen auf dem Spitzenplatz geführt. Die Bedeutung der Konferenz rührt nicht zuletzt daher, dass sie stets eine Doppelfunktion innehatte: Auf der einen Seite werden dort Meinungsverschiedenheiten unter den globalen, vor allem aber auch transatlantischen Entscheidungsträgern erörtert und ggf. Lösungen angebahnt; andererseits dient die Tagung nicht zuletzt aber auch als Bühne, um dem breiteren Publikum die „Ergebnisse“ der Aushandlungsprozesse zu präsentieren -“ und damit natürlich um Zustimmung dafür zu werben." Weiterlesen in der IMI-Analyse 2017/03 der Münchner Sicherheitskonferenz von Jürgen Wagner.

Wunderheilung: Der jüngste Feinstaubalarm in Stuttgart - der hinsichtlich Feinstaub dreckigsten Stadt in Deutschland- endet Montagnacht. Jetzt soll eine Maßnahme zum Einsatz kommen, die den Partikeln den Kampf ansagt und so hoffentlich die Luft verbessert. Moos. Echt jetzt. Nachdem für S21 die ganzen Bäume abgeholzt wurden.

Unbezahlt: Interview bei LabourNet TV mit einem DHL Fahrer, der über seine entrechtete Situation am Arbeitsplatz spricht. "Er ist über das Subunternehmen HFL (Hamburger Fahrzeug- und Transportlogistik GmbH) angestellt. (HFL betreibt auch die Firma MTS Spedition und Logistik mit Zweigstellen in Hamburg und Berlin.) Obwohl der Fahrer seit dem 8. November 2016 für HLF gefahren war, hatte sein Arbeitgeber keine Eile, ihm einen Vertrag zu geben und legalisierte das Arbeitsverhältnis erst im Dezember."

Verschleppung: ""Wir hoffen auf Januar", erklärte Staatsanwalt Olaf Braun im Dezember der Mitteldeutschen Zeitung. Dann wolle seine Behörde die Ergebnisse des Brandversuchs zum Feuertod Oury Jallohs im Polizeirevier Dessau bekanntgeben. "Die Messwerte, die genauen Zahlen liegen vor", so Braun vor zwei Monaten. Nun müssten die Experten Rückschlüsse ziehen. Dabei hatte die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau zugesichert, spätestens Mitte Oktober 2016 Resultate zu verkünden. Bis heute, ein halbes Jahr nach der Vorführung des Versuchs vor Journalisten im sächsischen Schmiedeberg am 18. August 2016, ist jedoch nichts passiert. (...)" Mehr dazu in der Tageszeitung junge Welt

Willkommen: Am Samstag haben in Barcelona nach Polizeiangaben 160.000 Menschen für die Aufnahme von Flüchtlingen demonstriert. Die Organisatoren sprachen sogar von einer halben Million.

Respektlos: Théo Luhaka wurde nahe Paris von Polizisten schwer misshandelt. Gegen die Beamten wird ermittelt. Auf den Spuren von Rassismus und Polizeigewalt. Beitrag der taz über Polizeigewalt in den Pariser Vororten.

Albert Camus über Sisyphos im Glück

Albert Camus, 1957
Fotografie: United Press International
Lizenz: Public Domain via Wikimedia
"Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Ebenso läßt der absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt, alle Götzenbilder schweigen. Im Universum, das plötzlich wieder seinem Schweigen anheimgegeben ist, werden die tausend kleinen, höchst verwunderten Stimmen der Erde laut. Unbewußte, heimliche Rufe, Aufforderungen aller Gesichter bilden die unerläßliche Kehrseite und den Preis des Sieges. Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muß auch die Nacht kennenlernen. Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr. Wenn es ein persönliches, Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit. Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Leben zuwendet (ein Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird. Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs -“ ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder.

Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."

Albert Camus - Der Mythos des Sisyphos

... die Grundtorheit unserer Epoche

Thomas Mann, 1937
Foto von Carl van Vechten
„Ich glaube, ich bin vor dem Verdacht geschützt, ein Vorkämpfer des Kommunismus zu sein. Trotzdem kann ich nicht umhin, in dem Schrecken der bürgerlichen Welt vor dem Wort Kommunismus, diesem Schrecken, von dem der Faschismus so lange gelebt hat, etwas Abergläubisches und Kindisches zu sehen, die Grundtorheit unserer Epoche.

Der Kommunismus ist als Vision viel älter als der Marxismus und enthält auch wieder Elemente, die erst einer Zukunftswelt angehören. Älter ist er, weil schon die religiösen Volksbewegungen des Mittelalters einen eschatologisch-kommunistischen Charakter hatten: schon damals sollten Erde, Wasser, Luft, das Wild, die Fische und Vögel allen gemeinsam gehören, auch die Herren sollten um das tägliche Brot arbeiten, und alle Lasten und Steuern sollten aufgehoben sein. So ist der Kommunismus älter als Marx und das 19. Jahrhundert. Der Zukunft aber gehört er an insofern, als die Welt, die nach uns kommt, in der unsere Kinder und Enkel leben werden, und die langsam ihre Umrisse zu enthüllen beginnt, schwerlich ohne kommunistische Züge vorzustellen ist: d. h., ohne die Grundidee des gemeinsamen Besitz- und Genußrechts an den Gütern der Erde, ohne fortschreitende Einebnung der Klassenunterschiede, ohne das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit für alle.“

Thomas Mann, Gesammelte Werke, Frankfurt/M 1960, Bd. 12, S. 934

Adorno zur Frage der Unwahrheit der Wahrheit

Pseudomenos

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

"Die magnetische Gewalt, welche die Ideologien über die Menschen ausüben, während sie ihnen bereits ganz fadenscheinig geworden sind, erklärt sich jenseits der Psychologie aus dem objektiv bestimmten Verfall der logischen Evidenz als solcher. Es ist dahin gekommen, daß Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge. Jede Aussage, jede Nachricht, jeder Gedanke ist präformiert durch die Zentren der Kulturindustrie. Was nicht die vertraute Spur solcher Präformation trägt, ist vorweg unglaubwürdig, um so mehr, als die Institutionen der öffentlichen Meinung dem, was sie aus sich entlassen, tausend faktische Belege und alle Beweiskraft mitgeben, deren die totale Verfügung habhaft werden kann. Die Wahrheit, die dagegen anmöchte, trägt nicht bloß den Charakter des Unwahrscheinlichen, sondern ist überdies zu arm, um in Konkurrenz mit dem hochkonzentrierten Verbreitungsapparat durchzudringen. Über den gesamten Mechanismus belehrt das deutsche Extrem. Als die Nationalsozialisten zu foltern begannen, terrorisierten sie damit nicht nur die Völker drinnen und draußen, sondern waren zugleich vor der Enthüllung um so sicherer, je wilder das Grauen anstieg. Dessen Unglaubwürdigkeit machte es leicht, nicht zu glauben, was man um des lieben Friedens willen nicht glauben wollte, während man zugleich davor kapitulierte. Die Zitternden reden sich darauf hinaus, es werde doch viel übertrieben: bis in den Krieg hinein waren in der englischen Presse Einzelheiten über die Konzentrationslager unerwünscht. Jedes Greuel in der aufgeklärten Welt wird notwendig zum Greuelmärchen. Denn die Unwahrheit der Wahrheit hat einen Kern, auf den das Unbewußte begierig anspricht. Nicht nur wünscht es die Greuel herbei. Sondern der Faschismus ist in der Tat weniger "ideologisch", insoweit er das Prinzip der Herrschaft unmittelbar proklamiert, das anderswo sich versteckt. Was immer die Demokratien an Humanem ihm entgegenzustellen haben, kann er spielend widerlegen mit dem Hinweis darauf, daß es ja doch nicht die ganze Humanität, sondern bloß ihr Trugbild sei, dessen er mannhaft sich entäußerte. So desperat aber sind die Menschen in der Kultur geworden, daß sie auf Abruf das hinfällige Bessere fortwerfen, wenn nur die Welt ihrer Bosheit den Gefallen tut zu bekennen, wie böse sie ist. Die politischen Gegenkräfte jedoch sind gezwungen, selbst immer wieder der Lüge sich zu bedienen, wenn nicht gerade sie als destruktiv völlig ausgelöscht werden wollen. Je tiefer ihre Differenz vom Bestehenden, das ihnen doch Zuflucht gewährt vor der ärgeren Zukunft, um so leichter fällt es den Faschisten, sie auf Unwahrheiten festzunageln. Nur die absolute Lüge hat noch die Freiheit, irgend die Wahrheit zu sagen. In der Vertauschung von Wahrheit und Lüge, die es fast ausschließt, die Differenz zu bewahren, und die das Festhalten der einfachsten Erkenntnis zur Sisyphusarbeit macht, kündet der Sieg des Prinzips in der logischen Organisation sich an, das militärisch am Boden liegt. Lügen haben lange Beine: sie sind der Zeit voraus. Die Umsetzung aller Fragen der Wahrheit in solche der Macht, der Wahrheit selber nicht sich entziehen kann, wenn sie nicht von der Macht vernichtet werden will, unterdrückt sie nicht bloß, wie in früheren Despotien, sondern hat bis ins Innerste die Disjunktion von Wahr und Falsch ergriffen, an deren Abschaffung die Söldlinge der Logik ohnehin emsig mitwirken. So überlebt Hitler, von dem keiner sagen kann, ob er starb oder entkam."

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

Filmtipp: Hannah Arendt und die Pflicht zum Ungehorsam

Heute Abend: "Hannah Arendt ist eine der einflussreichsten politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Doch was sagt ihr Werk jungen Leuten von heute, einer Generation, die sich jenseits nationaler oder kontinentaler Beschränkungen bewegt, und die Partei ergreift für ein "Denken ohne Geländer" (Hannah Arendt) der Systeme, Ideologien und Wunschvorstellungen? (...)"

Auf arte, Mittwoch, 1. Februar um 22.00 Uhr, online vom 1. Februar bis zum 2. Mai 2017.

Adorno zur Sublimation der Wut

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

“Was einmal gedacht ward, kann unterdrückt, vergessen werden, verwehen. Aber es läßt sich nicht ausreden, daß etwas davon überlebt. Denn Denken hat das Moment des Allgemeinen. Was triftig gedacht wurde, muß woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken. Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun muß, will er es auch den anderen nicht antun. Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen. Glück ist er, noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein. Wer es sich nicht verkümmern läßt, der hat nicht resigniert.-

Theodor W. Adorno - 1969 in seinem Rundfunkvortrag Resignation (Gesammelte Schriften 10/2 756 ff. oder Resignation, in: Adorno: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, S. 150)

Adorno zur Frage des guten Glaubens

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

“Ich halte in einem gewissen Sinn diesen Begriff der ursprünglichen Erfahrung fest; ich glaube, daß angesichts des ungeheuren Übergewichts der verdinglichten Welt das Mittel, durch das wir uns dem Schein entziehen, den diese verhärtete, präfabrizierte Welt uns antut, tatsächlich darin besteht, daß wir zu solchen Erfahrungen überhaupt fähig sind, ich möchte fast sagen, daß wir uns einen Moment der Naivität erhalten. So ist denn überhaupt paradoxerweise die Philosophie, die zunächst doch die Forderung der Unnaivität gegenüber der Erscheinung ist, auf der anderen Seite auch die Forderung der Naivität in dem Sinn, daß man sich nicht dumm machen läßt, daß man nicht der Welt einfach das abkauft, was sie sagt, sondern daß man, ich möchte beinahe sagen, wie ein Kind auf dem beharrt, bei dem stehenbleibt, was man nun einmal gesehen hat.-

Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie, Band 1

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