Skip to content

Das einsame Sterben des Herrn P.

Ein Krankenzimmer, in irgendeinem Krankenhaus
Foto: Tomasz Sienick
Lizenz: [Public domain], via Wikimedia Commons
Kürzlich war ich im Krankenhaus. Wegen einer Untersuchung sollte ich über Nacht bleiben. AOK Patient, der ich nun mal bin, fand ich mich mit zwei Leidensgenossen in einem Dreibettzimmer wieder: Mit Herrn H. und Herrn P.

Herr P. liegt in dem Bett neben meinem, Herr H. gegenüber von Herrn P. Meinem Bett entgegengesetzt ist die Toilette. Behindertengerecht.

Während Herr H. seinen Umständen entsprechend einigermaßen fidel ist, geht es Herrn P. offenkundig nicht gut. Er liegt mit halb geöffneten Augen teilnahmslos in seinem Bett und röchelt mit zahnlosem, offenen Mund gleichmäßig in dem muffig riechenden Zimmer vor sich hin. Auf meinen freundlichen Gruß und die Frage, ob es ihm etwas ausmacht, wenn ich mal etwas lüfte (ich bin Frischluftfanatiker) reagiert er nicht.

Von unserem Fenster aus kann man in einen Teil des Parks des Krankenhauses sehen. Den Park nimmt Herr P. nicht mehr wahr.

Ebenso wenig wie eine kurze Begutachtung eines Krankenhausbeschäftigten, der sich nicht näher vorstellt und den ich wegen seines Umgangs mit Herrn P. zuerst für einen überforderten Pfleger halte. "Oje" und "Hm..." und die Ansprache: "Herr P. hören Sie mich? Können Sie mich verstehen?" ist alles, was er sagt.

Herr P. reagiert darauf nicht. Er röchelt weiter.

Ein paar Stunden später am Nachmittag kommt dann eine Pflegekraft, die feststellt, dass Herr P. immer noch Tablettenreste vom der morgendlichen Medikation im Mund hat. Den Versuch, ihn etwas zur Seite zu bewegen, quittiert P. mit lautem Stöhnen, woraufhin die Pflegerin von ihm ablässt und sich Verstärkung holt. Mit vereinten Kräften klappt es dann wohl. Herr H. und ich werden vorher aus dem Zimmer komplimentiert. Danach liegt P. ein wenig anders

H., der eigentlich auch eher ins Bett gehört, meinte auf dem Gang zu mir, daß er seit zwei Wochen auf der Station ist und in diesen zwei Wochen P. eigentlich nicht anders erlebt hätte als am Tropf hängend und recht reaktionslos auf das Füttern und die Pflege reagierend.

Immerhin: Nachmittags kommen Angehörige von Herrn P. zu Besuch, offenbar Ehefrau und Tochter. Obwohl P. auch auf sie nicht reagiert, sprechen sie ihm über eine Stunde zu. Dann kommt eine Assistenzärztin hinzu und bittet mich und meine Frau aus dem Zimmer. Herr H., der inzwischen ebenfalls von seiner Frau Besuch bekommen hat, kann wegen seiner Bettlägrigkeit im Zimmer bleiben. Nach einer halben Stunde kann ich mit meiner Frau wieder ins Zimmer.

Nach einer Weile verabschieden sich dann Frau P. und Tochter von Herrn P., wünschen Herrn H. und mir gute Besserung und verlassen den Raum. Inzwischen ist die Zeit für das Abendessen und die Vorbereitung meiner Untersuchung am nächsten Tag gekommen, woraufhin sich meine Frau ebenfalls verabschiedet.

Allein mit Herrn H. und Herrn P. der immer noch vor sich hin röchelt, dafür jetzt aber in Richtung meines Bettes, überlege ich, was ich machen soll, wenn es ihm noch schlechter geht. Mit dem beruhigendem Gefühl, dass über den Notfallknopf sicher sogleich kompetente Hilfe herbeieilen wird, verdränge ich die zunehmenden Zweifel, daß mit Herrn P. etwas falsch läuft. Zudem ist dem Personal, so jedenfalls mein Eindruck, der Zustand von P. klar. Sage ich mir.

Ich habe ja auch zu tun: Obwohl ich bei der Aufnahme meine vegetarische Ernährungsweise angegeben hatte, wird mir zum Abendessen ordentlich Bierschinken und Teewurst serviert. Nach Protest und einiger Zeit bekomme ich dann immerhin etwas vegane Margarine, Marmelade und Honig serviert. (Bislang scheitere ich immer noch am Käse, kämpfe jedoch einigermaßen, vermeide aber Sachen wie Honig etc.). Die auf meine Beschwerde hin hinzugezogene, für die Ernährung der PatientInnen zuständige Stationsschwester zeigt sich denn auch bass erstaunt über meine Wünsche: Das wäre nicht zu ihr durchgedrungen, obwohl ich ihr glaubhaft darlegen kann, dass diese persönliche Eigenheit bei meiner Aufnahme schriftlich und rot umkringelt in den Aufnahmedokumenten festgehalten und auch der Aufnahmestation bestätigt wurde.

Über diese Umstände gerät mir Herr P. dann auch etwas aus den Gedanken, ich nutze die Zeit zum Twittern, Beantworten von Emails und Lesen, hänge in meinen Gedanken über mögliche Ergebnisse bei meiner Untersuchung nach. Sachen, die man halt so als Kassenpatient macht, der kein unnötiges Geld ausgeben will für ein kostenpflichtiges Terminal mit Fernsehen. Zudem habe ich inzwischen selber zu kämpfen mit meinem eigenen Zustand, der sich wegen der Einnahme der Untersuchungsmedikamente auch unangenehm für mich und meine Mitpatienten verändert hat.

Gegen 23 Uhr lege ich dann mein Lesegerät beiseite, versiegele gewohnheitsmäßig meine den Schlafgeräuschen mir persönlich unbekannter Mitschläfer gegenüber empfindlichen Ohren mit Ohrstöpseln und falle in einen unruhigen Schlaf. Herr P. röchelt weiter und Herr H. schaut in seinem Terminal Fernsehen.

Um 5 Uhr weckt mich die zuständige Pflegekraft mit einer weiteren Dosis meiner Medikamente. Nachdem ich beruhigt Herrn P.'s gleichmäßiges, flaches Röcheln vernehme, schlafe ich dann bis 7 Uhr weiter, als bei mir die erwartete, deutliche Reaktion auf die Medikamente erfolgt. Da die Untersuchung bei mir auf nüchternen Magen stattfindet, fällt das Frühstück für mich flach. Da ich nur ungern ungewaschen zu Untersuchungen gehe, benutzte ich die Gemeinschaftsdusche für KassenpatientInnen draußen auf dem Gang.

Inzwischen ist die Frühstückszeit vorbei, während meiner Dusche fand wohl auch die Visite statt, was mich kaum tangiert, da ich einen Teil meiner Untersuchungen bereits am Vortag absolviert habe und über die Ergebnisse informiert wurde. Nachgefragt hat offenbar auch niemand. So bekomme ich nur noch mit, dass bei meinen Kollegen der Blutdruck und das Blut abgenommen wird.

Herr H. freut sich wie Bolle, dass er bei entsprechendem Befund entlassen werden könnte.

Verständlich bei jemandem, der dieses Jahr bereits mehrfach und zum Teil wochenlang im Krankenhaus verbracht hat. Herr P. seinerseits atmet für meine Begriffe inzwischen noch flacher. Die Pflegerin findet keinen geeigneten Zugang bei P., zudem ist er noch verkrampfter wie am vorigen Tag. Deshalb stellt sie den Tropf ab und entnimmt eine halbe Stunde später aus dem gelegten Zugang das Blut. Danach wird der Tropf wieder in Gang gesetzt.

Während mir das Warten auf meine Untersuchung immer länger vorkommt, denke ich mir in meinem Bett neben dem von Herrn P. liegend, dass er jetzt leichter atmet. Jedenfalls hat das Geröchel aufgehört. Inzwischen hat Herr H. von seiner Therapeutin Besuch und in dem Zusammenhang ist einiges los in unserem Dreibettzimmer.

Gegen 9 Uhr kommt dann wieder der scheinbar überforderte Pfleger und sieht mit der Pflegerin, die bei Herrn P. inzwischen das Blut abgenommen hat, nach dem Patienten. Nach einigen Umrundungen des Bettes von P. meint er zu mir und Herrn H. und dessen Therapeutin, dass wir umgehend das Zimmer verlassen sollen. Herr P. indessen ist inzwischen still.

Der eigentlich bettlägerige Herr H. wird per Rollator auf einen Stuhl im Wartebereich der Station verfrachtet, was ihm im Gegensatz zu mir schon schwer fällt. Seine Therapeutin regt sich über den Umgang mit Herrn P. auf, muss aber schon wieder zum nächsten Patienten und fragt so nur noch, ob H. noch etwas braucht, was er verneint. Die in einigermaßen Aufregung versetzten Pflegekräfte bedeuteten uns, dass wir erst in ungefähr zwei Stunden wieder in das Zimmer könnten. Bis heute erschließt sich mir der Sinn dieser Ansage nicht.

So sitzen wir dann uns überlassen im Wartebereich herum. H. und ich hatten seitdem ich auf die Station kam, kaum einen Satz gewechselt. Der Austausch von Krankengeschichten liegt mir nicht so sehr.

Nach einer Weile spreche ich Herr H. an, ob ich ihm nicht lieber sein Bett organisieren soll, da er wegen seiner Erkrankung kaum sitzen kann. Er stimmt zu und so mache ich mich auf den Weg. Nach kurzer Suche werde ich fündig und so kann Herr H. wieder liegen. Im Wartebereich. Er beginnt zu erzählen, dass Herr P. offenbar gestorben sein muss, zumindest hat er so beim Verlassen unseres Zimmers ein Gespräch der Pflegerin mit dem vermeintlichen Pfleger, der wie Herr H. mich jetzt aufklärte, tatsächlich der Stationsarzt ist, verstanden. Laut H. sind die Angehörigen gestern, als ich aus dem Zimmer geschickt wurde, gefragt worden, ob Herr P. mit einer Sonde ernährt werden soll, weil es anders nicht ginge. P.'s Frau hatte das abgelehnt.

Nach einer Stunde kommen die Assistenzärtzinnen, um "die Situation mit uns zu besprechen". Leider sei das Krankenhaus hoffnungslos überbelegt. Kein Wort dazu, dass P. gestorben ist. Geschweige denn die Frage, ob und was es einem etwas ausmacht, wenn jemand einen Meter nebenan stirbt. Abgesehen davon, was es P. selber ausgemacht haben muss. Wenn er denn noch etwas mitbekommen hat. Obwohl eigentlich offensichtlich ist, dass zumindest Herr H. nach dem miterlebten Gespräch des Personals mit P.'s Angehörigen klar sein muss, dass es mit P. zu Ende geht. Und damit wohl auch mir.

Weitere zwei Stunden später kommt dann die für Herr H. frohe Botschaft, daß er entlassen wird. Obwohl ich persönlich in seinem Zustand nicht nach Hause wollte, freue ich mich für ihn und seine inzwischen eingetroffene Frau. Kurz vor Mittag wird mir dann auch mitgeteilt, dass mein Warten nun auch zu Ende ist, meine Untersuchung unmittelbar bevorsteht und ich mich dazu in mein Bett zwecks Fahrt in die Untersuchungsabteilung begeben soll. Das fehlende Bett wirde dann noch aus unserem Zimmer besorgt, wohin mir und Herr H. der Zutritt jedoch immer noch verweigert wird. Offenbar ist Herr P. noch immer im Zimmer.

Endlich auf der Untersuchungsstation angelangt, meint eine Krankenschwester, die lange Wartezeit entschuldigend, zu mir: "Tut mir sehr leid für das lange Warten, wir sind leider völlig überbelegt, alle wollen in unser Krankenhaus..." Ich eher nicht mehr. Das liegt aber nicht an diesem Krankenhaus oder den Menschen, die dort arbeiten. Nein.

This is, what Capitalism looks like...

Was mir heute wichtig erscheint #414

Leugnung: "Die Bundesregierung schickte 2014 Waffen an den kurdischen Clanchef Mesud Barzani -“ angeblich zum Schutz der vom Islamischen Staat bedrohten Jesid*innen im Åžengal-Gebirge. Doch am 3. März setzte der Bündnispartner Berlins selbst deutsche Bundeswehr-Dingos gegen JesidInnen ein. Das Außenamt leugnet den Vorfall." Das Lower Class Magazine hat umfassend vor Ort recherchiert. Siehe auch: junge Welt und Neues Deutschland sowie telepolis.

Bedroht: Am Montag wurde der Prozess um einen gefesselten irakischen Flüchtling im sächsischen Arnsdorf eingestellt. Recherchen des MDR deckten nun auf, dass der zuständige Staatsanwalt zuvor massiv bedroht worden war. Nicht so bekannt wie die Verfahrenseinstellung ist, daß der damals bedroht Flüchtling tot in einem Wald gefunden worden ist.

Unfassbar: In Cottbus wurde eine Studentin aus Ägypten von einem Auto überfahren. Die schwer verletzte und später verstorbene junge Frau wurde danach mit rassistischen Sprüchen beleidigt.

Dilemma: "(...)Die französischen Gewerkschaften -“ jene, die im letzten Jahr, mit all ihren inneren Widersprüchen und Auseinandersetzungen, den Kampf gegen das neue Arbeitsgesetz geführt haben -“ haben sich jetzt auf die Position gestellt „Keine Stimme für Le Pen“ zu fordern. Angesichts der (erfolgreichen) Mobilisierung Le Pens für offenen und aggressiven Rassismus und Nationalismus in allen sozialen Klassen ist eine alternative Position, die auch hier die Wahl zwischen Pest und Cholera sieht, gelinde gesagt, schwer zu vermitteln. (...)" Französische Gewerkschaften vor dem zweiten Wahlgang: Gegen Le Pen via LabourNet.

Gegenüberstellung: "Reiche dominieren die Politik in Deutschland, der Rest hat das Nachsehen. Auf diese brisante Aussage lässt sich eine für den fünften Armuts- und Reichtumsbericht erstellte Studie zu ungleichem Einfluss zusammenfassen. In welcher Form die Erkenntnisse dieser Studie im Bericht auftauchen, darüber hat es in den vergangenen Wochen viel Streit gegeben. Nun, da der Bericht veröffentlicht ist, dokumentieren wir erstmals detailliert, wie sich der Bericht im Laufe der politischen Diskussionen geändert hat. (...)" mehr dazu bei Lobbycontrol.

Jahrestag: Zum gestrigen 80. Jahrestag der Bombardierung der baskischen Stadt Gernika / Guernica durch die faschistische Legion Condor hatte wir vor einigen Tagen die Erklärung der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) dokumentiert. Siehe dazu auch Gernika und die Folgen des Krieges bei baskinfo sowie den Beitrag Testlauf für den Weltkrieg und den Buchtipp Luftwaffe, Judenvernichtung, totaler Krieg bei german-foreign-policy, die sich auch mit der unseeligen "Traditionspflege" der Bundeswehr beschäftigen.

Sponsoring: Jeanette Erazo Heufelder hat Felix Weil porträtiert. Der ermöglichte mit seinem Geld das Frankfurter Institut für Sozialforschung. Adorno und Horkheimer und so.

Geschubse: "Polizisten sollen per Gesetz besser geschützt werden. Doch nicht nur die Zahlen, auf denen der Vorstoß beruht, sind mit Vorsicht zu genießen. (...)" Mehr zum Gesetzentwurf, der heute zur zur Verabschiedung steht, bei der taz.

Bestimmung: In Österreich Tirol will sich die Polizei zukünftig herausnehmen, wer mit wieviel Personen wo und wie demonstrieren darf: "Die Polizei würde gerne künftig festlegen, wo bestimmte Kundgebungen stattfinden dürfen. Alle TeilnehmerInnen sollen vorab durchsucht werden können, womit ein Sperrkreis rund um die Kundgebung notwendig wäre. Rund um Kundgebungen soll eine Sperrzone errichtet werden können, aus der die Polizei Personen wegweisen kann. Die Versammlungsfreiheit würde somit in weiten Teilen schlichtweg außer Kraft gesetzt."

Arisch: "„Biodeutsche- mit nicht weniger als zwei deutschen Eltern und vier deutschen Großeltern sollen dafür sorgen, dass auch in 30 Jahren eine deutsche Leitkultur fortbesteht. Das verlangt der vorpommersche AfD-Landtagsabgeordnete Ralph Weber." Mehr dazu beim Nordkurier

Hausgemacht: Ein Bundeswehrsoldat und ein Student aus Offenbach sind unter Terrorverdacht festgenommen worden. Sie sollen einen False-Flag-Anschlag mit vermutlich fremdenfeindlichem Hintergrund geplant haben.

Unvollendet: "Kurz vor dem 30. Jahrestag der Ermordung Thomas Sankaras am 15. Oktober 2017 sind erstmals 17 seiner außerordentlich wortgewandt, teils humoristisch vorgetragenen Reden und sein letztes bekanntes Interview in deutscher Sprache erschienen. Sankara ist der Kopf einer panafrikanischen und sozialistischen Bewegung, die am 4. August 1983 mit einem Militärputsch die Regierung in der ehemaligen französischen Kolonie Obervolta übernimmt. (...)" Eine Rezension bei kritisch-lesen.de

Mitschuldig:"(...) Wir fordern Sie daher auf, sich an frühere Aussagen zu halten und erwarten, dass bestehende Vereinbarungen mit der AfD aufgekündigt werden und Sie in Zukunft von Ihrem Hausrecht gebrauch machen und den Rassisten den Zugang verweigern. Schließlich hat die Hetze gegen Geflüchtete und andere gesellschaftliche Minderheiten mit Meinungsfreiheit nichts zu tun und eine Legitimität für diese Form von Menschenverachtung gab und gibt es nicht. (...)"
Mehr dazu im
Update: "Die Brauereigaststätte Dinkelacker hat auf unseren offenen Brief geantwortet. Dem Betreiber liegt keine AfD-Reservierung vor, er selbst hält nichts von den Rechtspopulisten. Augenscheinlich scheint die AfD sich inkognito zum Stammtisch treffen zu wollen -“ die Idee ist hiermit aufgeflogen (die Stammtischeinladung ist übrigens öffentlich, siehe Foto). Um Ähnliches in Zukunft zu vermeinden wäre eine öffentliche, antirassistische Positionierung der Brauereigaststätte unabdingbar. (...)"
Quelle: Offener Brief des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Stuttgart an die Betreiber der Dinkelacker Brauerei Gaststätte in Stuttgart.

Theodor W. Adorno: Bekämpfung des Antisemitismus heute

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

"... wenn etwa von Antisemiten gesagt wird, die Juden entzögen sich der harten körperlichen Arbeit, so wäre es nicht der Weisheit letzter Schluß, zu erwidern, es habe doch im Osten so viele jüdische Schuster und Schneider gegeben, und es gebe heute in New York so viele jüdische Taxichauffeure.
Indem man so spricht, gibt man den Antiintellektualismus bereits vor und begibt sich auf die Ebene des Gegners, auf der man stets im Nachteil ist.
Man müsste stattdessen aussprechen, daß diese ganze Argumentation eine Rancune-Argumentation [Gehässigkeit, heimliche Feindschaft, Groll. Ressentiment... ] ist: weil man selber glaubt, hart arbeiten zu müssen oder es wirklich muß; und weil man im tiefsten weiß, daß harte physische Arbeit heute eigentlich bereits überflüssig ist, denunziert man dann die, von denen zu Recht oder Unrecht behauptet wird, sie hätten es leichter.
Eine wahre Entgegnung wäre, daß Handarbeit alten Stils heute überhaupt überflüssig, daß sie durch die Technik überholt ist und daß es etwas tief Verlogenes hat einer bestimmten Gruppe Vorwürfe zu machen, daß sie nicht hart genug physisch arbeitet.
Es ist Menschenrecht, sich nicht physisch abzuquälen, sondern sich lieber geistig zu entfalten."

Theodor W. Adorno: Bekämpfung des Antisemitismus heute, in Das Argument 29, Jg.6 1964

Fritz Bauer: Heilige Irrtümer

Fritz Bauer als Heidelberger Student 1921
Quelle: WikiMedia
"Wir Emigranten hatten so unsere heiligen Irrtümer. Daß Deutschland in Trümmern liegt, hat auch sein Gutes, dachten wir. Da kommt der Schutt weg, dann bauen wir Städte der Zukunft. Hell, weit und menschenfreundlich. [...] Dann kamen die anderen, die sagten: „Aber die Kanalisationsanlagen unter den Trümmern sind doch noch heil!“ Na, und so wurden die deutschen Städte wieder aufgebaut, wie die Kanalisation es verlangte. [...] Was glauben Sie, kann aus diesem Land werden? Meinen Sie, es ist noch zu retten? [...] Nehmen Sie die ersten Bonner Jahre! Keine Wehrmacht! Keine Politik der Stärke! Nun betrachten Sie mal die jetzige Politik und die Notstandsgesetze dazu! Legen Sie meinethalben ein Lineal an. Wohin zeigt es? Nach rechts! Was kann da in der Verlängerung herauskommen?"

Fritz Bauer, 1903-1968

Quelle: Gerhard Zwerenz: Gespräche mit Fritz Bauer, 1967

"...sollen wir noch länger Elend und Ignoranz dulden?"

"Bürger von Paris, Nachfahren der Frauen der Großen Revolution, die im Namen der Menschen und der Gerechtigkeit über Versailles marschierten, Louis XVI gefangen nahmen, wir, Mütter, Frauen und Schwestern des gleichen französischen Volkes, sollen wir noch länger Elend und Ignoranz dulden, die unsere Kinder zu Feinden macht, dass der Vater gegen den Sohn, der Bruder gegen den Bruder gehen um sich gegenseitig vor unseren Augen zu töten, nach der Lust und Laune unserer Unterdrücker, die die Vernichtung Paris erhoffen, nachdem es dem Ausland ausgeliefert war?

(...) Und wenn die Gewehre und die Bajonette von unseren Brüdern benutzt werden, haben wir immer noch Steine, um die Verräter zu zerschlagen.“

Louise Michel via Dem Volke dienen

R.i.P. Chuck Berry

Chuck Berry ist tot. Er ist schon lange unsterblich. Carl Sagan und Ann Druyan wünschten ihm im Jahre 1986 alles Gute zu seinem 60. Geburtstag. Sie schrieben, dass seine Musik für immer leben wird, weil seine 1958 veröffentlichte Single "Johnny B. Goode" auf der Voyager Golden Record mit den Raumsonden Voyager 1 und Voyager 2 Sonden auf der Reise zu den Sternen ist. Zu dem Zeitpunkt waren die Sonden bereits zwei Milliarden Meilen von der Erde entfernt und sie würden weiter mehr als eine Milliarde Jahre unterwegs sein...


Quelle: Library of Congress

Adorno: Aberglaube aus zweiter Hand. Zur Sozialpsychologie der Zeitungshoroskope

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0
"Die unentrinnbaren Verhältnisse ähneln objektiv so offenkundig dem Wahnsystem sich an, daß die meisten insgeheim das Systematische ihres Tuns, ihre Arbeit, als irrational und unvernünftig erfahren. Sie begreifen nicht länger den Zweck des Mechanismus, von dem sie selber einen Teil bilden. Sie argwöhnen, daß der Koloß weniger um ihrer Bedürfnisse als um des eigenen Fortbestands willen existiert und funktioniert. Der lückenlosen Organisation wird das Mittel fetischistisch zum Zweck, ein jeder spürt die Selbstentfremdung des Ganzen auf der eigenen Haut. Selbst solche, die für normal gelten, und vielleicht sie besonders, akzeptieren Wahnsysteme: weil diese immer weniger von dem ihnen ebenso undurchsichtigen der Gesellschaft zu unterscheiden, aber einfacher sind."

Theodor W. Adorno - Aberglaube aus zweiter Hand.
Zur Sozialpsychologie der Zeitungshoroskope, (GS 8, S. 147 bis 176)

Was mir heute wichtig erscheint #413

Tragödie: Bei einem Brand in einem Kinderheim in Guatemala sind bislang 40 Tote und zehn schwer verletzte Mädchen und Jungen zu beklagen. Die Kinder waren eingesperrt, es gibt den Verdacht auf systematische Misshandlungen und Vergewaltigungen. Mehr dazu bei amerika21.de

Hungerstreik: In Edirne befinden sich seit dem 22. Februar 6 Gefangene im Hungerstreik für die Beendigung der verschärften Isolationshaft von Abdullah Öcalan und gegen die Haftbedingungen in dem Typ F Gefängnis statt. Der Zustand von drei der Hungerstreikenden ist inzwischen kritisch.

Vorausschauend: "The man in the White House ... He's got a conscience as black as sin! There's just one thing I wanna know -” How'd that asshole ever manage to get in?" Frank Zappa.

Tiefpunkt: Der österreichische Standard zu den Ausschreitungen in Rotterdam: "Ein Wunder, dass es keine Toten gab".

Hilflos: DeMaizière behauptet, um Abgeschobene würde sich in Afghanistan gekümmert. Monitor hat das vor Ort geprüft.

Kriegsfotografinnen: Der Kampf um Bilder, Leben und Tod, sehenswerte Dokumentation des SWR unter anderem über Gerda Taro, online verfügbar bis 15.03.2017.

Richtungsentscheidung: Am 17. und 18. März findet in Baden-Baden das Treffen der FinanzministerInnen statt, das zur Vorbereitung des G20-Gipfeltreffens am 7. bis 9. Juli in Hamburg dient. Zwanzig Regierungen und Vertreter der globalen Finanzinstitutionen treffen Richtungsentscheidungen, die das Schicksal der Menschen in allen Ländern der Erde betreffen. Warum es wichtig ist, gegen den G20 Gipfel zu protestieren und die wichtigsten Fragen beantwortet die Bündnisseite NoG20 Baden-Baden.

Jahrestage: In diesem Jahr - 2017 - gibt es im Baskenland eine Reihe trauriger 80er-Jubiläen: am 31.März vor 80 Jahren wurde die Stadt Durango bombardiert, am 26.April ist der Jahrestag der planmäßigen Vernichtung von Gernika durch deutsche Faschisten, am 19. Juni 1937 wurde die baskische Niederlage mit dem Fall von Bilbao besiegelt. "Sieg oder Niederlage?"

Verstoß: Ins seiner Stellungnahme an das Bundesverfassungsgericht zur Frage der Verfassungswidrigkeit von Sanktionen im SGB II legt der Verein Tacheles da, warum er die Sanktionen im SGB II für einen Verstoß gegen das Völkerrecht, UN-Sozialpakt, Behindertenkonvention und gegen deutsches Verfassungsrecht hält. Siehe dazu auch: Interview von Radio Corax mit dem Rechtsreferenten Roland Roseno zur Frage der Verfassungswidrigkeit von Sanktionen.

Zorn: Während die Einreiseverbote des US-Präsidenten Außenpolitiker und Gerichte auf den Plan rufen, stößt der geplante US-Wall zu Mexiko auf Interesse Hunderter Firmen. Bericht im Neuen Deutschland.

Rückblick: Auf den 6. Jahrestag der Fukushima-Katastrophe, die Proteste in ganz Japan und überall auf der Welt, auch in der BRD fasst die Zusammenstellung beim LabourNet zusammen.

Automatisierung: Bis 2055 könnte jeder zweite Job wegfallen, so eine Untersuchung der sog. "Unternehmensberatung" McKinsey. Mehr bei t3n.

Peng: Seit neuestem dürfen auch Muslime und Homosexuelle Mitglied in historischen Schützenvereinen werden. Allerdings wird das vor Ort entschieden: "Die 1.300 lokalen Mitgliedsbruderschaften dürften nun selbst entscheiden, ob und wie sie die neuen Möglichkeiten umsetzen."

Verbot: "(...) Anlässlich kurdischer Demonstrationen in Hannover und München kam zu Tage, dass das Bundesinnenministerium (BMI) den Forderungen der türkischen Regierung, stärker gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorzugehen, umgehend entsprochen hat. Mit einem Erlass vom 2. März wurde die Anzahl der Gruppierungen, deren Fahnen und Symbole auf der Grundlage des seit 1993 bestehenden PKK-Verbots nicht öffentlich gezeigt werden, erheblich ausgeweitet. Akribisch wurden sämtliche Institutionen und Organisationen gelistet, denen eine Nähe zur PKK unterstellt wird. Darunter fallen auch sämtliche Frauen- und Jugendorganisationen, wie etwa der Verband der Studierenden aus Kurdistan (YXK).

Von besonderer Brisanz ist, dass erstmalig auch kurdische Parteien und Verbände in Syrien -“ namentlich die Partei PYD (Partei der Demokratischen Einheit) und der Streitkräfteverband der YPG (Volksverteidigungseinheiten) -“ als „Auslandsableger“ der PKK unter das Vereinsverbot subsumiert werden. Diese werden nicht nur im Kampf gegen den sog. Islamischen Staat in Syrien von der Internationalen Koalition unterstützt, sondern erweisen sich derzeit im syrischen Bürgerkrieg mit den verbündeten arabischen und christlichen Bevölkerungsgruppen als Anker der Demokratie und Stabilität.(...)" Weiter in der Presseerklärung von AZADÃŽ e.V., Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland, und Civaka Azad

Falsches Bewußtsein

Ulrike Meinhof 1964
Quelle: Privates Foto, aus der Sammlung Bettina Röhls, der Tochter Ulrike Meinhofs
"Aus der Emanzipationsforderung ist der Gleichberechtigungsanspruch geworden. Emanzipation bedeutete Befreiung durch Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Aufhebung der hierarchischen Gesellschaftsstruktur zugunsten einer demokratischen: Aufhebung der Trennung von Kapital und Arbeit durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel, Beseitigung von Herrschaft und Knechtschaft als Strukturmerkmal der Gesellschaft.

Der Gleichberechtigungsanspruch stellt die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Ungleichheit zwischen den Menschen nicht mehr in Frage, im Gegenteil, er verlangt nur die konsequente Anwendung der Ungerechtigkeit, Gleichheit in der Ungleichheit: Die Gleichberechtigung der Arbeiterin mit dem Arbeiter, der Angestellten mit dem Angestellten, der Beamtin mit dem Beamten, der Redakteurin mit dem Redakteur, der Abgeordneten mit dem Abgeordneten, der Unternehmerin mit dem Unternehmer. Und tatsächlich beschäftigt dieser Gleichberechtigungsanspruch heute noch jeden gewerkschaftlichen Frauenkongreß und jede Unternehmerinnentagung, weil er sich erst juristisch, nicht aber praktisch durchgesetzt hat. Es scheint, als hätte eine ungerechte Welt noch Schwierigkeiten, wenigstens ihre Ungerechtigkeiten gerecht zu verteilen."

Ulrike Meinhof, 1968 in "Emanzipation und Ehe" hrsg. von Christa Rotzoll

cronjob