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Zum Tod von Fritz Güde: Kämpfen und lernen

Ein Nachruf von Sebastian Friedrich

Der Lehrer, Publizist und kritisch-lesen.de Mitbegründer Fritz Güde ist am 5. Juli 2017 im Alter von 81 Jahren gestorben.

Nach Schulabbruch, Gelegenheitsjobs und anschließendem Dann-Doch-Noch-Schule-Nachholen habe ich ab Sommer 2006 den Zivildienst in Karlsruhe absolviert. Bei der Suche nach politischer Betätigung drückte mir ein enger Freund eine Ausgabe der Stattzeitung für Südbaden in die Hand. Es ging darin um linke Geschichte, lokale Kultur und konkrete Kämpfe vor Ort. Ich fand gut, was ich las, und besuchte einen von der Stattzeitung organisierten Vortrag in Offenburg. Kurze Zeit später schrieb ich meine erste Rezension für stattweb.de, der Online-Ausgabe der Stattzeitung. Wenig später war ich als Redakteur dabei. Den Vortrag in Offenburg hielt Fritz Güde. Er wurde mir von meinem Sitznachbarn als „so etwas wie der theoretische Kopf der Stattzeitung“ vorgestellt. Fritz, ein rundlich-älterer Herr mit ein wenig wirrem weißen Haar und lustiger Stimme, brachte den Anwesenden mit badischem Dialekt die guten und weniger guten Stellen in Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ näher.

Fritz wurde am 22. August 1935 in Wolfach/Baden geboren, wo sein Vater -“ der spätere Generalbundesanwalt und danach noch CDU-Bundestagsabgeordnete Max Güde -“ Amtsrichter war. Nach einem Studium der Germanistik, Romanistik und der Geschichtswissenschaften wurde Fritz Lehrer. Im Zuge der 68er Jahre politisiert, trat er in den frühen 1970er Jahren dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) bei. 1974 war er als einer der ersten von Berufsverboten betroffen. Das Stuttgarter Kultusministerium suspendierte ihn nicht nur vom Schuldienst an öffentlichen Schulen, sondern verstand es auch, eine Anstellung an Privatschulen in Baden-Württemberg zu hintertreiben. Vorgeworfen wurden Fritz die Mitgliedschaft im KBW, die Mitarbeit im Komitee gegen die Berufsverbote und die politische Entrechtung im öffentlichen Dienst sowie der Verkauf der KBW-Publikation Kommunistische Volkszeitung. Sein Fall sorgte bundesweit für Aufsehen. 1977 beurteilte das Verwaltungsgericht Karlsruhe das Berufsverbot als rechtens und verfügte die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis, obwohl Fritz schon nach wenigen Monaten wieder aus dem KBW ausgetreten war. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hob jedoch dieses Urteil ein Jahr später auf und erkannte lediglich auf eine Gehaltskürzung für seine Zeit der KBW-Mitgliedschaft. Obwohl ihm damit der Weg zurück an die staatlichen Schulen in Baden-Württemberg wieder geebnet war, blieb er zunächst aus freien Stücken Lehrer an der Hermann-Lietz-Schule in Hohenwerda/Hessen, die ihn im Jahr 1977 eingestellt hatte. Danach war Fritz für einige Zeit Lehrer an einem staatlichen Gymnasium im baden-württembergischen Freudenstadt. Schließlich war er bis zu seiner Pensionierung noch mehrere Jahre an der katholischen Heimschule Lender in Sasbach/Baden tätig.



Der Wille zum Weitermachen

Fritz blieb immer politisch aktiv, auch als sich der KBW 1985 auflöste. Anders als viele andere ehemalige KBW-Mitglieder ging Fritz nicht zu den Grünen. Allerdings begann er seit deren Erstausgabe für die Kommune zu schreiben, die 1983 -“ also noch zu KBW-Zeiten -“ als Nachfolge-Publikation der Kommunistischen Volkszeitung gegründet wurde. Er beendete dieses Engagement 1987 und ließ es 1992 nur kurzzeitig nochmals aufleben. Im Laufe der Zeit hatte sich die Kommune zu einem Organ des Realo-Flügels der Grünen entwickelt -“ eine Entwicklung, die Fritz ablehnte. 1995 wurde er Redaktionsmitglied der Stattzeitung für Südbaden beziehungsweise von stattweb.de, wo wir schließlich ab Ende 2006 zusammenarbeiteten.

Schnell entwickelte sich ein enges Verhältnis zwischen uns. Er, fast auf den Tag genau ein halbes Jahrhundert älter als ich, wurde mir eine Art politischer Mentor. Lange Telefonate und Mailkorrespondenzen über Lenin, Gramsci, vor allem über Tucholsky, Brecht und Benjamin, aber auch über Foucault waren an der Tagesordnung. Es gab keine Frage, die ich ihm nicht stellen konnte, keine, auf die er Ad-hoc mit einem fundierten Beitrag ragierte. Andersrum berichtete ich ihm von Debatten, Organisierungsversuchen und Aktionen an den Unis und auf den Straßen in Berlin, wo ich ab 2007 lebte.

Gemeinsam mit den anderen Redaktionsmitgliedern entschieden wir, stattweb.de im Juli 2010 einzustellen. Am Schluss waren wir einfach zu wenige, um die globalen Widersprüche bis auf den Grund des gelebten Lebens in der Region Südbaden durchsichtig zu machen, wie wir in unserer Auflösungserklärung schrieben.

Fritz und ich beschlossen, eine linke Seite für Buchrezensionen aufzubauen. Die Idee von kritisch-lesen.de kursierte bereits zu stattweb.de-Zeiten in unseren Köpfen. Mit dem Ende der Seite sammelten wir weitere Redakteur_innen und gingen das Projekt an. Wir fanden uns im Februar 2011 in einen eiskalten Raum am Stadtrand von Frankfurt am Main wieder. Sechs Menschen saßen an einem Tisch und diskutierten über Sinn und Form von kritisch-lesen.de, das einen Monat später online gehen sollte. Fünf der Anwesenden waren unter 30 Jahre alt, einer, Fritz, feierte ein paar Monate zuvor seinen 75. Geburtstag. Seine Sehkraft war zwar eingeschränkt, doch Geist und Wille, weiterzumachen, waren fit und ungebrochen.

Dieser Wille zum Weitermachen zog sich durch sein politisches Leben. Trotz der Repression, trotz der vielen Genossinnen, die sich nach den erlittenen Niederlagen abwandten vom Versuch der Umwälzung, trotz des Siegeszugs der Dystopie auf Kosten der Utopie im Bewusstsein ehemals revolutionäre Aktivistinnen ab Ende der 1970er Jahre, trotz massivem Klassenkampf von oben und trotz geschichtlicher Entwicklungen, die die Ausgangslage für Linke weltweit und vor allem in Europa immens erschwerten, blieb Fritz seinen politischen Überzeugungen treu − ohne allerdings dogmatisch an ihnen festzuhalten. Viele seiner einstigen Mitstreiter_innen zogen sich aus − persönlich durchaus verständlichen − Gründen zurück oder machten während ihres Marsches durch die Institutionen zu lange Rast. Auf der Suche nach Erkenntnis wälzte sich Fritz indes durch Schutt und Scherben der Revolutionsversuche, schob sie hin und her. Es ging ihm darum, die begangenen Fehler und Niederlagen im besten Sinne des Wortes zu überdenken. Er war der Ansicht: Das Material, aus dem etwas Neues geschaffen werden kann, besteht weitgehend aus Trümmerstücken.

Diese Trümmerstücke aufzubereiten, darin sah er seine publizistische Aufgabe. Anlässlich seines 80. Geburtstages brachten Patrick Schreiner, Thomas Trüten und ich gemeinsam das Buch „Umwälzungen“ heraus. (Rezension in kritisch-lesen.de #39) Darin versammelten wir 26 Beiträge, die Fritz zwischen 1984 und 2012 in den Zeitschriften Kommune und Stattzeitung für Südbaden sowie auf den Webseiten trueten.de, stattweb.de und kritisch-lesen.de veröffentlicht hatte. Das Buch zeigt die enorme Bandbreite der Themen auf, mit denen sich Fritz beschäftigt hat. Es geht in den Aufsätzen um Kurt Tucholsky, Erich Fried, Gottfried Benn, Christa Wolf, Walter Benjamin, Bertolt Brecht, um Auseinandersetzungen mit Faschismus- und Imperialismustheorien, französischem Rap und erzkonservativen Familienserien aus den USA.



Die Kämpfe nicht zweimal verlieren
Ich erinnere mich an einen Satz, der häufig fiel, wenn ich mich mit Fritz über Grundsätzliches unterhielt. Sinngemäß lautet er: „Wir dürfen die Kämpfe nicht zweimal verlieren-. So richtig habe ich die Tragweite dieses Leitsatzes erst verstanden, als ich mich für „Umwälzungen“ noch einmal intensiv mit Fritz-™ Texten und mit Walter Benjamin auseinandersetze. Denn Fritz-™ Blick auf Geschichte und Gegenwart orientiert sich an den Überlegungen des Philosophen und Literaturkritikers. Im Mittelpunkt für Fritz steht Benjamins letzter großer Aufsatz: „Über den Begriff der Geschichte“, den dieser in den Jahren 1939 und 1940 niederschrieb. Bruchstückhaft reflektiert Benjamin darin nicht nur seine politischen Überzeugungen, sondern die Desillusionen und die Niederlagen der Linken. Benjamin wendet sich gegen ein Geschichtsverständnis, das nur Fortschritt kennt. Damit konnte Fritz viel anfangen.

Wie viele Genossinnen seiner Generation war es der Verfall der DDR, der sich einbrannte. Bei aller Kritik am Arbeiter- und Bauernstaat, sahen viele Linke in ihm zumindest einen Versuch des Sozialismus − und damit einen Bezugspunkt. Für Fritz geriet ein lineares Verständnis von Fortschritt und Geschichte allerdings schon vor 1989 ins Wanken. Mit Blick auf die 1970er schrieb er einmal, man habe mit vollem Mund das Fortschrittsbrot in der Mundhöhle gewälzt − „damit nur ja keine einzige Erkenntnis herauskommt“. Es war die Zeit, als der KBW die Proteste gegen Atomkraftwerke entdeckte und sich den zum Teil konservativen Bäuerinnen und Bauern anschloss. Die Genossinnen damals kämpften, so entnehmen wir es Fritz Ausführungen, in Hoffnung auf einen roten Garten Eden. Fritz schreibt in einer Rezension zu Henning Bökes Maoismus-Buch: „Beim KBW war die subjektive Anstrengung, so nötig sie war, so überwältigend, dass sie nur ertragen werden konnte im Licht der Voraussage: In soundsoviel Jahren, zuletzt wohl zehn, hat die Revolution gesiegt-. Als sich die Ernüchterung einstellte, ging der Glaube an das nahende Paradies verloren. Manchen öffnete dies die Augen und einen Weg zur Erkenntnis, bei anderen führte die Ernüchterung dazu, die Augen für immer zu verschließen und sich von allen Umwälzungsversuchen zu verabschieden. Nicht so Fritz, mit Blick auf seine Erfahrungen als Aktivist schrieb er in der Maoismus-Rezension:

„Es muss im Bewusstsein der Niederlagen der Kampf angetreten werden, im schärfsten Blick auf die Entstellungen, die bisherige Revolutionäre sich antaten, um ein Jahr oder fünf Jahre oder gar zehn weitermachen zu können. Gerade nicht im fahlen Schein der guten Vorsätze, wir würden im Neujahrs-Schnee anders an die Sache herangehen. Nein, in der Gewissheit, dass unsere Züge nicht weniger entstellt, unsere Hände nicht weniger schmutzig sein werden als die jener, die uns vorangegangen. Aber mit dem kleinen Unterschied, dass wir aufeinander achten wollen, aufpassen, wann es mit uns so weit ist, dann die Narben und Wunden nicht verstecken und zudecken, sondern offen ins Licht halten. Licht der Diskussion, der Überlegung, unter Umständen sogar in der Konsequenz der Notwendigkeit des Rückzugs, ja des Aufhörens-.

Die Narben und Wunden ersetzen die Gebrauchsanleitung zur Revolution: Wir haben sie, die uns Vorausgegangenen haben sie − und auch die, die uns nachfolgen, werden welche haben. Wir müssen sie offenlegen und zur Sprache bringen, nicht verdecken und verschweigen. Wir müssen auch über den Schmerz reden, darüber, wie es sich mit ihnen lebt.



In Eingedenken der Geschundenen, Gedemütigten, Geschlagenen
Das Zentrale, das ich von Fritz lernen durfte: Wenn wir nach den Ursachen der Wunden fragen, können wir aus ihnen lernen. Voraussetzung dafür ist es, sich in Beziehung zu setzen, aber nicht zu einem noch nicht einmal in groben Linien am Horizont erkennbarem El Dorado, sondern in Beziehung zu den Geschundenen, Gedemütigten, Geschlagenen.

Dabei reicht es nicht, sich zu erinnern, vielmehr geht es um das Eingedenken, wie Benjamin es nennt, darum, sich unversöhnlich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sie als unabgeschlossen zu begreifen. Doch das Vorausgegangene ist weit weg. Ein historisierender Zugriff vermag vielleicht die Ursachen der Narben und Wunden einigermaßen zu ergründen, doch der Schmerz ist dadurch kaum fühlbar, der Weg zur wirklichen Erkenntnis damit versperrt. Wie das Vorausgegangene begriffen und erfahren werden kann, hat Fritz Mitte der 1980er Jahre in einem Aufsatz skizziert. In seinem Beitrag „Ort, Weg, Bewegung“ führt er aus, wie sich nicht nur zeitlich, sondern auch örtlich auf das Unabgegoltene und Unerfüllte bezogen werden kann:

„Aufmerksamkeit auf die Spuren, die die einstmals Lebenden in den Orten unserer augenblicklichen Tätigkeit gezogen haben. Es käme weiterhin darauf an, Handlungen zu erfinden, die Verbindung mit den Taten der Toten erlaubten, selbst wenn diese sich in ihnen nicht notwendig wiedererkennen könnten-.

Hier kommt der Begriff Heimat ins Spiel. Heimat verstand Fritz keineswegs als Ort, in den man hineingeboren wird. Vielmehr kann Heimat begriffen werden als ein Ort, über den wir an das Geschehene anknüpfen können. Mit dem Bezug auf Heimat dürften nicht die bestehenden Unterschiede und Antagonismen derjenigen, die an diesem Ort leben, verdeckt werden. Heimat ist, wie Fritz in dem Aufsatz verdeutlichte, kein Ort, der den Streit ausspart. „Es ist vielmehr der einzige, wo er unmittelbar erfahren werden kann-. Heimat heißt auch, die Orte nicht aus ihrem Zusammenhang zu reißen, wie Fritz deutlich macht: „Sollte es Kommune überhaupt einmal geben, wird sie dann aber auch inmitten der -šschon bewohnten-™ Gegenden entstehen müssen: innerhalb, nicht außerhalb der alten Gemeinschaften, als Fortführung der Geschichte, nicht als Losreißung von ihr-.



Aussicht schaffen
Eine kritische Beschäftigung mit der Tradition, der Geschichte der Bewegung, in der man sich verortet, heißt auch anzuerkennen, genau Teil dieser Tradition zu sein. Es hilft nicht weiter, wie innerhalb der hiesigen Linken weit verbreitet, alle Verbindungen zu kappen und abzuschlagen, sich auf einen Mythos weniger Heiliger zurückziehen, die scheinbar widerspruchsfrei gehandelt haben und diejenigen zu verdammen, die geschlagen wurden − und geschlagen haben. Was wir von Fritz-™ Ausführungen lernen: Auch wenn uns ein gutes Gedächtnis und die Fähigkeit zum Eingedenken gewiss keinen Masterplan zur Verfügung stellt, so können wir gewiss Spuren ausfindig machen, denen wir nachgehen können.

Was wir auch lernen könnten, hat Fritz als Mitautor im Gründungsmanifest von kritisch-lesen.de auf den Punkt gebracht. Was bedeutet mit all dem Ausgeführten „Kritik“? Es bedeutet kritisch-sein im Bewusstsein des Zeitverlaufs. Im Selbstverständnis des Online-Magazins vom März 2010 heißt es dazu:

„In diesem Sinne wollen wir uns zwar auf die vielen Annahmen von früheren Analysen beziehen, jedoch keine davon schlicht auf heute anwenden, ohne die Veränderungen zu beachten und mitzudenken. Die Vorstellung, im Schnellzug der Geschichte zu sitzen, die Zukunft gewiss in der Hand zu haben, führte und führt ins Elend. Wer meint, im Voraus zu wissen was sein wird, ergibt sich! -šKritisch-™ erhält somit einen entscheidenden weiteren Sinn: Die Erfahrungen aus den Niederlagen der Vergangenheit sind zu bewahren, zu reflektieren -“ und weiterzugeben. Wir wollen nicht auf einem Gleis ohne Weichen eingreifen, sondern im Rundgang durch das Umfeld von herrschenden und linken Begriffen und Deutungen. Auf diese Weise wollen wir das Trümmerfeld der Gegenwart offenbaren als eines, in welchem die Produktionen und Überreste von Gewiss- und Sicherheiten zerstört werden müssen, um den Blick ins Freie zu schaffen. Somit wollen wir dem Begriff Kritik den Geschmack des Nörgelns, des grämlichen Sofahockertums nehmen, das sich mit nichts abfinden mag. Kritik in diesem Sinn verstehen wir als Breschenschlagen, als Aussicht schaffen, als Sich-Umblicken in einer Gegend, die altbekannt und doch völlig neu auftreten kann-.

Daraus ergab sich für Fritz in der Praxis, sich mit neuen Diskussionen auseinanderzusetzen, anstatt allzu schnell müde abzuwinken. So ist eine Debatte, auf die sich Fritz von Anfang an eingelassen hat, die um den „kommenden Aufstand“, der 2010 erschien und selbst in den bürgerlichen Feuilletons für einiges Aufsehen gesorgt hat. Vor allem die Betonung, es gebe keinen linearen Verlauf der Geschichte, imponierte Fritz ebenso wie die optimistische und kämpferische Perspektive. Dagegen kritisierte er eine entscheidende Auslassung bei der Schrift des „Unsichtbaren Komitees“:

„Der gegenwärtige Aussichtspunkt in der Höhe muss aber als einer verstanden werden, der einen unendlichen Scherbenhaufen zur Grundlage hat. Die einzig wahre Erkenntnis der verschiedenen Postmodernen muss auch hier festgehalten werden. Es gibt keinen linearen Fortschritt. -šEs hat erst angefangen / wir werden immer mehr-™ bleibt kurz flackernde Empfindung, keine Erkenntnis-.

Nicht nur an dieser Stelle, sondern auch in vielen Rezensionen, in denen er sich mit dem französischen Poststrukturalismus befasst, würdigt er die französische Denkrichtung für den Bruch mit dem linearen Geschichtsbild. Doch dies allein reicht nicht aus. Das Vergangene reicht in Gegenwart und Zukunft. Die Kontinuität macht vor dem Bruch nicht halt. Sich den Brüchen zu stellen, forderte Fritz, denn sie erlaubten den Blick „auf den trotz allem noch sprechenden Mund, den schmerzenden Leib, alles Stöhnen und Geschrei des lebendigen Lebens“, wie er einmal schrieb.

Fritz' Werk verweist darauf, die lange Liste der linken Niederlagen als eine Liste anstehender Aufgaben zu verstehen. Noch schlimmer als die Niederlagen selbst wäre es, diese Niederlagen und ihre Erfahrungen zu vergessen. Zum einen muss sachlich aus den Fehlern gelernt werden. Aber nicht nur das: Eingedenken bedeutet nicht nur, eine auf Verständnis und Erkenntnis abzielende Analyse zu betreiben, sondern die Kämpfe der Vorausgegangen zu erfahren. „Die Kämpfe nicht zweimal verlieren“ bedeutet: Erkennen, Begreifen und Nachempfinden.

Genau das, Kopf und Herz zusammenzubringen, zu kämpfen und zu lernen, standhaft und beweglich zu bleiben, habe ich von Fritz gelernt. Mein Genosse und Freund ist am 5. Juli im Alter von 81 Jahren gestorben.

Filmabend: "Vorhof zur Hölle"

Ich hatte vor 2 Jahren schon mal einen Filmtipp für "Freistatt" abegegeben. Nun läuft dieser im K9 in Berlin:

Der aufmüpfige 14-jährige Wolfgang wird Ende der 1960er Jahre in die kirchliche Besserungsanstalt für männliche "Schwererziehbare" FREISTATT gesteckt. Hunger, Folter, sexuelle Übergriffe: In dieser Anstalt kommt alles vor. Verschlossene Türen, vergitterte Fenster, militärischer Drill, als Erziehung verbrämte tägliche Arbeitseinsätze, bei knochenharter Zwangsarbeit im Moor zum Torfstechen. Der brutale Hausvater von Freistatt war früher bei der Gestapo. Wolfgang will sich nicht unterkriegen lassen. Er flüchtet, wird eingefangen, flieht wieder, zettelt Revolten an, deshalb wird er noch brutaler bestraft -“ sie wollen ihn um jeden Preis brechen. Das Rebellische der Jugendlichen wird deutlich, als sie bei einer Revolte Richie Havens "Freedom" singen. Der Film zeigt das repressive gesellschaftliche Klima und die schwarze Pädagogik in der brd. Zwischen 1945 und 1975 waren etwa 800.000 Jugendliche in 3.000 dieser "Arbeitserziehungslager". Im Anschluss an den Film kann ein Betroffener, der selbst als Jugendlicher 1963/1964 in einer der westdeutschen katholischen Erziehungsanstalten war, etwas dazu sagen.

FREISTATT zeigt den horror gegen heimjugendliche

Sonntag, 16. Juli 2017, 20:00

(Aus dem Flyer)

Sprachlos

Herbert Marcuse in Newton, Massachusetts, 1955
Copyright: Marcuse family, represented by Harold Marcuse

"Wenn das sprachliche Verhalten die begriffliche Entfaltung blockiert, wenn es sich gegen Abstraktion und Vermittlung sträubt, wenn es vor den unmittelbaren Tatsachen kapituliert, so wehrt es die Anerkennung der Faktoren hinter den Fakten ab und damit die Anerkennung der Tatsachen und ihres historischen Inhalts. In der Gesellschaft und für sie ist diese Organisation funktionalen Sprechens von höchster Wichtigkeit; sie dient als Vehikel von Gleichschaltung und Unterordnung. Die vereinheitlichte, funktionale Sprache ist eine unversöhnlich anti- kritische und antidialektische Sprache. In ihr verschlingt die operationelle und verhaltensmäßige Rationalität die transzendenten, negativen und oppositionellen Elemente der Vernunft."

Herbert Marcuse - Der eindimensionale Mensch

Im Kontext NSU…

Foto: Benjamin Davy
Wolf Wetzel im Gespräch mit beate maria wörz über ihre Plakataktion zum NSU-Komplex.

Frau Wörz, Sie haben als Künstlerin das Format der Werbeflächen entdeckt und genutzt. Können Sie mir etwas zu Ihrem ersten Projekt „bedacht hausen“ erzählen.

Das Konzept für -šbedacht hausen-˜ hatte ich 1999/2000 entwickelt. Seit Sommer 1999 hatte mich die enorme Diskrepanz der eigenen Erfahrung des -šmich beheimatet-˜ Fühlens an einem bis dato mir unbekannten Ort sehr beschäftigt, während eines Symposiums in Österreich und den laufenden Berichten im Radio über die damaligen Fluchtbewegungen im Kosovo. Ich suchte nach einer adäquaten Form für die Umsetzung dieses Themas und kam, zurück in Berlin, auf Idee der Werbegroßflächen.
Dank einer Förderung durch die damals noch existierende Stiftung Kulturfonds konnte ich das Konzept Anfang 2001 realisieren, es gab damals im Zeitraum von ungefähr sechs Wochen 120 Großflächenplakate im öffentlichen Raum zu sehen und 24.000 in ganz Berlin verteilte Postkarten dazu.
Formal war es das künstlerisch strengere Konzept, sehr reduziert, vier Worte, je einzeln auf einem Plakat schwarz auf weiß gedruckt: -šbedacht-™ -šunbedacht-™ -šunbehaust-™ und -šhausen-™, Letzteres auf seinen Ursprung hausen = einen Ort haben zum Wohnen, zurückgeführt.
Das Konzept setzte ähnlich wie jetzt auf Wahrnehmung durch Wiederholung, einen unbeschränkten Zugang, die Plakate überraschten durch den Moment des scheinbaren -šNichts-™ zwischen lauter und bunter Werbung und öffneten einen mentalen Raum für die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Bedeutungsebenen.

Ich bin jetzt nicht zu gewagt, wenn ich vermute, dass Sie Kunst nicht in private, also relativ geschlossene Räume verbannen, sondern in den öffentlichen Raum stellen wollen, quer zu gewohnten Konsumwerbung?

Ich habe immer wieder nach Formen gesucht, Themen, die mich beschäftigen, häufig gesellschaftliche oder auch politische, soweit sich das überhaupt trennen läßt, in den öffentlichen Raum zu bringen und habe das mit unterschiedlichen Mitteln getan; letztlich ging es mir immer wieder darum, zu irritieren, die jeweils eigene Wahrnehmung und für die Betrachtenden scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen, ein Nachdenken darüber anzuregen.

Diese erste Erfahrung brachte Sie dazu, dieses Großformat auch auf das Thema „NSU-Komplex“ anzuwenden. Sie hatten über ein halbes Jahr den in Berlin tagenden parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur politischen Aufklärung der NSU-Terrorserie besucht. Was haben Sie von dort mitgenommen?

Zuerst einmal ein Erschrecken, eine Fassungslosigkeit über das, was sich an Abgründen auftat zwischen allen diesem -šNicht-Erinnern-˜, den sogenannten -šPannen-™, der offensichtlichen Gleichgültigkeit politischer Vertreter und auch von uns als Gesellschaft überhaupt gegenüber bestimmten in diesem Land lebenden Bevölkerungsgruppen und dem, was ihnen an Terror und Leid widerfahren war; es war ein -šNicht-fassen-können-˜, dass all diese Dinge tatsächlich passieren konnten. Anfänglich auch ein positives Erstaunen darüber, dass bis zu einem gewissen Punkt tatsächlich alle Mitglieder des Ausschusses parteiübergreifend ernsthaft an der Aufklärung zu arbeiten schienen, gegen offensichtliche Widerstände seitens der jeweiligen Verfassungsschutz- und anderer Behörden. Irgendwann, gegen Ende dieses ersten PUA zum NSU kippte etwas, Fragen gingen nicht mehr tief genug und wir alle fragten uns, was da gerade passiert.

Ich weiß nicht, ob wir denselben „Bruch“ meinen. Gegen Ende des ersten PUA in Berlin wurde der Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007 thematisiert. Gegen das kompakte Credo der Polizei- und Geheimdienstbehörden, man habe nichts gewußt und der Rest sei Pannen geschuldet, meldete sich eine ehemalige V-Frau mit Deckname „Krokus“. Der damalige Auschussvorsitzende Sebastian Edathy forderte im April 2013 vom Verfassungsschutz in Baden-Württemberg die entsprechenden Akten an. Dieser verweigerte die Herausgabe und drohte gleichzeitig der ehemaligen V-Frau mit einem Verfahren wegen Geheimnisverrates. Edathy setzte ein Ultimatum, blieb hartnäckig, was nicht ohne Folgen blieb: Ein nun öffentlich gemachtes Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Kinderpornografie zielte leicht erkennbar auf die „Glaubwürdigkeit“ Edathys als Ausschussvorsitzender. Mit Erfolg. Am 18. Dezember 2014 erklärte Edathy: „Den Politiker Sebastian Edathy gibt es nicht mehr."

Ich kann die Details nach so langer Zeit nicht mehr nennen, aber es war sicher um diesen Zeitpunkt herum. Der Ausschuss endete ja im Juni 2013, meine ich, und dass plötzlich gegen Sebastian Edathy gezogen wurde, der bis dahin den Ausschuss gut geleitet hatte, läßt sich kaum glaubhaft als rein zufällige zeitliche Übereinstimmung vermitteln. Die Methode, häßliche -šTrümpfe-˜ aus dem Ärmel zu spielen, wenn jemand sich unliebsam macht wie damals mit der klaren Forderung, ist ja nichts Neues bei politischen Machtverhältnissen. Uns, die wir als Beobachterinnen oben auf der Besucherempore saßen, fiel eben auf, dass der bis dato deutliche Ermittlungs- bzw. Aufklärungswille über die Parteigrenzen hinweg plötzlich zu lahmen begonnen hatte wie ein Pferd, dem die Fesseln zu stark eingebunden wurden.

Lassen wir das Haifischbecken mal so stehen. Wie kamen Sie auf die Idee mit den Zitaten? Und wie leicht bzw. schwer war es, Menschen eine Meinung abzuringen, die dann unübersehbar auf Plakaten prangert?

Es taten sich einfach so viele neue Fragen auf, wenn man da saß und zuhörte und zusah, da lag es nahe.
Teilweise war es überhaupt nicht schwer, manche der Fragen /Sätze wurden sehr schnell von ihren jeweiligen Verfasserinnen formuliert, waren im Grunde längst fertig. Andere brauchten sehr lange, bis sie ihre Wortgestalt fanden, wieder andere Fragen sind nie bei mir angekommen; den Zugang zu den Betroffenen der Morde und Anschläge habe ich letztlich bis auf ein zwei Ausnahmen nicht hinbekommen, wollte ich sie doch auch nicht bedrängen in ihrem jahrelangen Leid und ihren Traumata.

Meinungs- und Pressefreiheit zu haben ist das eine. Wenn sie jedoch der üblichen „Erzählung“ widerspricht, verflüchtigt sich schnell das Geld. Wie kamen Sie an genau dieses?

Dieser Prozess war lang und mühsam: endlose Anfragen und Anträge, viel Anerkennung für das künstlerische Konzept und die Betonung seiner Wichtigkeit, jedoch fast genauso viele lobende Absagen haben mich am Ende nur einen Bruchteil der für das eigentliche Konzept (3.400 Plakate, 1 Jahr lang in 20 Städten mit 10-tägig wechselnden Fragemotiven) benötigten Gelder zusammenbringen lassen, so dass es jetzt nur eine sehr abgespeckte Kurzversion zu sehen gab und gibt. Ohne die nachhaltige Unterstützung seitens der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dem Türkischen Bund in Berlin und Brandenburg (TBB) und privater Unterstützerinnen hätte ich vermutlich das Projekt irgendwann als in der Umsetzung gescheitert zur Seite gepackt.

Nun kenne ich das aus eigener Erfahrung. Zweifel darf man ja an der juristischen und politischen Aufarbeitung des „NSU-Skandals“ haben, aber keinesfalls eine andere „Erzählung“. War es schwierig, politische Unterstützung zu bekommen?

Letztlich ist mir das nur in wenigen Fällen gelungen. Entweder wurde auf eigene Projekte im Zusammenhang mit NSU und Rechtsextremismus und oder mangelnde Gelder verwiesen oder aber das Format und die formal strenge Aufmachung, das hochpolitische Thema passte für viele nicht - es war entweder zu politisch und zu kritisch (-šstaatsangreifend') oder nicht genug -šKunst-˜.

Sie hatten sicherlich vor, zum NSU-Tribunal in Köln mit Plakaten in der Stadt präsent zu sein. Hat das geklappt?

Das hat am Ende leider überhaupt nicht geklappt, im Zeitraum des Tribunals gab es trotz Unterstützung von unerwarteter Seite keine verfügbaren Flächen mehr in Köln, so dass letztlich in dem Zeitraum kein einziges Plakat in Köln hing, nicht mal am Ort des Tribunals, dem Schauspiel selber. Das fand ich sehr bedauerlich, kommen mit den gesammelten Fragen doch viele unterschiedliche Stimmen aus Politik und Gesellschaft zu Wort, bildet das Ganze eine Art kritische Gesamtfrageskulptur.

Wo kann man in nächster Zeit Ihre Plakate sehen?

Seit ca. 6. Juni gibt es in Berlin, München, Nürnberg, Köln und Kassel nochmals Plakate mit neuen Fragen zu sehen, die Mittel sind jedoch fast aufgebraucht. Außerdem läuft bis zum 17. Juni noch meine Ausstellung -šIm Kontext NSU-welche Frage stellen Sie?-™ in der ver.di Bundesverwaltung in Berlin mit vier verschiedenen Großflächenplakaten und weiteren Arbeiten zum Thema.
Um den Jahrestag der Ermordung von Süleyman TaÅŸköprü soll es in Hamburg nochmals Plakate geben. Danach hängt es davon ab, ob die derzeit unterstützend von dritter Seite laufenden Spendensammlungen genügend Gelder zusammenbringen, so dass beispielsweise zum Ende des Gerichtsprozesses in München nochmals eine Kampagnenrunde laufen könnte - gedruckte Plakate sind noch genügend vorhanden, was fehlt, sind die Mittel für die Hängung.
Es gibt ein Spendenkonto, Spenden für das Projekt sind steuerlich absetzbar.

Vielen Dank für das Gespräch und die Bereitstellung einiger der Plakatmotive und mehr als gerne möchten wir unsere Leserinnen und Leser dazu aufzurufen, für dieses Projekt zu spenden.


Redaktionelle Anmerkung:

Das Bild von einem dieser Plakate wurde verstellt. Trotzdem haben wir genau dieses ausgewählt, denn es zeigt auf seine Weise, wie oft das Thema verstellt wird. Damit der Text auf jeden Fall nicht verloren geht:

„Warum schweigen abermals so viele, wenn es darum geht, politische und juristische Konsequenzen daraus zu ziehen, dass ohne staatliches Zutun der NSU nicht entstanden wäre, dass mit staatlicher Unterstützung zehn Jahre lang falsche Fährten gelegt worden sind? Wolf Wetzel, Journalist, Autor“

Wer die Fortsetzung dieser Plakataktion unterstützen möchte:

Spendenkonto-Nr. 1128062602
Kontoinhaber: Chorôso Kunstförderverein e.V.
Verwendungszweck: 'Plakatprojekt im Kontext NSU'
GLS Gemeinschaftsbank BLZ 430 609 67
IBAN DE92430609671128062602
BIC GENODEM1GLS


Vita:

beate maria wörz, Konzeptkünstlerin und Zeichnerin

im Süden Deutschlands geboren und aufgewachsen
1984 nach mehrmonatigem Aufenthalt in Basel Umzug nach Berlin
1991-97 Studium der Bildhauerei an der HdK Berlin und HfBK Saarbrücken (SS 1995)

1997 Meisterschülerin der HdK Berlin (heutige UdK)
Seitdem zahlreiche Ausstellungen, Förderungen, Projekte, Symposien und Arbeitsaufenthalte in Deutschland, Belgien, Polen, Österreich, Südafrika, Italien, Spanien, Schweden und der Schweiz. Seit 2000/2001 Konzepte/Arbeiten im öffentlichen Raum
Lebt und arbeitet überwiegend in Berlin

www.beatemariawoerz.de

Wolf Wetzel war Autor der ehemaligen autonomen L.U.P.U.S.- Gruppe, die sehr stark von der Häuserkampfbewegung der 80er Jahre, der Startbahnbewegung 1980-1991, der Anti-Golfkriegskampagne 1991 und der Bundestagsblockade gegen die Abschaffung des Asylrechts 1993 geprägt war. Er ist Autor mehrerer Bücher, das letzte trägt den Titel: Der Rechtsstaat im Untergrund: Big Brother, der NSU-Komplex und die notwendige Illoyalität, PapyRossa-Verlag 2015. Von 2011 bis 2016 war er Vorstandsmitglied von Business Crime Control/BCC Frankfurt.

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Erstveröffentlichung am Montag 19. Juni 2017 bei Rubikon

Adorno zum Zen-Buddhismus

Theodor W. Adorno (vorne rechts) mit Max Horkheimer (links) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964 Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

"Licht fällt auf die restaurativen Philosphien von heutzutage vom kitschigen Exotismus kunstgewerblicher Weltanschauungen her, wie dem erstaunlich konsumfähigen Zen-Buddhismus. Gleich diesem simulieren jene eine Stellung des Gedankens, welche einzunehmen die in den Subjekten aufgespeicherte Geschichte unmöglich macht. Einschränkung des Geistes auf das seinem geschichtlichen Erfahrungsstand Offene und Erreichbare ist ein Element von Freiheit; das begrifflos Schweifende verkörpert deren Gegenteil. Doktrinen, die dem Subjekt unbekümmert in den Kosmos entlaufen, sind samt der Seinsphilosophie mit der verhärteten Verfassung der Welt, und den Erfolgschancen in ihr, leichter vereinbar als das kleinste Stück Selbstbesinnung des Subjekts auf sich und seine reale Gefangenschaft."
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik


105. Todestag von Voltairine de Cleyre

Voltairine de Cleyre im Alter von 35 Jahren

"Die Vorstellung, Menschen könnten nicht zusammenarbeiten, wenn sie keinen Antreiber haben, (...) widerspricht sowohl dem gesunden Menschenverstand als auch den beobachtbaren Tatsachen. In der Regel machen die Bosse die Verwirrung nur noch schlimmer, wenn sie sich in ein Problem einmischen, das bei der Arbeit auftaucht, wovon jeder Handwerker den praktischen Nachweis schon einmal erlebt hat." (Aus: Anarchismus, 1901)

Heute vor 105 Jahren starb die bedeutende Anarchofeministin, Antimilitaristin, Poetin und Freidenkerin Voltairine de Cleyre (* 17. November 1866 in Leslie, Michigan; -  20. Juni 1912 in Chicago).

Ich hatte vor Jahren von ihr den Text "Anarchismus" von 1901 verlinkt.

Aus Anlass ihres Todestages heute das den Straßenbauarbeitern des Fairmount Parks gewidmete Poem:

The Road Builders

("Who built the beautiful roads?" queried a friend of the present order, as we walked one day along the macadamized driveway of Fairmount Park.)

I saw them toiling in the blistering sun,
Their dull, dark faces leaning toward the stone,
Their knotted fingers grasping the rude tools,
Their rounded shoulders narrowing in their chest,
The sweat drops dripping in great painful beads.
I saw one fall, his forehead on the rock,
The helpless hand still clutching at the spade,
The slack mouth full of earth.

And he was dead.
His comrades gently turned his face, until
The fierce sun glittered hard upon his eyes,
Wide open, staring at the cruel sky.
The blood yet ran upon the jagged stone;
But it was ended. He was quite, quite dead:
Driven to death beneath the burning sun,
Driven to death upon the road he built.

He was no "hero", he; a poor, black man,
Taking "the will of God" and asking naught;
Think of him thus, when next your horse's feet
Strike out the flint spark from the gleaming road;
Think that for this, this common thing, The Road,
A human creature died; 'tis a blood gift,
To an o'erreaching world that does not thank.
Ignorant, mean and soulless was he? Well,-”
Still human; and you drive upon his corpse.

-” Philadelphia, 24 Juli 1900

Immer schön die Straßenverkehrsordnung beachten

"Der Fehler der RAF war weder die Anwendung von Gewalt noch waren es Kriminaldelikte, sondern ihr Fehler war die Niederlage im antiimperialistischen Kampf. Der RAF diesen Fehler zu verzeihen und die Mitglieder dieser Gruppe zu amnestieren haben die Grünen, die Friedensbewegten, der akademische Mittelstand, die Pfaffen, die Linken und der Rest allen Grund, in Erwartung des Strafgerichts nämlich, welches ihnen vorwerfen könnte, weder Atomkraftwerke noch Nachrüstung verhindert zu haben."

Gewalt und Politik, Wolfgang Pohrt, Die alte Straßenverkehrsordnung. Berlin, 1987. S. 7-19. Hier: S. 19.

Bewußtsein und der gewalttätige Charakter aller Politik

"In Ländern, wo die Bürger noch eine leise Erinnerung daran haben, wie sie selbst zur Macht gekommen sind [...] besitzt man ein relativ klares Bewußtsein vom gewalttätigen Charakter aller Politik. Man hat also keinen Grund, es zu verleugnen, daß der Staat ein Machtapparat mit Machtmittel ist; man hat keinen Grund, den Gewaltapparat als Kommunikationsgemeinschaft solidarischer Demokraten zu verkaufen. Unter der Voraussetzung nun, daß der Staat sich zur Gewaltausübung als seinem legitimen Recht bekennt, ist es auch legitim, seine Macht anzugreifen und erobern zu wollen. Legal ist der Versuch freilich noch lange nicht, und er ist mit beträchtlichen Risiken verbunden, weil der Staat wiederum das Recht besitzt, sich nach Kräften zu wehren. Obgleich der Versuch, das Gewaltmonopol des Staates zu brechen, überall mit mit äußerster Härte verfolgt wird, wird er doch nirgends so sehr wie in Deutschland als Todsünde empfunden, welche den Täter disqualifiziert als amoralisches Monster."

Wolfgang Pohrt, Amnestie, in: derselbe, Zeitgeist, Geisterzeit, Berlin 1986, S.159 f.

Veganes Boeuf Stroganoff de Luxe an Spätzle. Oder: Der Gesang der Vegetarier.

Kürzlich hatte ich Linguine mit Orangensauce und grünem Spargel gekocht und den Zusammenhang der Reproduktion und Konsumtion mit einem bekannten Zitat von Karl Marx aus dem "Kapital" zu beleuchten versucht. Auf Facebook gab es dazu auch eine interessante Diskussion. Da selbige nicht öffentlich ist: Erschreckend fand ich, wie wenig die "(...) Theorie zur ja stattgefundenen Produktion der Konsumtion bzw. Konsumtion als Produktion (Grundrisse) und darauf aufsetzend die Theorie des ganzen Reproduktionsprozesses der Arbeitskraft als Arbeit, als Reproduktionsarbeit (Federici), die in der überwältigenden Mehrheit von Frauen geleistet wird..." in der radikalen Linken kritisch reflektiert wird, oft sogar als "Privatproblem". Wobei man Marx Unrecht täte in der Annahme, er hätte das nicht auch beleuchtet, das Zitat aus dem Kapital zum Rezept ist ja nicht die einzige Stelle, an der er sich dem Problem zuwendet.

Allerdings, greift eben seine Auffassung zu kurz, wertschöpfende Arbeit eben nur als unmittelbar mit der Warenproduktion verbunden, Reproduktionsarbeit somit nicht wertschöpfend und damit auch nicht als Teil der kapitalistischen Akkumulation zu sehen.

Sondern es ist v.a. die ihm folgende Linke, die das Problem zumeist bis heute auch subjektiv gerne unter den Tisch fallen lässt. Oder wie die gerne (auch von mir selbst) zitierte Clara Zetkin sagte „In der Theorie sind die Genossinnen schon gleichberechtigt, in der Praxis aber hängt der Philisterzopf den männlichen Genossen noch ebenso im Nacken wie dem ersten besten Spießbürger.“ Die Auseinandersetzung wird von ihr selbst hier recht anschaulich beschrieben und sie gibt Hinweise darauf, wieso die feministische Revolution nicht nur objektiv "unerledigt" ist, sondern was für Auffassungen zu dessen Begründung im Grunde bis heute herhalten müssen.

An dem Text finde ich vor allem die Auseinandersetzung mit der Auffassung, eine "Befreiung" der Frau wäre im Hier und Heute ohne Umsturz der Klassenverhältnisse und im Grunde sogar deren Abschaffung möglich, wichtig. Wobei die Philister ja gerade daraus ihren St. Nimmerleinstag also deren Vertagung auf ein späteres Himmelreich ("...erst im Sozialismus, oder Kommunismus") ableiten.

Zetkin setzte sich auch mit einigen anarchistischen Auffassungen auseinander, die gerade eine Trennung der Reproduktion von der Bekämpfung deren Grundlagen forcierte. Diese ist bis heute in diversen Kreisen, die sich selbst einer "radikalen Linken" zuordnen, in ihrer Praxis aber vor allem in ihren subkulturellen vermeintlichen Freiräumen untereinander umherwabern, durchaus üblich.

Informierte LeserInnen ahnen schon, was jetzt unvermeidlich kommen muß: Ich grabe wieder einmal Erich Mühsam aus und setze ihn in die Volxküche. Seine Kritik am individuellen Moralismus, mit dem sich die „besseren“ Anarchisten von der Masse abgrenzen wollten, wurde im Gedicht, besser dem Trinklied "Der Gesang der Vegetarier" deutlich.

Mit Blick auf viele heutige Voküs oder deren Abspaltung wegen einer subjektiv "notwendigen" Abgrenzung vom "Volk" bzw. der angeblichen "bürgerlichen" Verwendung des Begriffes "Volk" in "KüfA", (wobei mir persönlich ersteres lieber ist, da ich mein Essen durchaus nicht mit "Allen" einnehmen möchte, also auch nicht mit dem netten Bullen / Kapitalisten / Nazi / sonstigem Arschloch von nebenan) - in einigen Strukturen ist auch heute nicht ganz unaktuell ...

Erich Mühsam (Fotografie aus dem Jahr 1928, kurz vor seinem 50. Geburtstag)

Der Gesang der Vegetarier

Ein alkoholfreies Trinklied
(Melodie „Immer langsam voran")
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.
Auch Früchte gehören zu unsrer Diät.
Was sonst noch wächst, wird alles verschmäht.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.

Wir sonnen den Leib, ja wir sonnen den Leib,
Das ist unser einziger Zeitvertreib.
Doch manchmal spaddeln wir auch im Teich,
Das kräftigt den Körper und wäscht ihn zugleich
Wir sonnen den Leib und wir baden den Leib,
Das ist unser einziger Zeitvertreib.

Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch
und die Milch und die Eier und lieben keusch.
Die Leichenfresser sind dumm und roh,
Das Schweinevieh -“ das ist ebenso.
Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch
und die Milch und die Eier und lieben keusch.

Wir trinken keinen Sprit, nein wir trinken keinen Sprit,
Denn der wirkt verderblich auf das Gemüt.
Gemüse und Früchte sind flüssig genug,
Drum trinken wir nichts und sind doch sehr klug.
Wir trinken keinen Sprit, nein wir trinken keinen Sprit,
Denn der wirkt verderblich auf das Gemüt.

Wir rauchen nicht Taback, nein wir rauchen nicht Taback,
Das tut nur das scheussliche Sündenpack.
Wir setzen uns lieber auf das Gesäss
Und leben gesund und naturgemäss.
Wir rauchen nicht Taback, nein wir rauchen nicht Taback,
Das tut nur das scheussliche Sündenpack.

Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.
Und schimpft ihr den Vegetarier einen Tropf,
So schmeissen wir euch eine Walnuss an den Kopf.
Wir essen Salat, ja wir essen Salat
Und essen Gemüse von früh bis spat.

Erich Mühsam: Ascona. Eine Broschüre. 2. Aufl. Locarno: Verlag von Birger Carlson 1905, S. 27f. DVA: B 50329

Nach der poetischen Kritik nun die vegane Praxis:

Boeuf Stroganoff de Luxe an selbstgemachten Spätzle

Ich habe diesmal statt der hier bereits von mir vorgestellten Variante mit Sojaschnetzeln einmal trotz der beschissenen Ökobilanz die von vielen gehypte Jackfruit und (nonkonform, aber wir wollen uns ja nix vorschreiben lassen) mit Spätzle als Beilage verwendet. Diese gibt es im gut sortierten asiatischen Supermarkt. Ich bevorzuge hier tiefgefrorene, junge Jackfruit, es funktioniert aber auch mit Jackfruit aus der Dose oder getrockneten. Diese müssen dann eben gut abgespült bzw. bei den getrockneten eingeweicht werden. Natürlich kann man statt dessen ruhigen Gewissens Sojaschnetzel oder Seitan nehmen.

Zu den Mengenangaben für 4 ordentliche Fresser:

Für das Boeuf:
500 g Jackfruit
2 mittelgroße Zwiebeln, in dünne Halbringe geschnitten
400 g braune Champignons, hauchdünn geschnitten
6 Gewürzgurken
500 ml Gemüsebrühe, kann nach Geschmack auch mit Gurkenwasser ausgetauscht werden.
250 ml "saure Sahne" 1
2 EL Palmfett zum Anbraten, weiter n.B.
125 ml Weißwein, z.B. Riesling, alternativ Zitronensaft oder besser einen feinen Balsamico.
Salz, Pfeffer
1 Handvoll glatte Petersilie, fein gehackt
etwas Mehl

Zubereitung:
Die entsprechend vorbereitete (auftauen, abspülen / wässern / einweichen) Jackfruit mit etwas Mehl bestäubt in einer ordentlich erhitzten Stahlpfanne (vergesst Eure Alu-Teflonpfanne, die bringt's nicht) in dem Palmfett scharf für ca. 3-4 Minuten anbraten, etwas Salzen und Pfeffern geht jetzt schon. Im Backofen bei 50-100° warm stellen. Das Wasser für die Spätzle zum Kochen bringen.

Die Pfanne nachfetten, die Zwiebeln hinzugeben und glasig werden lassen, dann die Pilze und die Gurken dazu geben. Mit etwas Mehl bestäuben und ständig gut umrühren, es darf nichts ansetzen! Nach 3 oder 4 Minuten mit Weißwein ablöschen, sobald diese auf die Hälfte reduziert ist mit der Brühe aufgießen und leise für ca. 10 Minuten weiterköcheln lassen. In der Zeit die Spätzle machen, sobald sie fertig sind zu den Jackfruit in den warmen Ofen zum warm halten dazu stellen.

Sobald die Spätzle fertig sind, wird das Boeuf montiert: Die "saure Sahne" und die Jackfruit dazu geben und mit Salz, Zucker und Pfeffer abschmecken. Kurz aufkochen lassen: Durch die Cashews und das Mehl dickt die Soße schnell ein, daher das Umrühren nicht vergessen!

Für die Spätzle:
300 Gramm 405er Mehl
150 Gramm Hartweizengrieß
4 El MyEi (oder 4 -5 Esslöffel Sojamehl, geschmacklich und von den Eigenschaften her ziehe ich MyEi inzwischen eindeutig vor)
1 Messerspitze Kurkuma (bei der Verwendung von Sojamehl oder für ein gelberes Ergebnis, falls gewünscht)
1 Tl Salz
1 Messerspitze gemahlener weißer Pfeffer
300 ml Mineralwasser (Plus / minus, nach Gefühl, der Teig muß "abreißen" oder Blasen werfen)

Zubereitung:
Die trockenen Zutaten in eine Schüssel geben, Mineralwasser nach & nach zufügen und dabei den Teig kräftig mit einem Holzlöffel (oder Küchenmaschine mit einem geeigneten Rührhaken) durchkneten. Der Teig sollte recht weich sein. Mit einer Spätzlespresse (oder über ein Spätzlesbrett schaben) in einen großen Topf mit kochendem Salzwasser drücken. Sobald die Spatzen auftauchen mit einem Schaumlöffel aus dem Topf holen und unter kaltem Wasser abschrecken. Spätzle anschließend warm stellen, dazu macht sich etwas Alsan o.ä. auf den Spätzle gazut, damit diese nicht aneinander kleben.

Servieren:
Die warmgestellten Spätzle ggf. in Alsan in einer (beschichteten) Pfanne schwenken, portionsweise auf den Tellern anrichten und dann das Boeuf in gleichen Teilen schön auf den Spätzle verteilen. Die gehackte Petersilie dazu und sofort servieren.

Dazu passt ein Riesling.


Anmerkungen:
1 Sour Creme, nach Jérôme Eckmeier: 150 g ungesalzene Cashewkerne mindestens 8 Stunden, am besten über Nacht in Wasser einweichen. Das Einweichwasser wegschütten. Die Kerne zusammen mit 1 Knoblauchzehe, 125 ml Wasser und dem Saft 1 Zitrone, Salz und frisch gemahlenem schwarzen Pfeffer fein im Mixer pürieren.
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