Skip to content

kritisch-lesen.de Nr. 44: Autoritär, elitär, reaktionär − die Neue Rechte

Foto: Johanna Brösel
Jahrelang befassten sich nur Wissenschaftler_innen, Fachjournalist_innen und Antifa-Nerds mit ihnen, heute kennen sie alle, die einigermaßen das Tagesgeschehen verfolgen: die Neue Rechte. Damit sind nicht einfach Rechte gemeint, die jetzt erst politisch aktiv werden, also „neu“ dabei sind. Die Neue Rechte machte sich von Frankreich ausgehend in den 1960er Jahren daran, rechtes Denken − zumindest in Westeuropa − zu erneuern. Sie orientiert sich ideologisch an der „Konservativen Revolution“ beziehungsweise dem Jungkonservatismus der 1920er Jahre. In Anlehnung an Konzepte der Neuen Linken fokussiert die Neue Rechte auf „kulturelle Hegemonie“; ihr Ziel ist die Hoheit über die herrschenden Diskurse, um so ein antiliberales und antiegalitäres Programm gesellschaftlich durchsetzbar zu machen.

Nachdem die Neue Rechte in Deutschland jahrzehntelang kaum sichtbar war, befindet sie sich seit dem Aufstieg der AfD im Aufwind − wenngleich die inhaltlichen Differenzen deutlich werden: Ihr Realo-Flügel setzt auf Parlamentarismus, will breite Schichten der Bevölkerung ansprechen, ihr Fundi-Flügel setzt hingegen auf Fundamentalopposition gegen diesen Staat. Diese Ausgabe sieht sich die Neue Rechte sehr genau an, ihre Entwicklungen, ihre Programmatik, ihre Verknüpfungen, ihre Differenzen.

Die nächste Ausgabe (Nr. 45) erscheint am 10. Oktober und wird sich im Schwerpunkt mit Selbst- beziehungsweise Basisorganisierung beschäftigen. Parallel denken wir schon über unsere 46. Ausgabe nach. Wir sind uns noch nicht sicher, aber Themen gibt es genügend: Linkspopulismus, 50 Jahre 1968, 100 Jahre Novemberrevolution, 200 Jahre Marx − und nicht zu vergessen 25 Jahre GZSZ.

Außerdem beachtet bitte: Wir suchen neue Leute für die Redaktion. Wer Interesse hat, unentgeltlich in der Redaktion des tollsten Rezensionsmagazins weit und breit mitzumachen, schaut sich unsere Ausschreibung an.

Und noch etwas: Gut ein halbes Jahr ist es her, dass wir unseren Spendenaufruf das erste Mal in den Äther geschickt haben. Und wir freuen uns, dass wir tatsächlich ein paar bereitwillige Spender_innen gefunden haben. Sei es mit einmaligen Zahlungen oder mit kleinen Daueraufträgen. Und was uns vor allem berührt hat, waren die vielen Komplimente, die uns zugesendet wurden. Ein riesiges Dankeschön!

Zum Schluss noch eine traurige Nachricht: Am 05. Juli 2017 ist unser langjähriger Genosse, Freund und Mitbegründer von kritisch-lesen.de, Fritz Güde, im Alter von 81 Jahren gestorben. Sebastian Friedrich hat einen Nachruf verfasst, den ihr im Folgenden lesen könnt. Seine Spuren weisen uns den Weg. Adieu, Genosse!

Zur Ausgabe 42

New Book by Mumia Abu-Jamal: Have Black Lives Ever Mattered?

"A must-read for anyone interested in social justice and inequalities, social movements, the criminal justice system, and African American history. An excellent companion to Michelle Alexander's The New Jim Crow and Ava DuVernay's documentary 13th." -”Library Journal, Starred Review

"I was fortunate to grow up in a community in which it was apparent that our lives mattered. This memory is the antidote to the despair that seizes one of my generation when we hear the words 'Black Lives Matter.' We want to shout: Of course they do! To you, especially. In this brilliant, painful, factual and useful book, we see to whom our lives have not mattered: the profit driven Euro-Americans who enslaved and worked our ancestors to death within a few years, then murdered them and bought replacements. Many of these ancestors are buried beneath Wall Street. Mumia Abu-Jamal's painstaking courage, truth-telling, and disinterest in avoiding the reality of American racial life is, as always, honorable."-”Alice Walker

"Prophet, critic, historian, witness . . . Mumia Abu-Jamal is one of the most insightful and consequential intellectuals of our era. These razor-sharp reflections on racialized state violence in America are the fire and the memory our movements need right now."-”Robin D. G. Kelley, author of Freedom Dreams: The Black Radical Imagination

"Mumia Abu-Jamal's clarion call for justice and defiance of state oppression has never dimmed, despite his decades of being shackled and caged. He is one of our nation's most valiant revolutionaries and courageous intellectuals."-”Chris Hedges, Pulitzer-prize winning journalist and author of Wages of Rebellion: The Moral Imperative of Revolt

"This collection of short meditations, written from a prison cell, captures the past two decades of police violence that gave rise to Black Lives Matter while digging deeply into the history of the United States. This is the book we need right now to find our bearings in the chaos."
-”Roxanne Dunbar-Ortiz, author of An Indigenous Peoples' History of the United States

In December 1981, Mumia Abu-Jamal was shot and beaten into unconsciousness by Philadelphia police. He awoke to find himself shackled to a hospital bed, accused of killing a cop. He was convicted and sentenced to death in a trial that Amnesty International has denounced as failing to meet the minimum standards of judicial fairness.

Mumia Abu-Jamal 2014
In Have Black Lives Ever Mattered?, Mumia gives voice to the many people of color who have fallen to police bullets or racist abuse, and offers the post-Ferguson generation advice on how to address police abuse in the United States. This collection of his radio commentaries on the topic features an in-depth essay written especially for this book to examine the history of policing in America, with its origins in the white slave patrols of the antebellum South and an explicit mission to terrorize the country's black population. Applying a personal, historical, and political lens, Mumia provides a righteously angry and calmly principled radical black perspective on how racist violence is tearing our country apart and what must be done to turn things around.

Mumia Abu-Jamal is author of many books, including Death Blossoms, Live from Death Row, All Things Censored, Writing on the Wall, and Jailhouse Lawyers.

"[Mumia's] writings are a wake-up call. He is a voice from our prophetic tradition, speaking to us here, now, lovingly, urgently."-”Cornel West

"He allows us to reflect upon the fact that transformational possibilities often emerge where we least expect them."-”Angela Y. Davis

Publisher City Lights Publishers
Format Paperback
Nb of pages 144 p.
ISBN-10 0872867382
ISBN-13 9780872867383

Warum Menschen sowas mitmachen - Neoliberales Denken und Handeln

Der Neoliberalismus macht auch vor dem Banalen und scheinbar Nebensächlichen, dem "Kleinen" und scheinbar Unpolitischen nicht halt. Der nachfolgende Text fragt nach den Formen, die der Neoliberalismus im Denken und Handeln der Menschen angenommen hat. Dabei stehen lebensweltliche und alltägliche Aspekte im Mittelpunkt. Der Text ist dem jüngst erschienenen Buch „Warum Menschen sowas mitmachen -“ Achtzehn Sichtweisen auf das Leben im Neoliberalismus“ entnommen.

Im Zeitalter des Privatfernsehens gibt es kaum etwas, das zu bizarr wäre, als dass es nicht in unsere Wohnzimmer flimmern könnte. So nahm der Sender Sat.1 im Jahr 2012 "The Biggest Loser" ins Programm, eine Art Castingshow. Dort treten schwergewichtige Kandidatinnen und Kandidaten mit dem Ziel gegeneinander an, möglichst viel abzunehmen. Durch körperliche Trainings, Motivationsgespräche, Kontrolle der Kalorienzufuhr, sozialen Druck und regelmäßige Wettkämpfe versuchen sie, dieses Ziel zu erreichen.

In der Ausgabe vom 18. Februar 2015 wurde ein 29-jähriger Kandidat namens Mark von seinem Trainer nach den eigentlichen Übungen zu einem Zusatztraining aufgefordert -“ nichts Besonderes. Der Grund: Mark habe in der Vorwoche zu wenig Gewicht verloren. Im Anschluss an das Zusatztraining erklärte der Kandidat in die Kamera: "[Der Trainer] betont immer, in mir steckt so viel Ehrgeiz, und ich soll auf jeden Fall meine Disziplin nicht hierlassen, wenn ich nach Hause muss. Daher bin ich natürlich froh, dass er mit mir -˜ne Extraeinheit gemacht hat. Es war anstrengend, hat aber Spaß gemacht." In dem Moment, in dem Mark von seiner "Disziplin" sprach, blendete die Regie die Information ein, dass Mark ein "Arbeitssuchender aus Wuppertal" sei.

Hier versucht jemand, gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden: Mark will abspecken -“ sicher nicht nur, um attraktiver zu werden, sondern auch, um seine gesellschaftliche Position und seine Chancen auf Erfolg und Glück in Beruf und Privatleben zu verbessern. Er unterwirft sich den Vorgaben seines Trainers und der Sendung. Er zeigt Selbstdisziplin, Ehrgeiz, Veränderungswillen, Engagement. Er strengt sich an. Er behauptet, "Spaß" bei alldem zu haben. Mit der Einblendung unterstellt die Sendungs-Regie zugleich einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und bisher angeblich mangelnder Disziplin. Dass sie "Wuppertal" als Herkunftsort nennt, dürfen wir wohl als Anspielung verstehen: Strukturwandel! Soziale Brennpunkte! Verlotterte Städte!

Arbeitswelt und Privatleben, Politik und Persönlichkeit fließen hier ineinander über. Das Millionenpublikum an den Bildschirmen lernt: Wenn Du etwas erreichen willst, musst Du Dich anstrengen. Du musst gesellschaftlichen Anforderungen entsprechen. Dabei kannst und sollst Du Spaß und Freude haben. Nur wenn Du etwas erreichst, wirst Du Anerkennung und Wertschätzung finden. Und zwar im Alltag und im Privatleben genauso wie im Beruf.

Deshalb hat schon diese banale Szene viel mit Neoliberalismus zu tun.

Neoliberalismus, das ist mehr als "nur" Politik, mehr als "nur" Wirtschaftstheorie und mehr als "nur" Ideologie. Er verändert Menschen, und Menschen verändern sich selbst, wenn sie im Neoliberalismus leben. Sie verinnerlichen und verkörpern dessen Regeln und dessen Anforderungen. Sie machen sich neoliberale Hoffnungen sowie Vorstellungen von "Gut" und "Schlecht" zu eigen. Ihr Weltbild, ihr Bild von sich selbst, ihre Auffassung von der eigenen Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft wird neoliberal -“ oftmals, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Wenngleich das jeweilige Ausmaß unterschiedlich sein mag: Der Neoliberalismus prägt jeden einzelnen Menschen -“ seine Überzeugungen, sein Denken, sein Wollen, sein Handeln. So etwa auch in der eingangs beschriebenen TV-Sendung "The Biggest Loser" und ähnlichen Formaten.

Neoliberalismus ist längst zur unhinterfragten Normalität geworden, ja sogar zur Grundlage von Lebensstilen. Der einzelne Mensch rückt dabei in einer sehr eigenartigen Weise in den Mittelpunkt: Er soll an Märkten und in der Gesellschaft eigenständig zurechtkommen -“ anstatt sich auf den Staat oder auf Mechanismen solidarischer Absicherung zu verlassen. Hier treffen eine marktextremistische Politik und marktextremistisches Denken und Handeln aufeinander. Eine häufig gebrauchte Floskel ist in diesem Zusammenhang die der "Selbstverantwortung": "Verlass-™ Dich nicht auf andere!" "Komm-™ selber klar!" "Mach-™ was aus Dir!" "Nutz-™ Deine Chancen!" "Glaub-™ an Dich!" "Lebe Deine Träume!" "Streng Dich an!" "Steh-™ grade für Dein Versagen!" Einige dieser Sprüche mag sicherlich auch "The Biggest Loser"-Kandidat Mark im Kopf gehabt haben -“ und angesichts der gedanklichen Verknüpfung seiner angeblich mangelnden Disziplin mit seiner Arbeitslosigkeit augenscheinlich auch die Regie der Sendung.

Die hier durchscheinenden Normen und Ansprüche sind die Kehrseite von Sozialabbau und wegbrechender gesellschaftlicher Solidarität. Man kann durchaus von einer "neoliberalen Moral" sprechen. Deren Handlungsanweisungen und Werturteile beziehen sich direkt auf die Rolle des einzelnen Menschen am Markt, ohne sich aber darauf zu beschränken. So sollen sich die Menschen in neoliberalen Gesellschaften rundherum marktkonform verhalten. Sie sollen sich also gegenüber den Erwartungen des Marktes (aber auch der Gesellschaft) als anpassungsbereit erweisen. Auch gilt es, sich unterwürfig zu zeigen: Die durch den Markt generierte Verteilung von Einkommen und Vermögen ist nicht zu hinterfragen oder zu kritisieren, sondern als "natürlich" und "gerecht" zu akzeptieren. Um Erfolg und Anerkennung zu erlangen, sollen sich die Menschen als aktiv und selbstdiszipliniert erweisen und dabei unternehmerisch und egoistisch denken und handeln. Um gegenüber seinen KonkurrentInnen die Nase vorn zu haben, gilt es, wettbewerbsfähig und innovativ zu sein oder zu werden.

Je schwächer soziale Bindungen werden und je geringer die soziale Sicherheit, desto wichtiger wird es für Menschen, der neoliberalen Moral zu folgen. Einerseits treibt sie dabei die Angst vor sozialem Abstieg, vor Missbilligung durch andere, bisweilen auch vor staatlichen oder gesellschaftlichen Sanktionen und Strafen. Andererseits treibt sie ein innerer Wille: das Streben nach Glück, das Bedürfnis nach Anerkennung und der Wunsch, Erfolg und Wohlstand zu erlangen und zu genießen. Beides geht oft Hand in Hand.

Die neoliberale Moral geht gleichwohl noch hierüber hinaus: Der Neoliberalismus und seine negativen Folgen brauchen Erklärung und Rechtfertigung -“ und Menschen, die an diese Erklärung und Rechtfertigung glauben. Missstände wie Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit und Verelendung sind immer zugleich gesellschaftliche Übel und persönliche Miseren. Sie haben eine gesellschaftliche und individuelle Seite. Im Neoliberalismus aber werden sie begründet und gerechtfertigt, indem die jeweiligen (positiven oder negativen) Lebenslagen auf selbstverantwortetes Denken und Handeln zurückgeführt werden. Gründe für Erfolg und Elend, für Teilhabe und Ausgrenzung liegen aus dieser Sicht stets beim einzelnen Menschen. Die neoliberale Moral vermittelt hierdurch zwischen dem Menschen und der Gesellschaft: Sie liefert Erklärungen und Rechtfertigungen, verknüpft Lebenslagen und soziale Gegebenheiten, verbreitet Denk- und Verhaltensweisen, weist soziale Rollen und Aufgaben zu.

Als zentraler Wert neoliberaler Moral gilt "Leistung". Dabei wird stillschweigend unterstellt, dass "Leistung sich lohnt". Je mehr Zeit, Kraft, Gedanken, Wissen, Fertigkeiten, Gefühle oder Konzentration jemand aufwende, desto höher falle am Ende die Belohnung dafür aus. Nun funktionieren allerdings weder Märkte noch Gesellschaften nach diesem simplen Muster. Auch die Neoliberalen wissen das. Der neoliberale Sozialphilosoph und Ökonom Friedrich August von Hayek etwa räumt ein, dass Anstrengungen in Marktwirtschaften oft genug nicht belohnt werden. Die Wirksamkeit von Märkten setze genau dies sogar voraus: Märkte geben durch Preise und Löhne den Menschen lediglich "Handlungsanweisungen", nähmen aber auf "Bedürfnisse und Verdienste" keinerlei Rücksicht. Eine Entsprechung zwischen Aufwand und Ertrag, zwischen Anstrengung und Belohnung gebe es folglich nicht und könne es nicht geben.

Dass es in diesem Sinne unverdienten Erfolg ebenso gibt wie unverdientes Scheitern, bleibt allerdings fernab theoretischer Überlegungen à la Hayek üblicherweise unausgesprochen. Stattdessen wird wieder und wieder die Falschbehauptung wiederholt, dass "Leistung sich lohnt". Verstärkt wird dies, indem jedem einzelnen Menschen die Verantwortung für seine Probleme zugewiesen wird: So gilt Arbeitslosigkeit als Schuld und Verantwortung der Arbeitslosen. So gilt Obdachlosigkeit als Schuld der Obdachlosen. Und nach dem gleichen Muster wird Kranken zunehmend die Schuld an ihrer Krankheit zugeschrieben, Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen die Schuld an ebendiesen, schlecht bezahlten ArbeitnehmerInnen die Schuld an ihren Niedriglöhnen, Übergewichtigen die Schuld an ihrem Übergewicht usw.

Die eingangs beschriebene Szene aus "The Biggest Loser" zeigt dies beispielhaft: Dort wird schlicht unterstellt, dass mangelnde Disziplin, fehlende sportliche Aktivität und eine zu hohe Kalorienzufuhr die Gründe für Marks Übergewicht seien. Nicht gefragt wird hingegen, ob Mark nicht eigentlich noch sehr viel tiefer liegende Probleme hat und ob dahinter nicht möglicherweise auch soziale Ursachen stehen. Dabei wären solche Fragen zuallererst zu stellen. Übrigens auch, weil Studien immer wieder zeigen, dass die zunehmende soziale Ungleichheit und weit verbreitete Armut mit immer häufigerem Übergewicht in der Bevölkerung einhergeht. Für seine Probleme aber wird einzig Mark verantwortlich gemacht; sie zu lösen gilt einzig als seine Aufgabe. Und er hat dies offenbar längst verinnerlicht.

Als Folge der neoliberalen Moral und um gesellschaftlichen Leistungsanforderungen gerecht zu werden, setzen sich die Menschen einer Art alltäglichem Dreischritt aus: Erstens thematisieren sie sich permanent -“ sie prüfen sich also ständig selbst im Hinblick auf eigene Defizite, Schwächen, Verbesserungsmöglichkeiten. Zweitens optimieren sie sich permanent -“ sie bemühen sich also, sich zu verbessern und Defizite sowie Schwächen zu überwinden. Drittens wird es ihnen zur permanenten Aufgabe, sich darzustellen -“ und damit andere auf sich und die eigenen neuen und alten "Stärken" aufmerksam zu machen.

Auch der "The Biggest Loser"-Kandidat Mark vollzieht den Dreischritt aus Selbstthematisierung, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung: In der eingangs wiedergegebenen Szene thematisiert er sich. Er meint, neben seinem Übergewicht auch seine mangelnde Disziplin als Problem festgestellt zu haben. Zugleich unterstreicht er, dass er diese Probleme angehe, sich also optimiere, sich anpasse: Er betont Ehrgeiz und Disziplin, er strengt sich an. Der Wille, sein Gewicht zu reduzieren, ist deutlich erkennbar. Auch "Spaß" behauptet er zu haben. Und all dies präsentiert er der Kamera und einem Millionenpublikum -“ er betreibt Selbstdarstellung.

Neoliberale Moral, neoliberale Ideen von "Leistung" und der neoliberale Dreischritt aus Selbstthematisierung, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung prägen sogar unseren scheinbar nebensächlichsten Alltag. Sie bestimmen unser Leben, manchmal bewusst, oft aber unbewusst. Sie zeigen sich, wenn wir Beziehungen und Kontakte vor allem deshalb pflegen, weil diese uns für andere Zwecke nutzen könnten. Sie zeigen sich, wenn Menschen über die angebliche "Unterschicht" schimpfen. Sie zeigen sich im Bildungswesen, das zunehmend auf Kompetenzen ausgerichtet wird, die sich bezahlt machen sollen, und das immer weniger Wissen vermittelt, mit dem wir uns die Welt erschließen. Sie zeigen sich, wenn Eltern ihre Kinder auf eine der immer zahlreicheren Privatschulen schicken, damit die Kleinen einen Startvorteil im Leben haben. Sie zeigen sich in Ratgeberliteratur und in esoterischen Angeboten, die den Menschen auf vielfältige Weise erklären, wie sie ein noch neoliberaleres Leben führen und ertragen können. Sie zeigen sich in unseren Vorstellungen von Fitness, Sport und Stars. Sie zeigen sich, wenn wir unseren Körper und unsere Persönlichkeit "verbessern" wollen. Sie zeigen sich, wenn deutschsprachige Rapmusiker sich als Beweis dafür inszenieren, dass Leistung sich lohne. Sie zeigen sich, wenn wir immer mehr Aspekte unseres Lebens elektronisch vermessen und dokumentieren. Sie zeigen sich in Sozialen Netzwerken wie "Facebook" oder "XING", die längst zu Plattformen der Selbstdarstellung und des Vergleichs mit anderen geworden sind. Sie zeigen sich im Fernsehen -“ von Castingshows über Seifenopern und Talkshows bis hin zum so genannten Reality-TV, in denen etwa Konkurrenzverhalten und "Selbstverantwortung" gepriesen werden. Und sie zeigen sich in der Art und Weise, wie wir kaufen und konsumieren. Diese Liste ist bei weitem noch nicht zu Ende.

Wie aber konnte sich der Neoliberalismus zu einem System aus Verhaltensregeln und Wertvorstellungen auswachsen, das die meisten Menschen unwidersprochen akzeptieren und verinnerlichen? Dieses Buch soll darauf Antworten geben. Es stellt kritisch die Frage, wie neoliberale Gesellschaften zu dem geworden sind, was sie sind. Es fragt nach den geschichtlichen Entwicklungen und gesellschaftlichen Mechanismen, durch die sich neoliberale Ideologien im Bewusstsein der Menschen verankern konnten. Es interessiert sich für die sozialen Gründe dafür, dass Menschen zu neoliberalen Subjekten geworden sind. Warum sie also zu Menschen geworden sind, die etwa marktkonform, wettbewerbsfähig, selbstdiszipliniert, anpassungsbereit, flexibel, egoistisch, aktiv, innovativ und unternehmerisch sind, sein wollen oder sein sollen; zu Menschen, für die Selbstthematisierung, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung eine selbstverständliche und alltägliche Freude sind oder zumindest sein sollen. Und schließlich fragt es nach den ideologischen Zusammenhängen, die hinter der Erklärung und Rechtfertigung gesellschaftlicher Missstände im Neoliberalismus stehen.

Auf diese Fragen gibt es nicht nur eine einzige richtige Antwort. Es gibt nicht die eine angemessene und umfassende Theorie, die uns über alle Aspekte des alltäglichen Neoliberalismus aufklärt. Eine solche wird hier auch keineswegs entwickelt. Stattdessen führt dieses Buch in das Denken einiger AutorInnen ein, in deren Arbeiten sich interessante Hinweise und ungewohnte Sichtweisen finden lassen, um wichtige Aspekte des Lebens im Neoliberalismus besser zu verstehen. Es führt ein in Überlegungen von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Richard Barbrook und Andy Cameron, Luc Boltanski und Ève Chiapello, Wendy Brown, Gilles Deleuze, Norbert Elias, Michel Foucault, Antonio Gramsci, Stuart Hall, David Harvey, Friedrich August von Hayek, Arlie Russell Hochschild, Eva Illouz, Naomi Klein, Karl Marx, Karl Polanyi, Andreas Reckwitz sowie Max Weber.

Quelle: Gekürzte und leicht ergänzte Fassung des zweiten Kapitels aus: Patrick Schreiner: Warum Menschen sowas mitmachen. Achtzehn Sichtweisen auf das Leben im Neoliberalismus. Köln: PapyRossa 2017. ISBN 978-3894386320, Euro 13,90.

Themenabend in Esslingen: Die Ungerührte - Die Auferstehung der Gisela Elsner

Veranstaltungsflyer
Grafik: © Oliver Grajewski
Gisela Elsner, geboren am 2. Mai 1937, galt in den 1960er Jahren als Star der bundesdeutschen Literaturszene. Für ihren Debütroman „Die Riesenzwerge“ erhielt sie internationale Anerkennung und viele Auszeichnungen. In ihren grotesk-satirischen Romanen und Erzählungen thematisierte die Autorin ökonomische, familiäre und gesellschaftliche Machtverhältnisse.

Einen besonderen Stellenwert in Gisela Elsners Werk nimmt die Aufarbeitung des Faschismus ein. Viele ihrer Bücher wurden zum Skandal.

Ab Anfang der 1980er Jahre geriet „die große böse Schwester der Jelinek“ zunehmend ins literarische Abseits.

Von Kritikern wurde sie oft auf ihre schrille, aber bewusst angelegte Selbstinszenierung mit teuren Kleidern und schwarzen Perücken reduziert; ihre Bücher wurden verrissen.

Im Mai 1992 nahm sich Gisela Elsner das Leben und geriet zunächst in Vergessenheit. Interesse an ihrer Person weckte erst wieder der Film „Die Unberührbare“, in dem ihr Sohn Oskar Roehler die letzten Monate im Leben seiner Mutter nachzeichnet. In den letzten Jahren wurde durch die Werkausgabe im Verbrecher Verlag auch wieder das Werk der Autorin bekannter.

Zum 80. Geburtstag und zum 25. Todestag von Gisela Elsner erinnert die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes -“ Bund der AntifaschistInnen Kreisvereinigung Esslingen in Zusammenarbeit mit dem Buchladen Die Zeitgenossen an diese bedeutende antifaschistische Autorin. In einem Themenabend stellt Jens David Leben und Werk Gisela Elsners von ihren ersten Erfolgen über ihr „Verschwinden“ bis zu ihrer „Auferstehung“ vor.

Die Veranstaltung findet am Donnerstag, 18. Mai, um 20 Uhr im Buchladen DieZeitgenossen, Strohstraße 28 in Esslingen statt. Der Eintritt ist frei.

Ein Buch für die einsame Insel in zwei Übersetzungen. Und zwei weitere Bücher.

Vordergrund: Hanser Ausgabe auf Dünndruckpapier
Hintergrund: Die illustrierte Ausgabe vom 2001 Verlag
Für mich gibt es kaum ein poetischeres Werk als Moby-Dick oder der Wal, dem wohl bekanntesten Roman von Herman Melville. (Besonders ans Herz legen möchte ich aber auch Bartleby der Schreiber, seine wie ich meine, beste Erzählung und dem Moby-Dick Vorläufer Weißjacke oder Die Welt auf einem Kriegsschiff).

"Kapitel 1

SCHEMEN

Nennt mich Ismael. Ein paar Jahre ist's her -unwichtig, wie lang genau-, da hatte ich wenig bis gar kein Geld im Beutel, und an Land reizte mich nichts Besonderes, und so dacht ich mir, ich wollt ein wenig herumsegeln und mir den wässerigen Teil der Welt besehen. Das ist so meine Art, mir die Milzsucht zu vertreiben und den Kreislauf in Schwung zu bringen. Immer wenn ich merke, daß ich um den Mund herum grimmig werde; immer wenn in meiner Seele nasser, niesliger November herrscht; immer wenn ich merke, daß ich vor Sarglagern stehen bleibe und jedem Leichenzug hinter hertrotte, der mir begegnet; und besonders immer dann,wenn meine schwarze Galle so sehr überhand nimmt, daß nur starke moralische Grundsätze mich davon abhalten können, mit Vorsatz auf die Straße zu treten und den Leuten mit Bedacht die Hüte vom Kopf zu hauen - dann ist es höchste Zeit für mich, so bald ich kann auf See zu kommen. Das ist mein Ersatz für Pistole und Kugel. Mit einer stoischen Sentenz stürzt Cato sich in sein Schwert; ich gehe still an Bord. Daran ist nichts Überraschendes. Von Zeit zu Zeit hegen fast alle Menschen, ob sie-™s wissen oder nicht, in etwa dieselben Gefühle für das Weltmeer wie ich.
Dort liegt nun eure Inselstadt der Manhattos, umgürtet mit Kais wie die Inseln im Indischen Meere mit Korallenriffen - der Handel umgibt sie mit seiner Brandung. Nach rechts und nach links führen euch die Straßen zum Wasser. (...)"

Herman Melville, Moby-Dick oder der Wal, Seite 33. Aus der Neuübersetzung von Michael Jendis, erschienen 2001 im Carl Hanser Verlag

Albert Camus über Sisyphos im Glück

Albert Camus, 1957
Fotografie: United Press International
Lizenz: Public Domain via Wikimedia
"Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Ebenso läßt der absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt, alle Götzenbilder schweigen. Im Universum, das plötzlich wieder seinem Schweigen anheimgegeben ist, werden die tausend kleinen, höchst verwunderten Stimmen der Erde laut. Unbewußte, heimliche Rufe, Aufforderungen aller Gesichter bilden die unerläßliche Kehrseite und den Preis des Sieges. Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muß auch die Nacht kennenlernen. Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr. Wenn es ein persönliches, Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit. Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Leben zuwendet (ein Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird. Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs -“ ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder.

Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphos uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."

Albert Camus - Der Mythos des Sisyphos

kritisch-lesen.de Nr. 42: Repression und Überwachung

Von KMJ aus der deutschsprachigen Wikipedia,
Lizenz: CC BY-SA 3.0,
Das Räderwerk der deutschen Sicherheitsorgane läuft auf Hochtouren. Räumungen und Hausdurchsuchungen in der Rigaer oder der Skalitzer Straße in Berlin, in der Hafenstraße in Hamburg und anderen Orten, verdeckte Ermittlungen in linken Gruppen, Strafverfolgung und Inhaftierung von Aktivist_innen wie zum Beispiel Ali, Cem, Balu, Aaron oder Thunfisch, die Durchsetzung des PKK-Verbots im Rahmen der „Terrorismusbekämpfung“ und so weiter und so fort. Darüber hinaus noch „Flüchtlingsströme dämmen“, die öffentliche Ordnung wahren (etwa durch die Vertreibung von nicht erwünschten Personen -“ Refugees, Wohnungslose, Erwerbslose -“ von prestigeträchtigen Plätzen) und ein möglichst umfassendes Überwachungssystem etablieren. Für Linke sind Repression und Überwachung nichts Neues. Die Kriminalisierung unserer Proteste und Strukturen gehört zum Alltag. Dennoch haben sich die Formen im Laufe der letzten Jahrzehnte stark verändert. Während beispielsweise im heißen Herbst '77 staatliche Repression noch sehr brachial und sichtbar war, haben wir es nun oftmals mit subtileren Methoden zu tun -“ und zwar auf politischer, gesellschaftlicher und technischer Ebene gleichermaßen. In dieser Ausgabe beschäftigen wir uns mit Dimensionen und Mechanismen von Überwachung und Repression und fragen danach, wie der Kontrolle und gewaltsamen Zurückdrängung durch den Staat heute begegnet werden kann.

Tragendes Element ist zunächst der immer offensiver vertretene Sicherheitsdiskurs. Kontrolle und Sicherheit werden als notwendige Schlüssel präsentiert, mit denen das Unheil der scheinbar allgegenwärtigen Gefahren eingedämmt werden kann. Die Methoden werden kaum hinterfragt -“ genauso wenig wie die Feindbilder. Hauptsache die öffentliche Ordnung bleibt bestehen. Dabei geben Organe des Rechtsstaats vor, objektive Instanzen zu sein, die die Bürger_innen gleichermaßen vor den immer (wieder) präsenten Gefahren schützt. Diese Gefahren liegen oft und nicht zufällig in einem diffusen „Außen" -’ die rassistische, wohlstandschauvinistische Feindbildproduktion hat Konjunktur. Mit dieser scheinbaren Unausweichlichkeit wird auch Repression als probates Mittel der Gefahrenabwehr gerechtfertigt.

Eine Methode dieser Repression ist die Überwachung. In technischer Hinsicht hat die digitale Revolution diese zu einem Kinderspiel gemacht und ist für Betroffene gleichzeitig kaum mehr zu durchblicken. Die Omnipräsenz von Überwachung durch Kameras, durch Drohnennutzung und Datenspeicherung et cetera bleibt dem Mensch oft verborgen. Gleichzeitig hat sich das Phänomen auch normalisiert: Der Aussage, wer nichts zu verbergen habe, habe von Überwachung nichts zu befürchten, wird oft zugestimmt. Mehr noch: Die Rufe nach zusätzlicher Kontrolle werden immer lauter. Pläne zur Komplettüberwachung von öffentlichen Plätzen erfahren hohe Zustimmung. Die Datenspeicherung und Ortung von Personen online nimmt zu. Immer wieder wird über Einsätze der Bundeswehr im Innern diskutiert, regelmäßig kooperieren Armee und Polizei und Soldat_innen unterstützen dauerhaft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei der Registrieung von Geflüchteten. Grenzen werden wieder dichtgemacht. Private Sicherheitsfirmen machen mit dem Geschäft Repression gutes Geld. Gefängnisse werden an Privatinvestoren übertragen, denen der Staat die angeblichen horrenden Betriebskosten fraglos überweist -“ während nach US-Vorbild Pläne dafür gemacht werden, die Haftanstalten in moderne Produktionsstätten nach Feudalprinzip umzuwandeln.

Vor diesem Hintergrund sind Strukturen von Gegenwehr und Solidarität besonders wichtig. Der Kriminalisierung und Verfolgung durch die Sicherheitsorgane heißt es, gemeinsam und organisiert entgegen zu treten. Unser Interview mit Michael Csaszkoczy von der Roten Hilfe sowie das Essay von Aktivist Sadiem Youssef zeigen dafür mögliche Anknüpfungspunkte auf.

Viel Spaß beim kritischen Lesen!
Zur Ausgabe 42

Buchtipp: Im Panoptikum des Datenkapitalismus

Lesenswert, via LabourNet:

"... Würden alle Bundesbürger täglich beim Nachhausekommen ihren Briefkasten aufgebrochen, die Post geöffnet, in die Wohnung eingebrochen und alle Sachen durchwühlt vorfinden, es gäbe sofort einen gewaltigen (medialen) Aufschrei und massive Proteste. Im Reich des Digitalen ist Vergleichbares gängige Praxis, doch es regt sich so gut wie kein Widerstand. Denn das Eindringen staatlicher und privater Akteure in die Intim- und Privatsphäre geschieht dort unfühlbar und ungreifbar. Von wem man wie und warum gelesen, gespeichert, berechnet und gehandelt wird, bleibt im Ungefähren und Fernen. (...) Zu Ende gedacht bedeutet dies: Wenn eines Tages keinerlei Verbrechen mehr begangen würden, weil die smarte Polizei jeweils schon eingreift, bevor sie passieren, gäbe es gar keine Möglichkeit mehr, gegen Gesetze zu verstoßen. Und im Umkehrschluss: Man könnte sich auch nicht mehr moralisch "richtig" verhalten, weil man es ja muss beziehungsweise das "Falsche" als Möglichkeit gar nicht mehr existiert. Wenn jegliches Abweichen von sozialen Normen und Gesetzen nicht mehr möglich ist, dann ist auch keine Entwicklung, kein Widerstand, keine Revolution mehr möglich. Das (paradoxe) Ergebnis der Erweiterung und Auslagerung menschlicher Fähigkeiten und (Arbeits-) Kraft in die Technik wäre die Selbstabschaffung, die Amputation - der Mensch als berechnetes und normiertes Produkt seiner selbst. Wir selbst wären die Roboter in einer von Eliten und Maschinen gelenkten Welt."

Beitrag von Philipp von Becker vom 1. Januar 2017 bei Telepolis (Der Beitrag basiert auf dem von Philipp von Becker 2015 im Passagen Verlag in Wien erschienenen Buch "Der neue Glaube an die Unsterblichkeit. Transhumanismus, Biotechnik und digitaler Kapitalismus", ISBN 9783709201640, Preis 17,40 EUR)

kritisch-lesen.de Nr. 41: Medien und Gegenöffentlichkeit

Foto: Continental Standard. Ausschnitt, Sommeregger, Cc-by-sa-3.0, GFDL

Die aggressiven Sprechchöre von Pegida und Co. haben sich in den letzten Monaten in das öffentliche Bewusstsein eingegraben. Und sie haben den hiesigen Abendlandverteidiger_innen ein zentrales Schlagwort geliefert, um sich in den Medien und der Politik zu positionieren: „Lügenpresse“. Journalist_innen sind neben Flüchtlingen das wichtigste Feindbild der Rechten in Deutschland. Linke wissen das -“ eigentlich. Sie wissen, dem Vorwurf der Lügenpresse haftet etwas Verschwörungsmythisches an, sie wissen, die Kampfparole von der Lügenpresse ist verkürzt, sie wissen, dass es sich die Gröhlenden auf den Straßen zu einfach machen.

Doch: In der Abwehr der rechten Medienverteufelung finden sich Linke schnell als Verteidiger_innen der bürgerlichen Medien wieder. Dabei ist linke Medienkritik seit jeher ein wichtiger Bestandteil in der Auseinandersetzung mit dieser Gesellschaft. Und sie ist notwendig: Kritische Stimmen in Bezug auf das deutsche Diktat gegen die griechische Bevölkerung kamen in der Mainstream-Presse fast nicht vor; gerade zu Beginn der Ukraine-Krise übertrafen sich öffentlich-rechtliches Fernsehen und die großen Tageszeitungen in der Dämonisierung Russlands; als die GDL streikte, wurde der GDL-Chef Claus Weselsky in bester kalter-Krieg-Rhetorik an den Pranger gestellt.

Aktuellstes Beispiel: Als aus Bautzen im September Berichte über Auseinandersetzungen zwischen Asylsuchenden und organisierten Rechten öffentlich wurden, schien für viele Medien die Sachlage klar: Flugs wurde aus Berichten der Polizei übernommen, dass die Gewalt von den jugendlichen Geflüchteten ausging. 20 von ihnen hätten, ohne Vorgeschichte, eine Gruppe von über 80 Rechten, viele von ihnen organisierte Nazis, angegriffen. In einem kritischen Kommentar zur Berichterstattung heißt es: „Die öffentliche Darstellung der Ereignisse in Bautzen grenzt an unterlassene Hilfeleistung und Anstiftung zum Pogrom. Sie deckt die eigentlichen Täter.“

Aber wie kann eine linke Medienkritik vor dem Hintergrund des aktuellen Medienwandels und unter zunehmend prekären Bedingungen überhaupt funktionieren? Einst verstanden viele Linke mit Lenin die progressive Presse als kollektiven Propagandisten, Agitator und Organisator. Doch die meisten linken Presseorgane sind heute „unabhängig" von konkreten Organisationen -“ und damit losgelöst von konkreten politischen Projekten. Das Internet verändert außerdem die Debatte um eine linke „Gegenöffentlichkeit“. Neue Medienakteure, die als Blogger_innen, Twitternde und Facebook-Aktivist_innen unterwegs sind, mögen kurzzeitig den engen Medienkorridor der bürgerlichen Medienlandschaft verlassen. Jedoch sollte einer Vereinzelung linker Meinungen ein starker, kollektiver Diskussionsprozess entgegengesetzt werden. Wie das funktionieren kann -“ vor allem unter Berücksichtigung prekärer Produktionsbedingungen -“ ist eine wichtige Frage und große Herausforderung für eine wirksame Gegenöffentlichkeit.

Kritisch-lesen. de möchte dazu beitragen, diese Diskussion anzuregen und weiter zu führen. Unsere 41. Ausgabe widmet sich deshalb dem Schwerpunkt „Medien und Gegenöffentlichkeit“ -“ und wartet wie gewohnt mit Interview, Essay und natürlich vielen Rezensionen auf. Viel Spaß beim kritischen Lesen!

Weiter

cronjob