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Bobby Sands über sich selbst

"Ein Tag in meinem Leben" - schrieb Bobby Sands in den H-Blocks von Long Kesh auf Toilettenpapier, mit einem Stift, den er in seinem Körper versteckt hielt.
(In einem Kassiber an den Armeerat der IRA vom 31.1.1981, aus den H-Blocks herausgeschmuggelt):

"Ich werde am 9. März siebenundzwanzig, also 9.3.54 geboren. Die Stella Primary School besucht und die Secondary in Rathcool. 9 Monate am Newtonabbey Tech. Dann als Lehrling bei einem Karosserieschlosser für 3 Jahre oder so. Ich war auch ein fantastischer Sportler. Als ich noch jung war, hab ich Fußball, Leichtathletik, Schwimmen und noch etwa zehntausend andere Sportarten gemacht. Aber ich war nie in einem Gaelic-football Verein. Übrigens habe ich für Willowfield Temperance Harriers (sehr protestantisch!) an allen wichtigen Laufwettbewerben im Norden für Jungs teilgenommen, nur zweimal war ich zu langsam und da haben sie mich geschnappt.

Das erste Mal wurde ich in Lisburn geschnappt. Ich war damals 18 und sehr naiv. Ich hatte eine "schlechte Zeit" in der Polizeikaserne und unterschrieb ein erzwungenes Geständnis. Verurteilt wurde ich Ende März, Anfang April 73 von Richter Higgins zu fünf Jahren wegen Besitz von 4 Pistolen, die dort versteckt waren, wo ich mich aufhielt (sie waren in keinem guten Zustand, deshalb kam ich so glimpflich davon). Die Dame des Hauses verkaufte ihre Seele für 300 Pfd. und haute ab nach England, vorher ließ sie die Briten ins Haus, um mir aufzulauern. (...)

Also, ich kam am 13.4.76 raus und lebte in Twinbrook mit Frau und Kind und wurde am 14.10.76 wieder geschnappt. (...) Ich wurde ins Verhörzentrum Castlereagh gebracht, wurde dort sehr schlecht behandelt, habe diesmal aber nur meinen Namen, Adresse und dass ich Arbeit suche , angegeben, ich habe nichts unterschrieben und nach 11 Monaten Untersuchungshaft (4 davon im H-Block) wurde ich zu 14 Jahren wegen vorsätzlichem Waffenbesitz verurteilt. Ich erkannte das Gericht nicht an. (...)

Die Verhandlung war eine Farce. Es gab einen Krawall, nachdem wir verurteilt worden waren, wir hatten nicht angefangen, die Wärter schlugen uns zusammen und drei von uns kamen in die Strafabteilung und ihnen wurden 6 Monate Haftverkürzung gestrichen.

Die ersten 22 Tage war ich in der Strafabteilung im Crumlin Road Jail, 15 Tage davon vollkommen nackt vor hunderten von Kriminellen. (...)

Mein Geburtstag wird wahrscheinlich in die spätere Stufe des Hungerstreiks fallen.

Was meine Familie anbetrifft: Meine Mutter und mein Vater sind wie alle Eltern, sehr verletztbar (...)

Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass ich sterben werde, ich spiele nicht den Draufgänger oder Egomanen. Ich bin sicher, ihr versteht mich (...)."

kritisch-lesen.de Nr. 2 - "140 Jahre Paris Commune"

Cover Ausgabe 2
Foto: © Jörg Möller
Heute erschien die zweite Ausgabe der Online-Rezensionspublikation kritisch-lesen.de. Schwerpunkt diesmal: Bewegung damals und heute zum 140 Geburts-/Todestag der Pariser Commune.

Das Bild zeigt den Ausschnitt eines Graffito in Paris heute. Diese Ausgabe soll 140 Jahre zurück reichen und die Geschehnisse um die Pariser Commune nachzeichnen. Zum Hintergrund: Nach der Niederlage Napoleons III und seiner Gefangennahme 1870 folgten zwei Oppositionsgruppierungen, die die Regierung Frankreichs in die Hände nehmen wollten. Zunächst die bürgerlich-republikanische Gruppe unter Adolphe Thiers, dann aber -“ zur allgemeinen Überraschung -“ erstmals unter proletarischer Führung, zumindest mit dem Anspruch, dem Proletariat zum Sieg zu verhelfen. Die Welt erlebte den tiefen Riss zwischen zwei Ideen von “Republik-: der Vorfriedens der Vorfrieden von Versailles, der die Diktatur der Bourgeoisie aufrechterhalten wollte gegen die Kämpfer_innen der Commune. Wer dabei gewann und wer verlor, ist inzwischen bekannt. In dieser Ausgabe soll es darum gehen, solche Revolutionär_innen sprechen zu lassen und mit diesen Erfahrungen der Geschichte einen Blick zu wagen in die Gegenwart und Zukunft revolutionären Widerstands.

Den Anfang machen Sebastian Friedrich und Andrea Strübe mit der Rezension zu der Geschichte und dem aktuellen Stand der autonomen Bewegung im deutschsprachigen Raum. Anhand des Bandes Perspektiven autonomer Politik wird die Vielfältigkeit, das Einnehmen verschiedener Perspektiven dieser Bewegung als Stärke hervorgehoben. Anschließend erinnert Fritz Güde in drei Rezensionen an Zeitzeug_innen jener Epoche und Ereignisse: Das Leben der Dichterin Louise Michel wird anhand ihrer Memoiren in ihrer aufbegehrenden und unbeugsamen Haltung gegen Herrschaft -“ auch in der Commune nachgezeichnet. Die Rolle des Malers Gustave Courbet, der umstrittenermaßen dem Realismus zugerechnet wird, und seine politische Motivation werden, auch in Bezug zu den Ereignissen, untersucht. Und schließlich die Memoiren eines Revolutionärs, kein direktes Zeugnis jener Tage in Paris, sondern des Fürsten Kropotkin im zaristischen Russland. Dabei geht es dem Rezensenten weniger um dessen theoretische Auseinandersetzungen, als um dessen Lebensbeispiel als Kämpfer der Revolution.

In der Rezension zu Bertolt Brecht vom Karlsruher Professor Jan Knopf zeichnet Fritz Güde dessen merkwürdigen Versuch nach, die Commune aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen, zumindest in der Art, dass er sie in der Neuauflage seines Buches zu Brecht plötzlich verschwinden lässt. In zwei weiteren Rezensionen fragt zum einen Dirk Brauner, warum es zum Empören den Appell Empört euch! braucht, findet jedoch die Rhetorik des sich in aller Munde befindenden Pamphlets nicht genug. Adi Quarti schildert in der Besprechung zu Identität von Jean-Luc Nancy, wie dieser die französische Debatte um Identität auseinandernimmt.

In dem Archiv-Beitrag zu Wir sind überall betont Adi Quarti den guten Über- und Einblick, den das Buch in die internationale globalisierungskritische Bewegung gibt. Gerald Whittle schließlich widmet sich dem Werk FAU: Die ersten 30 Jahre.

Der Ausgabe liegt eine Zeittafel bei, auf der die historischen Ereignisse vor 140 Jahren skizziert werden.

Abschließend sei noch auf unseren Newsletter hingewiesen. Wer immer rechtzeitig über die neuesten Ausgaben per Mail informiert werden will, sollte sich unbedingt mit Email-Adresse bei unserem Newsletter anmelden.

Viel Spaß beim (kritischen) Lesen!

BESPRECHUNGEN ZUM SCHWERPUNKT

Bewegte Blicke
ak wantok (Hg.): Perspektiven autonomer Politik


Im Sammelband wird umfassend und abwechslungsreich der Ist-Stand der autonomen Bewegung im deutschsprachigen Raum nachgezeichnet.
Von Sebastian Friedrich und Andrea Strübe | 28. April 2011

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Das „Flintenweib“ als Rächerin allen ungelebten Lebens
Louise Michel. Memoiren. Übersetzt von Claude Acinde


Louise Michel, nach ihrem Auftreten an den Barrikaden der Commune vom Bürgertum als pétroleuse verabscheut, vom Proletariat zur roten Jungfrau geheiligt, entzog sich bei Abfassung ihrer Memoiren beiden Festlegungen, um sich als Vertreterin des Lebensrechts alles Geschaffenen neu darzustellen und zu erfinden.
Von Fritz Güde | 28. April 2011

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Realismus - Ausweitung des Blickfelds
Georges Riat: Katalog: Gustave Courbet. Übersetzt von Caroline Eydam


Das Reale, welches Gustave Courbet aus dem Dunkel der Nichtbeachtung hervorzieht, entzieht sich jeder vorwegnehmenden Beurteilung - und allen Herrschaftsrücksichten.
Von Fritz Güde | 28. April 2011

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Memoiren eines Revolutionärs
Peter A. Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs. Band I und Band II


Die Erinnerungen Kropotkins sind zu weitreichend, um sie an dieser Stellenachzuerzählen - Anlass zur Würdigung bieten sie allemal.
Von Fritz Güde | 28. April 2011

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Brechts unterschlagene Commune

Bertolt Brecht: Leben Werk Wirkung (Suhrkamp BasisBiographien)

In der früheren DDR wurde die Commune von 1871 oft gerühmt, selten als Vorbild studiert. Konkrete Erinnerung störte. Was aber brachte Professor Knopf dazu, im freien Westen die Existenz der Commune von Brecht völlig zu verschweigen?
Von Fritz Güde | 28. April 2011

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WEITERE AKTUELLE BESPRECHUNGEN


Kritik der nationalen Identität
Jean-Luc Nancy. Identität: Fragmente, Freimütigkeiten

Jean-Luc Nancy untersucht die philosophische Tragweite der französischen Debatte um „nationale Identität“.
Von Adi Quarti | 28. April 2011

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Leider nur ein Hauch
Stéphane Hessel: Empört Euch!


Das Pamphlet "Indignez-vous!" (Empört euch!) sorgt derzeit für einige Aufregung, was verwundert, weil nichts Aufregendes geschrieben steht.
Von Dirk Brauner | 28. April 2011

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REZENSIONEN AUS DEM ARCHIV

Wir sind überall
Notes From Nowhere (Hg.): Wir sind überall: weltweit. unwiderstehlich. antikapitalistisch


Der globalisierungskritische Reader "Wir sind überall" stellt eine umfangreiche und ausführliche Einführung in dieses komplexe Thema dar.
Von Adi Quarti | 1. April 2007

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FAU: Die ersten 30 Jahre
Roman Danyluk/ Helge Döhring (Hg.): FAU: Die ersten 30 Jahre


Der Band beleuchtet die Geschichte der mittlerweile seit 30 Jahren bestehenden anarcho-syndikalistischen Freien ArbeiterInnen Union (FAU).
Von Gerald Whittle | 1. Dezember 2008

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Rechte Kleptomanie?

In diesem Sammelband finden sich neben profunden Analysen zu den vermeintlichen Übernahmeversuchen von Inhalten, Ausdrucksformen und Strategien seitens der extremen Rechten sehr ergiebige Ansätze für offensive linke Politik.
Die Übernahme von vermeintlich linken Themen, Codes und Strategien durch extreme Rechte ist kein neues Phänomen, dennoch scheint die Problematik in letzter Zeit innerhalb der Linken nicht nur durch sogenannte Autonome Nationalisten an Bedeutung gewonnen zu haben. Eine der umfassendsten und tiefgreifendsten Publikationen der letzten Jahre zu diesem Thema ist der im Herbst 2010 beim Unrast Verlag erschienene Sammelband Rechte Diskurspiraterien. Es handelt sich um den Reader eines im November 2009 stattgefundenen Colloquiums des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Doch nicht nur die Aktualisierung der dort gehaltenen Referate und die Ergänzung durch weitere Beiträge machen den Sammelband zu mehr als einer schlichten Tagungsdokumentation. Im Zentrum stehen Adaptionen, Umdeutungen und Deutungskämpfe von rechts. Dort werden Symbole linker Bewegungen genutzt und mit eigenen Aussagen verknüpft. Diese Operationen finden laut den Herausgeber_innen Regina Wamper, Helmut Kellershohn und Martin Dietzsch insbesondere auf drei Ebenen statt: Auf der inhaltlichen geht es um Deutungskämpfe in Themenfeldern, die traditionell links besetzt sind, auf der kulturell-ästhetischen um die Adaptionen von Codes und Symbolen und drittens um die Übernahme strategischer Optionen. Dieses weite Feld wird im Sammelband in 15 Beiträgen umfang- und kenntnisreich behandelt.

Kontext

Zunächst wird eine aktuell-politische Kontextualisierung vorgenommen. Neben der Strategiediskussion innerhalb der „faschistischen Weltanschauungspartei“ NPD (S. 39), bei dem der Kampf um die Parteispitze Anfang 2009 laut Martin Dietzsch vor allem eine Auseinandersetzung um taktische Optionen war, geht Helmut Kellershohn auf das Netzwerk des Jungkonservatismus im Umfeld der extrem rechten Wochenzeitung Junge Freiheit (JF) und dem Institut für Staatspolitik (IfS) ein. Hier zeigen sich ebenso unterschiedliche Positionen: Während das IfS-Umfeld auf den Aufbau einer Gegenelite setzt, ist die JF an dem Aufbau einer rechten Sammlungsbewegung interessiert. Sowohl bei NPD als auch JF und IfS sind die Differenzen im Wesentlichen strategischer Natur. Die gemeinsame ideologische Klammer ist der völkische Nationalismus. Christina Kaindl untersucht desweiteren die Zustimmung von extrem rechten Positionen und Parteien im Lichte von Krisenzeiten. Ihr Befund: Die extreme Rechte konnte aus der Krise keinen Profit schlagen, was daran liegt, dass die Lücke der Repräsentation für herrschende Parteien geschlossen wurde. Die Bevölkerung misstraue zwar den Banken mehr, baue aber zugleich mehrheitlich auf die Regierung. Eine mögliche Stärkung der Rechten stehe auch im Zusammenhang mit der Arbeit der politischen Linken. Diese müsse sich bemühen, „Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung jenseits der autoritären und nationalen Momente des Fordismus in einem neuen Projekt globaler Solidarität aufzuheben.“ (S. 52)

Mit den historischen Vorbildern befassen sich die folgenden drei Beiträge. Sabine Kebir zeigt die Kontinuität des Gramscismus von rechts am Beispiel von Napoleon III., Mussolini und Goebbels auf. Sie appelliert, für die Linke nützliche Begriffe, die von rechts vereinnahmt und übernommen wurden, nicht einfach aufzugeben, denn der „Kampf um Hegemonie ist auch Kampf um Begriffe“ (S. 76). Volker Weiss zeigt in seinem Beitrag, wie der Sozialismusbegriff nach dem Ersten Weltkrieg von Moeller van den Bruck und Spengler adaptiert wurde. „Sie okkupierten Begriffe des Gegners und brachten sie, versehen mit einer wesentlich anderen Bedeutung, wieder in den politischen Diskurs ein.“ (S. 95) Anhand der französischen Nouvelle Droite zeigt Volkmar Woelk, dass „verstärkt auf die nationalbolschewistischen Ideen aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zurückgegriffen wird“ (S. 113). In Deutschland würden sich extreme Rechte jedoch eher in der Tradition der NSDAP verorten, eine ideologische Trendwende hin zu nationalrevolutionären Ideen sei momentan auch aufgrund einer dünnen intellektuellen Personaldecke nicht zu erwarten.

Deutungen, Symbole und Aktionsformen

Rechte Interventionen in Gegendiskurse werden anhand dreier exemplarischer Themenfelder dargestellt. Renate Bitzan analysiert „nationalen Feminismus“ und wie von einer Minderheit innerhalb der extremen Rechten das Feindbild Feminismus aufgegeben und völkisch umgedeutet wird. Sie schlägt vor, den Feminismus-Begriff allgemein auf Herrschaftskritik zu beziehen, da sich somit Anschlussfähigkeit nach rechts minimieren ließe. Richard Gebhardt grenzt völkischen von linkem Antikapitalismus ab. Während letzterer idealtypisch eine „gebrauchswert- und bedürfnisorientierte Produktionsweise“ unter „universeller gesellschaftlicher Kontrolle“ fordere (S. 146), formulierten extreme Rechte einen anderen Antikapitalismus, den Gebhardt in acht Schlussfolgerungen zu fassen versucht -“ und zur Diskussion stellt. Auch in Sachen „Friedenspolitik“ versucht die extreme Rechte linke Themenfelder zu besetzen. „Frieden“ werde laut Fabian Virchow völkisch-nationalistisch, anti-amerikanisch und antisemitisch gefasst. Es werde auf die nationalen Interessen, Großraum- und Reichsideen und Militarisierung der Gesellschaft abgezielt. Die Wirkmächtigkeit rechter „Friedens“-Diskurse ließe sich zum einen durch ihre Dekonstruktion und durch „eine kritische Prüfung und Präzisierung manch linker Beiträge“ beschränken (S. 163). Die drei Beiträge zeigen, dass bei den Adaptionen vor allem Begrifflichkeiten entwendet werden, die Inhalte sich aber aus den vorhanden Traditionen und Wissensvorräten der extremen Rechten speisen.

Ähnlich verhält es sich auf der ästhetischen Seite, wobei hier erschwerend hinzu kommt, dass Zeichen mehr noch als Begriffe ver- und entwendungsfähig sind. Das lässt sich unter anderem am Phänomen der Autonomen Nationalisten (AN) festmachen, mit denen sich Lenard Suermann in seinem Beitrag befasst. Die Suche nach zeitgemäßen Ausdrucksformen der NS-Bewegung begann nicht erst mit den AN. „Vielmehr scheint die Fähigkeit, sich den Umständen gemäß anzupassen, seit dem Entstehen der NS-Bewegung ein -šMotor-˜ gewesen zu sein.“ (S. 189) Christoph Schulze und Regina Wamper zeigen am Beispiel der Hardcore- und Straight Edge-Bewegung, dass es sich häufig nicht um schlichte Vereinnahmungen seitens der extremen Rechten handelt. Vielmehr sei Hardcore nie eine genuin linke Kultur gewesen, auch wenn sich etwa Konzertgäste mehrheitlich politisch links verorten. Dennoch sei der sich isoliert entwickelte „Nazi-Hardcore völlig separiert von der Hardcore-Szene, Misch-Szenen sind nicht existent“ (S. 222). Anhand der marginalen „Konservativ-subversiven Aktion“ um Götz Kubitschek stellt Helmut Kellershohn exemplarisch dar, wie versucht wird, linke Protestformen anzuwenden. Hier wird nicht nur durch direkte Bezüge die Überschneidung von faschistischen und konservativ-revolutionären Begründungszusammenhängen im Sinne Marinettis, Benns, Jüngers und Co. deutlich.

Gegenstrategien

Ein besonderer Vorzug des Sammelbands liegt darin, dass nicht auf der Ebene von Analyse und Kritik verharrt wird, sondern im besten Sinne kritischer Wissenschaft dem Aktivismus Handwerkszeug angeboten wird. Regina Wamper und Siegfried Jäger schlagen als wissenschaftliches Projekt ein Forschungsprogramm zur Untersuchung von Völkischem Nationalismus (VN) in Mainstream-Diskursen vor. Ihre ausführliche Skizze habe eine Untersuchung zum Ziel, die häufige Beschränkung auf extrem rechte Diskurse zu überwinden, denn „Kernideologeme des VN finden sich (...) auch verbreitet in der Gesamtgesellschaft“ (S. 257). Abschließend kritisiert Jens Zimmermann das „Extremismuskonstrukt“ aus forschungspraktischer und -“logischer Perspektive. Er zeigt anhand einer Schrift von Uwe Backes, dass die Begriffsgeschichte des politischen Extremismus „durch eine willkürliche Setzung dessen [geschieht], was als extrem zu gelten habe“ (S. 265). In einem zweiten Schritt schlägt Zimmermann anhand einer Studie zum Globalisierungsdiskurs in der extrem rechten Zeitung Deutsche Stimme methodische Instrumente und theoretische Überlegungen für eine kritische Rechtsextremismusforschung vor. Diese müsse reflexiv sein, indem sich die Forscher_innen als Teil der gesellschaftlichen Praxis verstehen.

Den beiden Beiträgen vorangestellt wird ein Beitrag von Britta Michelkes und Regina Wamper. In Bezug auf die ästhetische Ebene verweisen sie auf die ständigen Auseinandersetzungen um Zeichen und ihre Deutungen. Es mag zwar sinnvoll sein, leicht vereinnahmbare Elemente aufzugeben, jedoch gebe es „keinen absoluten -šSchutz-™ vor Adaptionen und Umdeutungen“ (S. 252). Bezüglich der Inhalte machen die Autorinnen konkrete Vorschläge, ohne dabei Masterpläne oder gar Handlungsanweisungen liefern zu wollen. Es müsse zum einem darum gehen, Anschlussstellen zu verhindern, indem etwa nicht einem personalisierten Verständnis gefolgt werde, sondern die strukturellen Gegebenheiten zum Beispiel im Kapitalismus im Vordergrund stünden. Außerdem sollte Ein-Punkt-Politik vermieden und die Verschränkung von Herrschaftsdiskursen anerkannt werden. Durch die Betonung der Differenz von Rhetorik der extrem Rechten und deren faschistischer Praxis sei es überdies möglich, rechte Deutungsangebote zu dekonstruieren. Schließlich müssten offensiv linke Inhalte geschärft und nicht Themenfelder wie die „soziale Frage“ aufgegeben werden, weil sie etwa die extreme Rechte aufgreift.

Rechte Piraten und Chancen

In diesem profunden und sehr durchdacht konzipierten Sammelband wimmelt es geradezu von Anregungen für Theorie und Praxis. Allenfalls verwirrend erscheint der Titel. Diskurspiraterie ist eine Begriffsprägung des 2006 verstorbenen DISS-Mitarbeiters Alfred Schobert, der den Begriff 2005 in einem Beitrag über den französischen „neurechten“ Alain de Benoist verwendete. Schobert sprach damals von Beutestücken, die in einem Diskursmix untergebracht würden. Der Begriff kann durchaus kritisiert werden, bezeichnet Piraterie doch die feindliche Übernahme eines Kommandos über ein Schiff, also von Eigentum. Bezogen auf das Thema ist das problematisch. Zum einen hat die Wegnahme von Eigentum und das gleichzeitige Nichtanerkennen dessen gewisse subversive oder emanzipatorische Potentiale. Zum anderen gibt es keine Diskurse, auf die die Linke die Urheberschaft hat, vielmehr handelt es sich um ständige Deutungskämpfe von vorhandenen -“ für alle mehr oder minder zugänglichen -“ Diskursen.

Offensichtlich bergen gegenwärtige inhaltliche und ästhetische Modifikationen der extremen Rechten Gefahren.
Ein möglicher diskursiver Effekt der Auseinandersetzungen um Autonome Nationalisten und vermeintliche inhaltliche Überschneidungen liegt zum Beispiel in der Stärkung von extremismustheoretischen Positionen, was sich aktuell in der Debatte um die Demokratieerklärung bei der Verteilung von Geldern für Anti-Rechts-Projekte äußert. Außerdem ist nicht die Anziehungskraft für Jugendliche zu verachten, wenn die extreme Rechte ihr faschistisches Produkt als revolutionäres, modernes verkaufen versucht und sich an jugendlichem Mainstream orientiert. Wie auch in vielen Beiträgen explizit oder implizit angesprochen wird, ist jedoch insbesondere darauf zu achten, nicht auf rechte Deutungsangebote reinzufallen und Ästhetiken, Themenfelder oder Konzepte der extremen Rechten zu überlassen. Gelingt dies, werden Inhalte geschärft, Themenfelder intensiviert, Ausdrucksformen reflektiert und umfassend Herrschaftsstrukturen kritisiert. So kann sich aus einem vermeintlich problematischen Phänomen eine Stärkung für linke Perspektiven und Positionen entwickeln.

Regina Wam­per / Hel­mut Kel­ler­s­hohn / Mar­tin Diet­zsch (Hg.) 2010: "Rechte Diskurspiraterien: Strategien der Aneignung linker Codes, Symbole und Aktionsformen".
Edi­tion DISS Bd. 28. Unrast Verlag, Münster.
ISBN: 978-“3-89771-“ 757-“2. 287 Seiten. 20.00 Euro.

Erstveröfffentlichung von Sebastian Friedrich bei kritisch-lesen.de.

Der Höllensturz der GRÜNEN! Systemzwang oder Kult des Übermenschen?

Jutta Ditfurth zeichnet in genauester Aufzifferung die Entwicklung der Grünen vom Bosnienkrieg an nach. Sie eröffnet damit die Möglichkeit, nach den tieferen Gründen des Absturzes dieser Partei zu fragen.

Jutta Ditfurth hat einen großen Vorzug: Sie hat alles selbst miterlebt. Sie war schon bei den Bewegungen dabei, aus denen die Grünen erst erwuchsen. Umso tiefer sitzt verständlicherweise in ihr der Ingrimm, nachdem sie nach dreißig Jahren entdecken muss, was sich aus den Anfängen heraus entwickelt hat. Das Buch bedarf vielleicht eines Vorspanns für diejenigen, die all das als Geschichte erleben. Mitte und Ende der 1970er Jahre hatte meiner teilnehmenden Erinnerung nach große Mattigkeit die in Parteiansätzen zusammengetretenen Linken erfasst: KBW, KPD-Rote Fahne, Kommunistischer Bund und so weiter. Die Arbeiter der großen Fabriken trabten ungerührt ihren SPD-Bossen nach. Da war von den Ausnahmesituationen der Spontanen Streiks 1969 und 73 nicht viel zu machen. Dagegen häuften sich Auseinandersetzungen außerhalb der Fabrik in ganz Deutschland: Hausbesetzungen, Kampf gegen Ausbau der Atomindustrie, Startbahn West, um nur einiges zu nennen. Hinzu kam das Heraustreten der Arbeit aus den Hallen der Fabrik: Auslagerung, Lohnarbeit in der Form von Dienstleistung, Montageverleih begannen sich auszubreiten. In Zusammenfassung solcher Erfahrungen kam die mehr gefühlte als durchgearbeitete Erkenntnis auf, dass Klassenkampf sich zum großen Teil auch außerhalb der Fabrik abspielt. In der Auseinandersetzung um bezahlbares Wohnen, um Erholungsgebiete nach den Acht-Stunden, um Lebenschancen in einer mehr und mehr zugrunde gerichteten Welt.

Dass all das, was als neues Feld der Ausbeutung sich darbot und unter dem traditionellen Begriff der Natur zusammengefasst wurde, trug schon im Anfang zur Mythologisierung bei. Es gibt kein bewusstes, in sich gesammeltes Wesen namens Natur, das uns anschauen, ja ansprechen könnte. Was es freilich gibt, ist der zunächst unüberschaubare Zusammenhang der Einzeldinge, der Umstände, wie sie aufeinander einwirken. Das ließe sich karger, aber nicht gefühllos als Umgang mit den Ressourcen unserer Produktion und Reproduktion bezeichnen. Die gewählte Begrifflichkeit blieb auf jeden Fall hinter der marxistisch überlieferten an Präzision zurück. „Ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“ sollte nach der Formulierung des Gründungskongresses in Karlsruhe 1980 die neue Bewegung sein. Wie Jutta Ditfurth berichtet, wurde das, was in diesen vier Zielworten liegen sollte, nachher leidenschaftlich diskutiert. „Sozial ja, aber nicht sozialistisch“, hieß es bei einigen. „Gewaltfrei“ sollte bedeuten, man verzichte zur Durchsetzung seines Willens auf den Zugriff auf den leidensfähigen Körper des Mitmenschen, auch in Polizeigestalt -“ aber bei manchen auch, man lehne die Lösung eines jeden Problems zwischen Menschen durch die Staatsgewalt ab. Man sieht: Von Anfang an konnten sich Anarchisten mit halbmystischen Naturverehrern zusammentun. Aber nur verbal! Nur durch Herstellung immer größeren sprachlichen Scheins! Dies war der Ansatz aller Spaltungen und Abspaltungen.

Abfall vom Ursprung

Mit schärfster Genauigkeit listet Jutta Ditfurth die kleinen Einzelschritte auf, die in der grünen Bewegung von der Ablehnung der Atomtechnologie hin zum sogenannten Atomkompromiss in der Schröder-Regierung führten. Ein Kompromiss, der in Wirklichkeit vor der völligen Selbstauslieferung Merkel/Westerwelle das äußerste Zugeständnis an die vier größten Monopole der Energiewirtschaft Deutschlands darstellte. Das gleiche gilt für die beschleunigte Bewegung weg vom Pazifismus, welche schließlich hin zum Überfall auf Jugoslawien geführt hatte. Wenn auch in diesem Fall Fischers Ehrgeiz die Hauptrolle gespielt haben dürfte, lässt Jutta Ditfurth den kleineren Mithelfern und Mitschreiern nichts nach. Etwa dem markigen Kriegsgegner Volmer, der nach der Erhebung zum Staatssekretär seine Mit-Linken mit einem frisch entdeckten Pan-Serben besonders nervte, dessen Schrift von 1936 (?) angeblich durch alle politischen Umwälzungen hindurch -“ Bürgerkrieg, Tito-Zeit -“ die Unterdrückung aller Fremdvölker gefordert hätte und heute anerkannte Doktrin sei. Volmer und das Buch sind heute mit Recht vergessener als eine Scherbe der Gräber um Troja. Sie haben ihre Wirkung getan -“ die Völker Jugoslawiens gegeneinander gehetzt und auseinander getrieben. Die Wirkung blieb. Die Gründe bleiben vergessen.

In einem ganzen Kapitel („Krieg den Hütten“), wird dann der freudige Beitrag geschildert der Grünen zur gemeinsamen Lohnsenkungspolitik über Hartz IV der Schröder-Fischer-Regierung. Von den Nachfolgern in der Opposition keineswegs widerrufen. Aus den illusionären Anfängen entwickelte sich also etwas, das naturausbeuterisch, antisozial, atomselig auftrat und sich in der Verehrung der Staatsgewalt nicht genug tun konnte, wenn diese nicht gerade die eigenen Leute niederknüppelte.

Woher der Fall?

Es kann kein Zweifel sein, dass Jutta Ditfurth selbst einen Grund für die Gefügigkeit der angeblichen „Basisdemokraten“ gegenüber Fischer in der Tatsache sieht, dass viele jüngere Leute ohne langjährige sonstige Berufsausbildung ins Parlament gelangt waren -“ und sich preisgegeben sahen, wenn sie ihren Posten jetzt verlieren würden.

„Schröder verstand [beim Atomkompromiss, Anm. fg] seinen künftigen grünen Minister und sagte sinngemäß: Wenn er den Kernenergiegegnern deutlich mache, dass der Ausstieg komme, dann rücke die Frage nach dem definitiven Ende in den Hintergrund. Wer etwas werden wollte, verstand die Botschaft. Reihenweise kippten Positionen und Fristen. Die Realos gaben gern damit an: irgendein Restlinker revoltiert? -˜Wir schütten einfach Gold in seinen Rachen, das minimiert den Durchknallfaktor erheblich-™ prahlten sie (...).“ (S. 88)

Hier wird also die Vorstellung von Massenbestechlichkeit als sekundär wirksam angesetzt. Sicher nicht zu Unrecht. Nach dem gleichen Schema hatte Lenin die Arbeiter-Aristokraten entdeckt. Leute, die vom Gesamtkapital in bessere Situationen versetzt worden wären, daraufhin das Bestehende für erhaltenswerter gehalten hätten als alle Veränderungen und damit zum Bleiklotz am Bein der Organisation geworden wären. So einleuchtend und unbestreitbar das ist, kann es zur völligen Erklärung der Umkehr ursprünglich anders gesonnener Bewegungen nicht ausreichen. Einfach, weil es immer gerade unter den Bessergestellten welche gab, die -“ auch mittels verbesserter Kenntnisse -“ die herrschenden Zustände durchschauten und sich gegen sie wandten. Man denke nur an die führende Stellung der Drucker oder der Uhrmacher im neunzehnten Jahrhundert. Hinzugenommen werden muss als weiteres Motiv nach 1977 die zunehmende Ehrfurcht vor den gesetzlichen Regelungen. Keineswegs, weil sie als gerecht angesehen wurden. Einfach deshalb, weil sie bestanden, und weil die Hoffnung nach den nie geklärten Todesfällen in Stammheim geschwunden war, gegen die bewaffneten Durchsetzer des Bestehenden durchzukommen. Cohn-Bendit hat im vielleicht einzigen ehrlichen Bekenntnis seines Lebens zugegeben, dass er im Erlebnis der mörderischen Schlagkraft der französischen CRS vor Malville merkte, dass er auf diesem Weg zu viel riskiere. Der Weg von der Achtung der gesetzlichen Regelung zum Wunsch nach Setzung von eigenen Regeln aus der Regierungsposition darf nicht unterschätzt werden. Die neue gesetzliche Regelung über Partei und vor allem das Gesetzgebungsmonopol des Staates sollte dann als friedenschaffend gelten, wie jetzt gerade die Steinmeiers und ihre grünen Kollegen von damals betonen. Ihr Gesetz war friedenswahrend, das neue Merkels aber wirkt aufrührerisch. Und ist nach Ansicht dieser Theoretiker schon deshalb verwerflich.

Unvermeidlicher Personenkult?

Letzter und tiefster Grund des so tiefen Falls der Grünen ist wahrscheinlich der in uns allen anzutreffende Personenkult. Fischer, der Metzgersohn, ist nicht nur, wie Ditfurth an einer Stelle ausführt, die westliche Variante des Millionärs, der einmal Tellerputzer war. Sondern -“ viel eindringlicher -“ die des jugendlichen „Idealisten“, zu dem die Studienräte uns getrimmt hatten, zum reifen Mann, dem Realo, der jedes Verbrechen sorgfältig prüft, um es gewissenhaft erst dann zu begehen, wenn es sich nicht nur ihm allein, sondern auch der gleichgesinnten Gruppe als nützlich erweist. Nicht aber allen!

Problem dabei: Wir könnten ohne Personenfixierung wahrscheinlich gar nicht bis zum politischen Handeln kommen. Tatsächlich brauchen alle Gruppen, jedenfalls die mir bekannten, die Vormacher, die hochreißen und zugleich beweisen, dass sie, die die Vorschläge machen, zugleich Mut und Kraft haben, sie durchzusetzen. Man erinnere sich nur an die durchschlagende Wucht des Fotos von Dutschke auf dem Titelbild einer SPIEGEL-Ausgabe, wie er die Barrikaden überspringt. Insofern liegt in der Figur desjenigen, der einmal aufgerufen und hochgerissen hat, eine bleibende Gefahr. Man bleibt an ihr hängen und verzichtet im gegebenen Augenblick auf das Widerwort. Ist das einmal geschehen, der gute Augenblick verpasst, scheint es unmöglich doch noch abzuspringen.

Drei denkbare Gründe also, den Willen zum Anderen und zum Ändern unserer Welt erliegen lassen. Erstens Angst ums Fortkommen beim Ausstieg aus dem entgleisenden Zug. Zweitens Gesetzlichkeit, die die frontale Auseinandersetzung scheut und auf dem Weg der Gesetzesbeobachtung selbst zum Ziel kommen will. Und schließlich drittens der Personenkult, der es nicht schafft, auch der verehrten Person auf ihre Unehre, ihre unvermeidlichen Grenzen zu kommen.

Gibt es eine Chance, unterwegs nicht zu fallen und zu verfallen?

Wenn das so ist, verlieren Ditfurths mitgedachte Vorwürfe gegen den Weg der Grünen nicht ihr Gewicht. Cohn-Bendits gegenwärtiges Rotzen gegen seine lasch gewordenen Genossen, die den Krieg gegen den libyschen Staatschef scheuen, zeigen, wie verworfen und klebrig heute einer wirkt, der doch einmal unbestreitbar gewisse Verdienste hatte. Heißt aber das Ergebnis dann nicht mit Notwendigkeit: Jede geschichtliche auf Revolution ausgerichtete Bewegung verfällt nach gewisser Zeit zum schleimenden Reformismus? Meist, aber nicht zwingend dem fortschreitenden Alter der Akteure folgend. Auch die im Verborgenen arbeitenden und die aus den KZs befreiten SPDler hatten 1945 sicher anderes im Sinn als eine polierte Küchengarnitur namens Godesberger Programm!

Dem vorher Gesagten entsprechend müsste eine Organisation, die den revolutionären Willen in sich selbst aufrecht erhalten wollte, drei schwer zu Ende zu denkende Aufgaben anpacken:
1. Wie Jutta Ditfurth es für den Anfang der Bewegung richtig beschreibt, müsste das Besoldungsprinzip des Rätesystems brutal durchgesetzt werden. Bekommt jeder ohnedies nur einen Facharbeiterlohn, muss am Sessel nicht so kleben geblieben werden. Die drohende Arbeitslosigkeit für missliebige Ex-Politiker muss freilich weggedacht werden.
2. Es müssen Möglichkeiten gefunden werden, ehemals erkämpfte gesetzliche Möglichkeiten nicht aufzugeben, aber zugleich Formen zu entwickeln, in denen die Satzungen der bürgerlichen Gerichte nur die zweite oder dritte Rolle spielen. Der Vorschlag Inge Vietts der Herausbildung einer dem Staat unbekannten und unerkennbaren Organisation im Rahmen der Luxemburg-Veranstaltung der Jungen Welt wurde zu wenig beachtet, meiner Kenntnis nach gar nicht diskutiert. In der vorgetragenen Form halte ich ihn für unvollziehbar. Es müssen aber Formen verdeckter Arbeit überlegt werden können.
3. Das Schwerste: Die ehemals notwendigen Anführer müssen aus dem Herzen gerissen werden, ohne ihr Andenken zu vernichten. Und wären es Lenin oder Mao Zedong -“ sie werden aus einer Antriebskraft zu Hemmung und Ballast, wenn wir nicht über sie hinaus und ohne sie weiterlaufen können als sie es schafften. Jutta Ditfurth selbst hat wie wenige widerstanden. Sich dem Sog widersetzt. Also muss es möglich sein. Aber wie?

Jutta Ditfurth 2011: "Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun: Die Grünen"
2. Auflage. Rotbuch Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-86789-125-7. 288 Seiten. 14.95 Euro.

Zuerst veröffentlicht bei kritisch-lesen.de

kritisch-lesen.de gestartet

Heute startete nach monatelanger Vorbereitung das Projekt kritisch-lesen.de mit der Null-Ausgabe. kritisch-lesen ist eine Seite, auf der alle zwei Wochen Ausgaben mit Buchrezensionen zu verschiedenen Themenschwerpunkten erscheinen. Darüber hinaus werden in jeder Ausgabe auch aktuelle Besprechungen zu anderen Themen veröffentlicht. Laut Selbstverständnis geht es kritisch-lesen.de darum, linke Gegenöffentlichkeit zu stützen, aktuelle Diskussionen zu begleiten und im besten Fall anzuregen. Mehr Informationen zu den Motivationen und Zielen sowie einer Analyse zur Notwendigkeit von Gegenöffentlichkeit in Zeiten des Internets finden sich in dem Selbstverständnis.

kritsch lesen heißt handeln!

In dieser Analyse wird die Frage beantwortet, warum (noch) ein Projekt speziell für Rezensionen notwendig ist, wenn doch in unzähligen Publikationen Buchrezensionen erscheinen. kritisch-lesen.de geht es um „Gegenöffentlichkeit, unterschiedliche und erleichterte Zugänge, die Begleitung aktueller Diskussionen und direktes Handeln“. Speziell der letzte Aspekt macht Hoffnung auf ein interessantes, spannendes und wichtiges Projekt. Im Selbstverständnis heißt es:

"Wir wollen „kritisch“ sein, indem wir nicht übernehmen, was nicht vorher um- und umgedreht wurde. Wir wollen kritisch im Bewusstsein des Zeitverlaufs sein. In diesem Sinne wollen wir uns zwar auf die viele Annahmen von früheren Analysen beziehen, jedoch keine davon schlicht auf heute anwenden, ohne die Veränderungen zu beachten und mitzudenken. Die Vorstellung, im Schnellzug der Geschichte zu sitzen, die Zukunft gewiss in der Hand zu haben, führte und führt ins Elend. Wer meint, im Voraus zu wissen was sein wird, ergibt sich! „Kritisch“ erhält somit einen entscheidenden weiteren Sinn: Die Erfahrungen aus den Niederlagen der Vergangenheit sind zu bewahren, zu reflektieren -“ und weiterzugeben. Wir wollen nicht auf einem Gleis ohne Weichen eingreifen, sondern im Rundgang durch das Umfeld von herrschenden und linken Begriffen und Deutungen. Auf diese Weise wollen wir das Trümmerfeld der Gegenwart offenbaren als eines, in welchem die Produktionen und Überreste von Gewiss- und Sicherheiten zerstört werden müssen, um den Blick ins Freie zu schaffen. Somit wollen wir dem Begriff Kritik den Geschmack des Nörgelns, des grämlichen Sofahockertums nehmen, das sich mit nichts abfinden mag. Kritik in diesem Sinn verstehen wir als Breschenschlagen, als Aussicht schaffen, als Sich-Umblicken in einer Gegend, die altbekannt und doch völlig neu auftreten kann. Somit geht es uns nicht nur um kritisches lesen der reinen Theorie wegen. Wir wollen Handreichungen für die Praxis liefern, Werkzeuge für die Veränderung. Kritik ist deshalb nicht ohne Praxis machbar -“ wie Praxis nicht ohne Theorie denkbar ist."

Reichhaltiges Archiv

Wie der Einleitung von Ausgabe Null zu entnehmen ist, finden sich bereits zahlreiche Besprechungen aus dem stattweb-Archiv. Bei stattweb.de waren einige der Autor_innen von kritisch-lesen.de aktiv, bevor das Projekt im Juli letzten Jahres eingestellt wurde. In Ausgabe Null schöpfen die kritisch-lesen.de-Macher_innen aus dieser Fundkiste und präsentieren 15 hervorragende „alte“ Besprechungen. Es zeigt sich hier bereits das weite Feld, in dem kritisch-lesen.de agieren möchte. Neben einer Analyse zu den gesammelten Ausgaben der Weltbühne des Jahres 1932 finden sich Buchtipps wie "Autonome Nationalisten", „Bestrafen der Armen“ von Loïc Wacquant, „Tödliche Schüsse“ von Wolf Wetzel und vielen anderen. Aber auch Analysen von Büchern, die nicht explizit empfohlen werden, tauchen bei kritisch-lesen.de auf. Beispielsweise wird „Die Vier“ von Volker Zastrow zum Anlass genommen, um anhand der Stimmenverweigerung von vier SPD-Abgeordneten im hessischen Landtag angesichts einer damals geplanten Wahl Andrea Ypsilantis zur Ministerpräsidentin grundsätzliche Überlegungen zum Gewissen anzustellen. Laut Rezensent Sebastian Friedrich liegt „die große Erkenntnis aus der Lektüre von Zastrow“ darin, dass dieser „trotz aller Umständlichkeiten, vielleicht sogar gegen seine Absicht, das Heiligtum der Abgeordneten -“ das Gewissen -“ zerstörte“. Im Übrigen findet sich auch eine ältere Besprechung von Thomas Trueten bei den aufgelisteten Archiv-Besprechungen, bei der die Angriffe auf das Buch „Stuttgarter NS-Täter“ im Mittelpunkt stehen.

Vier neue Besprechungen

Außerdem wreden bereits in dieser Ausgabe vier aktuelle Bücher besprochen. Anlässlich der Wahlerfolge der Grünen am letzten Wochenende und einem voraussichtlich grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg hat sich Fritz Güde das Buch „Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun. Die Grünen“ von Jutta Ditfurth vorgenommen, in dem die Geschichte der Partei von anfänglichem Idealismus bis heutigem Pragmatismus kritisch nachgezeichnet wird. Ein weiterer - bereits vorab bei trueten.de veröffentlichter - Artikel widmet sich dem Kriminalroman „Wo die Löwen weinen“ von Heinrich Steinfest, der die Brisanz um das Thema Stuttgart21 in eine fiktive Geschichte einbindet. Auch zwei Publikationen aus dem Unrast Verlag werden in der Ausgabe besprochen. Zum einen wird der Sammelband „Rechte Diskurspiraterien“ aus dem Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung wärmstens empfohlen. In diesem Sammelband werden die Vielschichtigkeit der Adaptionen linker Codes und Inhalte von der extremen Rechten untersucht und Gegenstrategien entworfen. Zum anderen wird Gabriel Kuhns Einführung zur Straight Edge-Bewegung besprochen

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Aktuelle Ausgabe: http://www.kritisch-lesen.de/2011/03/kritisch-lesen-de-startet

"Der Jesuswahn" Lesung mit Heinz-Werner Kubitza

"Der Jesuswahn: Wie die Christen sich ihren Gott erschufen. Die Entzauberung einer Weltreligion durch die wissenschaftliche Forschung" heißt das Buch, aus dem Dr. Heinz-Werner Kubitza am Donnerstag, den 3. März 2011 um 20:00 Uhr im Club Voltaire, Frankfurt, Kleine Hochstraße 5, auf Einladung der Humanistischen Union liest. Der Eintritt ist frei.

Kubitza versteht sein Buch als einen Beitrag zur "Entzauberung einer Weltreligion durch die wissenschaftliche Forschung". Der promovierte Theologe hält die Bibel für das am meisten überschätzte Buch der Weltliteratur und Jesus von Nazareth für die am meisten überschätzte Person der Weltgeschichte.

Trotz aktueller Skandale um pädophile Priester oder prügelnde Bischöfe halten viele Menschen die Kirche noch immer für eine moralische Instanz. Andere glauben zwar nicht mehr an den christlichen Gott, halten aber die christliche Ethik für eine gute Sache. Doch was beinhaltet die? Entfaltet sie Menschenwürde und Toleranz - oder stehen die meisten der zehn Gebote für archaisch-inhumane Überzeugungen?

Kubitza streift den rachsüchtigen Gott des Alten Testaments, um ausführlich zu referieren, was sich nach fast zwei Jahrhunderten wissenschaflicher Forschung gesichtert über Jesus von Nazareth sagen läßt: Wer war er und was hat er gewollt? Und vor allem: was hat er nicht gewollt?

Anfahrt zum "Club Voltaire": Die Kleine Hochstraße zweigt ganz in der Nähe von der Alten Oper von der Fressgass' (offiziell: "Große Bockenheimer Straße") ab, zu erreichen mit der U-Bahn, Linien U 6 / U 7, Station "Alte Oper" oder mit der S-Bahn, alle Linien, Station "Hauptwache", dann 300 m zu Fuß.

23. Februar: Antifaschistische Proteste in Pforzheim und Lesung im Zinsholz

Flyer
Alljährlich gedenkt am 23. Februar die Stadt Pforzheim den Opfern, welche 1945 durch ein Bombardement der Royal Air Force auf Pforzheim starben. Dabei werden allerdings die Hintergründe des Bombardements systematisch ausgeblendet und eine Umkehrung der Täter-Opfer Zuschreibung geschaffen. Eine konsequente Aufarbeitung der Rolle Pforzheims im Nationalsozialismus findet nicht statt. So findet heute die alljährliche Fackelmahnwache des rechtsradikalen „Freundeskreis ein Herz für Deutschland“ (FHD) auf dem Wartberg statt.  Gegen den mit 100-200 Teilnehmern mittlerweile größten regelmäßigen Naziaufmarsch in Baden-Württemberg ruft unter anderem die Linksjugend [-™solid] Pforzheim zu einer Menschenkette auf dem gegenüberliegenden Berg auf, um den Opfern des Faschismus zu gedenken.

Zeit: Mittwoch, 23. Februar · 19:00 -“ 21:30
Ort: Kaulbachstraße Ecke Römerstraße, Pforzheim

Treffpunkt für eine gemeinsame Anreise ab Stuttgart: 16.45 h, Gleis 6


Cover
Ebenfalls heute wird Michael Dieter ab 20.30 Uhr im Zentrum Zinsholz aus dem Buch "Das Buch gegen Nazis: Rechtsextremismus - Was man wissen muss und wie man sich wehren kann" lesen. Dieses Thema ist nicht erst seit den Schmierereien im Schulzentrum Nellingen im letzten Jahr oder dem faschistischen Angriff auf einen Infotisch in Neuhausen wieder top aktuell.

Der Eintritt ist frei.

Das Buch:
"Das Buch gegen Nazis: Rechtsextremismus - Was man wissen muss und wie man sich wehren kann"
ISBN: 978-3-462-04160-6 
304 Seiten, Taschenbuch 
KiWi 1130 
Euro (D) 12,95 | sFr 22.90 | Euro (A) 13,40

Buchmesse 2011: "Lesen heißt wachsen" - "Leer es crecer"

Offizielles Plakat zur Buchmesse 2011
Foto: Feria Internacional del Libro, La Habana
Unter dem Motto "Lesen heißt wachsen" ("Leer es crecer") öffnen am 10. Februar die Tore der Internationalen Buchmesse Havanna. Bis zum 20. Februar präsentieren kubanische und internationale Verlage ihre Bücher dem interessierten Publikum. Im Anschluß reist die Buchmesse noch bis zum 6. März durch die Provinzen des Landes.

Die diesjährige Literaturschau ist dem Erzähler und Journalisten Jaime Sarusky Millar, Träger des Nationalpreises für Literatur 2004, sowie dem Philosophen und Essayisten Fernando Martínez Heredia, Nationalpreisträger für Sozialwissenschaften 2006, gewidmet. Geehrt werden zudem die Kulturen der Völker innerhalb der ALBA, der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas, sowie der 220. Jahrestag der haitianischen Revolution und damit die erste Erklärung zur Abschaffung der Sklaverei.

Während der zehn Tage wird auf dem Messegelände und in Havanna ein buntes und umfangreiches Begleitprogramm mit Buchpräsentationen, Diskussionsrunden, Ausstellungen, Theateraufführungen und Konzerten geboten. Eine der bedeutendsten Neuerscheinungen, die dort präsentiert werden, ist die von kubanischen Verlagen aufgelegte Edition "Alba Bicentenario" mit Werken lateinamerikanischer Autoren. Zu den ersten zwanzig aufgelegten Bänden gehören "Cuentos macabros" von Rubén Darío (Nicaragua), "De Cristóbal Colón a Fidel Castro. El Caribe, frontera imperial" von Juan Bosh (Dominikanische Republik) und der Jugendroman "Simón era su nombre" von Edna Iturralde (Ecuador). Die Edition geht auf eine Initiative des Instituto Cubano del Libro zurück.

Neben der "offiziellen" Präsenz der Bundesrepublik über die Buchmesse Frankfurt nehmen dreiundzwanzig deutschsprachige Verlage, Kuba-Solidaritätsgruppen und Gewerkschaftsgliederungen über das Berliner Büro Buchmesse Havanna mit eigenem Stand teil. Die deutsche Soli-AG "Cuba Sí" will während der Tage in Havanna nicht nur die eigene Arbeit vorstellen, sondern auch das 20. Jubiläum ihrer Gründung groß feiern.

Darüber und über die weiteren Erlebnisse und Begegnungen kann man nicht nur in der Tageszeitung "junge Welt" lesen, sondern auch in diesem Online-Spezial.

Athen: Wer sind die "Feuerzellen"? Sind ihnen die Brandbriefe zuzutrauen?

Mit großem TAMTAM ist der Prozess gegen eine ganze Anzahl von angeblichen Mitgliedern der "Verschwörung der Feuerzellen" in Athen angelaufen - und zwar nicht wegen einzelner Bomben und Brandbriefe, sondern wegen "Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung". Möglicherweise hat man von der RAF-Prozess-Fabrik in Stammheim gelernt: Taten sind immer schwer nachweisbar, Gesinnungen und daraus abgeleitete Zugehörigkeiten  leichter.

Da  außer Beschwörungsgesten gegen "Anarchisten" und feierlichen Verfluchungen über Wesen und Absichten dieser "Feuerzellen" herzlich wenig in Deutschland zu erfahren ist, soll hier aus einem Text von  September 2009 - also lang vor den verhandelten Anschlägen 2010 - berichtet werden. Was war zumindest damals die Motivation der Zellen?

Einige Auszüge: Zunächst geben die "Zellen" eine Übersicht: wie ist die gesamte gesellschaftliche Lage  Griechenlands- nach und in der Krise ab 2008 und unmittelbar vor den Neuwahlen?
Merkwürdiger Weise wird die "Krise" hier im Wesentlichen als eine Machination der Herrschenden behandelt, die bewusst eingesetzt wird, um die Leute bei der Stange zu halten. Dass die Krise die Herrschenden selbst an der Gurgel hält und schüttelt, wird in diesem Text nicht erwogen. "Zuallererst ist die Idee der Krise, mit  der wir permanent durch die Presse bombardiert werden, ein militärischer Befehl, ein Befehl, der einen gesellschaftlichen Alarmzustand vorschreibt. Die gesellschaftliche Angst, die vor dem Unbekannten der Krise Parade läuft, hat ihren eigenen,sehr ausgeprägten Geruch. Es sit der Geruch der Feigheit, der allem anhaftet,das die Bourgeoisie akzeptiert hat, all den Wünschen, die sie nie entdeckt haben,all den Erniedrigungen, auf die sie nie reagiert haben,all den Rollen, die sie vor den leeren Bühnen ihres bourgeoisen Fantasierens gespielt haben.Gesellschaftliche Angst hat auch ihre eigene Ausdrucksweise, sie ist rachsüchtig, kleinlich und konservativ" (Seite 319/320)

Es wird dann ausgeführt, inwiefern in der neueren Geschichte Griechenlands, aber auch in den USA immer neu die Krise als Drohgespenst eingesetzt wurde, um aus Verängstigten einen Block zu bilden.

Die Erklärung zur Niederlegung von zwei Bomben vor der Börse und vor einem Regierungsgebäude in Thessaloniki ergibt sich dann aus dieser Voraussetzung:  dem Zwangszusammenschluss der verängstigten Bürger muss etwas entgegengesetzt werden, das sich der öffentlichen Choreografie (Neuwahlen) entzieht und Spontaneität -Freiheit- signalisieren soll.

Warum Bombe gerade an diesem Ort? Weil dort die Polizeibewachung besonders dicht war. Wenn es an einer solchen Stelle gelingt...

Die erwartete Wirkung unter der Bourgeosie Thessalonikis und Athens ist erwartungsgemäß nicht eingetreten.

Interessant aber eine technische Nebenbemerkung zu den Begleitumständen der Bombenzündung. "Um Verletzungen zu vermeiden, haben wir einen Fernsehsender und die Polizei informiert". (Seite 321) Wenn das so ist, sollte es also im Wesentlichen auf den Schock ankommen, nicht auf die tödliche Wirkung.

Den "Zellen", denen heute der Prozess gemacht wird, werden hauptsächlich Briefbomben vorgeworfen. Jedem Krimi-Gucker ab zehn Jahren ist aber klar, dass unter keinen Umständen damit zu rechnen ist, dass Frau Merkel, die Lockenwickler noch im Haar, höchstpersönlich vor die Tür des Kanzleramts stürzt, um ihre Post noch auf der Treppe gierig aufzureißen. Normalerweise läuft so ein Brief, ob er nun tickt oder nicht, durch drei bis vier Hände, die alle eher abgesprengt werden als die einer Kanzlerin.

Das heißt, als ernst gemeinte Waffe gegen einen Staatschef oder nicht - wie schuldig auch immer - sind Briefbomben das untauglichste Mittel. Sie treffen notwendig andere, was jedenfalls nach dem Text vom September 2009 strikt vermieden werden sollte. Als bloßes Schreckmittel in aller Welt sind solche Briefe auch nicht brauchbar. Sie schrecken nach den ersten Probefällen zu wenig.

Sollte es möglich sein, dass - wie in anderen Fällen - sich die stets aktiven "Dienste" in die Organisation der "Zellen" eingeschlichen haben? Um europaweit das große Schreckens-Huch auszulösen?
Unmöglich wäre es nicht.

Auf jeden Fall - so subjektivistisch und damit auf lange Sicht falsch - die "Zellen" nach dem einzigen mir bekannten Text vorgehen, es ist unverantwortlich und im höchsten Grad leichtfertig von der deutschen Presse, nur dem Angstmachen zu dienen, nicht aber der Aufklärung. Ein wenig mehr wüsste man von den Mitgliedern der "Zellen" schon gern, als dass sie zur fluchwürdigen Gemeinde der "Terroristen" zu rechnen sind.

Der vorliegende Text ist entnommen einer neu herausgekommenen Sammlung von Texten aus der griechischen Bewegung. "Wir sind ein Bild der Zukunft - auf der Straße schreiben wir Geschichte: Texte aus der griechischen Revolte". Nach dem Vorwort nach September 2010 herausgekommen. Laika-Verlag. Edition Provo Band 1 / Karlheinz Dellwo.

Der Band enthält sehr viel Stimmungsberichte aus den Straßenkämpfen ab 2008 in Griechenland. Dazu wenige zusammenfassende theoretische Darlegungen. Nach erstem Eindruck lange nicht von der Geschlossenheit der "insurrection qui vient", aber immerhin nützlich für alle, die einen Blick hinter den Rauchvorhang der einschlägigen bürgerlichen Presse werfen wollen. Es wird darauf zurückzukommen sein.


Die Monkey Wrench Gang

Buchcover
2010 wurde der Kultklassiker "Die Monkey Wrench Gang" von Edward Abbey - illustriert mit 50 Zeichnungen von Robert Crumb - im Verlag Walde-Graf neu aufgelegt. In Zeiten, in denen die diversen Bestsellerlisten von esoterischen Ratgebern, allerlei Lehrbüchern zur Frage, wie man am stilvollsten Menschen umbringt oder Sachbüchern abgehalfteter Bundesbankvorstandsmitglieder überquellen, liest sich der subversive Roman eher ungewohnt. Die unterhaltsame Lektüre in Sachen "Ziviler Ungehorsam" hat zwar schon 36 Jahre auf dem Buckel und die Mentalität seiner Protagonisten entspricht einem scheinbar längst untergegangenen Menschenschlag - trotzdem: Eine lesenswerte und inspirierende Anleitung dafür, wie man im wahrsten Sinne des Wortes Sand ins Getriebe streuen kann.

Die Kernhandlung spinnt sich um 4 grundverschiedene Öko-Saboteure, einen Staudamm, der den Colorado River aufstaut und von verschiedenen Brücken. Und von ihrem verwegenen Plan, der Natur wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.

Der Finanzier des Quartetts, Doc Sarvis und seine praxisorientierte Lebensgefährtin Bonnie Abbzug fackeln nicht lange. Insbesondere bei Werbeplakattafeln, die regelmäßig in Flammen aufgehen, wenn die beiden in der Nähe sind. Der recht abgewrackt herumlaufende Vietnam-Veteran George Washington Hayduke III., träumt permanent von "Dynamit, Dynamit, Dynamit". Am besten von DuPont. Dann wäre da noch der von seinen drei Frauen selten gesehene Mormone Joseph Fielding "Seldom Seen" Smith. Er organisiert Bootstouren auf dem Colorado River. Bei einer solchen lernen sich die vier kennen.

Die netten Saboteure üben sich zunehmend professioneller in der endgültigen Außerbetriebsetzung von Baugerätschaften aller Art, allen voran den bekannten Baggern und Erdräummaschinen der Firma Caterpillar, bekanntlich der weltgrößte Hersteller von Baumaschinen mit Hauptsitz in Peoria, Illinois (USA). Die Maschinen der auch heute noch unbeliebten Firma zeigen sich unerwartet empfindlich gegen Ablassen von Motoren- und Hydrauliköl, gegen Sand oder Melasse im Tank ebenso wie gegen brennbare Flüssigkeiten. Nach eingehender Behandlung mit dem namengebenden "Monkey Wrench" - dem schweren Schraubenschlüssel - widersteht keines der auf üblichen Großbaustellen verwendeten Fahrzeuge und anderen Gerätschaften. Aber auch ganz ohne Werkzeug lassen sich Vermessungspfähle durchaus kreativ neu anordnen.

Unwissende LeserInnen erfahren durch die Lektüre, welche Tricks und Werkzeuge dazu nötig sind, und was man anstellen muss, um ein derartiges Fahrzeug zu starten. Überhaupt hat das Buch zahlreiche Tipps für zukünftige Saboteure auf Lager, die fernab von Northface oder Jack Wolfskin Lifestyle Trekking ein Überleben und Agieren unter schwierigen Bedingungen ermöglichen, vom Anlegen von Depots für Nahrungsmittel und Werkzeug, der Geldbeschaffung bis hin zum Fahrzeug- und Kennzeichenwechsel. Das Buch stand lange Zeit wegen dieser konkret dargestellten Sabotageakte in einigen US-Bundesstaaten auf dem Index und diente als Quelle der Inspiration für die 1979 gegründete radikale Umweltschutzorganisation Earth First!.

Der Gegenseite entgeht dieses anarchistische Treiben natürlich nicht. So entsteht aus einer zufälligen Begegnung mit einer selbsternannten Bürgerwehr - unter der Führung eines Mormonenbischofs der "Seldom Seen" Smith seit langem auf dem Kieker hat - die Jagd auf die Truppe. Während sich die Schlinge immer enger zieht, bleiben weltanschauliche Auseinandersetzungen nicht aus. Bei der Planung der Sabotage einer Eisenbahnbrücke entspinnt sich eine Diskussion, wie weit "Gewalt gegen Sachen" gehen darf.

"Die Massen"
spielen in dem Roman keine Rolle. Bedauerlich einerseits, erklärt sich das Handeln der Vier jedoch aus der offenkundigen Tatsache heraus, dass die Phase der Massenproteste bereits erledigt oder nicht wahrnehmbar ist. Wobei sich die Frage stellt: Wie denn auch in der dünn besiedelten Gegend im Grenzgebiet zwischen Arizona, Colorado, New Mexico und Utah, in der die Handlung angesiedelt ist? Und darin liegt einer der wesentlichen Unterschiede zu den gegenwärtigen Protesten hierzulande, seien es die Aktivitäten gegen Castortransporte, die gegen das Zwischenlager in Gorleben oder gegen Stuttgart 21. Nicht nur, dass hier es kaum einen Quadratkilometer ohne Wachtmeister gibt - auch die Möglichkeiten zur Vorbereitung, Durchführung und zur anschließenden Flucht unterscheiden sich doch zu sehr, als dass die Konzepte des Teams als Schema übernommen werden könnten. Trotzdem gab und gibt es mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, die Erfahrungen der radikalen Umweltbewegung auch hierzulande in direkte Aktionen umzusetzen von Blockaden und "Schottern". Ein Teil dieser spiegelt sich in der Geschichte der Startbahnbewegung der 80er Jahre wider.

Eindeutiger Vorteil des Quartetts ist denn auch die Weitläufigkeit der Landsschaft und die Abgeschiedenheit vieler der Ziele. Die Nutzung der geografischen Lage ist spätestens seit Clausewitz' Hinweisen im sechsten und vor allem siebenten Buch seines Werkes "Vom Kriege" - auch außerhalb des militärischen Kontextes - eine der Grundvoraussetzungen, die bei Protesten zu berücksichtigen sind.

Die personelle Unterlegenheit gegenüber dem Macht- und Staatsapparat kann durch kleine, flexible Einheiten überwunden werden - bewegte Menschen können trotz taktischer Unterlegenheit diese scheinbare Schwäche in Stärke verwandeln. Man muss den eigenen Kopf gebrauchen und das ist eine Stärke jedes einzelnen der Charaktere, die trotz mitunter aufkommender Zweifel an dem Bestreben festhalten, Bedenken den Bedenkenträger überlassen und konsequent handeln. Ein Prinzip, bei dem die vier auch diverse fleischliche und geistige Genüsse nicht zu kurz kommen lassen.

Das sehr ansprechend gestaltete und hergestellte Buch gehört daher - wenn auch nicht als konkrete Anleitung sondern vielmehr als äußerst unterhaltsamer Denkeinstieg - in die Hand jedes politisch aktiven Menschen.

"Die Monkey Wrench Gang"
Verlag Walde und Graf, Zürich 2010
ISBN-10 3037740159
ISBN-13 9783037740156
Gebunden, 472 Seiten, 24,95 EUR
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