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Christa Wolf gestorben

Christa Wolf, 9. März 1963
Bundesarchiv, Bild 183-B0509-0010-006 / Eckleben, Irene / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de (http:///www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], durch Wikimedia Commons
Christa Wolf ist - im Alter Goethes - dahingegangen. Ad plures ire, wie die Römer sagten. Zur Mehrzahl derer, deren Gedächtnis zugedeckt wurde. Es scheint angemessen, jetzt nach ihrem Tod noch einmal an die maßlosen Angriffe zu erinnern, die nach der Wende gegen die Schriftstellerin vorgebracht wurden. Allen voran seinerzeit Schirrmacher, der nach diesem Bravourstück als würdig befunden wurde, ins Herausgeber-Gremium der FAZ berufen zu werden. Nach allen inzwischen vollzogenen Quer- und Längszügen Schirrmachers darf das doch nie vergessen werden. Aus Anlass ihres Todes hier nochmal mein Beitrag auf stattweb.de zu ihrem 80. Geburtstag am 18.März 2009:

Christa Wolf im Rückblick: Viele verzeihen ihr großmütig, was das Beste an ihr war. Zum achtzigsten.


Arno Widmann, jetzt FRANKFURTER RUNDSCHAU, rühmt in seiner Würdigung ihres Lebenswerks Christa Wolf nach, dass sie gerade das aufgesammelt und zum Thema gemacht habe, was in der realen DDR unter die Räder des gewaltsamen Wegs zum Fortschritt gekommen sei. In sehr schöner und würdiger Form. Nur der, der die Auseinandersetzungen nach 1990 noch im Kopf hat, merkt, dass Widmann hier seine damaligen Vorwürfe weitgehend zurücknimmt. Widmann war damals taz-Redakteur und vom Kampagnen-Führer Schirrmacher in der FAZ ausdrücklich belobt worden, dass er als "Linker" mit ihm unterwegs sei.

Die damaligen Vorwürfe gegen Christa Wolf richteten sich im Wesentlichen auf das angeblich Subjektive, das prompt als deutsche Innerlichkeit verstanden wurde, die sich jetzt so in den Dienst des "stählernen Gehäuses DDR" stelle, wie es einst die Carossas und Miegels und Seidels betrieben hätten, um das Harte und Brutale des Faschismus von innen her auszupolstern, wohnlich zu machen. Von da aus wurde der Versuch Christa Wolfs, in letzter Minute die Selbständigkeit der DDR zu retten, als entprechende Verhaftung an ein -trotz allem- Unrechtssystem verstanden und unisono verurteilt.

Zum achtzigsten gebietet der Anstand Milde. Aber auch Nachdenken über dasjenige, "Was bleibt", um die damals so angegiftete kleine Schrift Christa Wolfs nicht auszulassen, die nach dem Mauerfall erschien, wahrscheinlich aber in großen Teilen schon in den achtziger Jahren entstanden ist.

Die einzige, die schon vor dem Fall der Mauer sich wirklich mit der Krise der DDR befasste, und zwar abzulesen in ihren literarischen Hervorbringungen, war Antonia Grunenberg. Sie brachte 1990 im Verlag Temmen eine Arbeit heraus, die sie nach eigenen Angaben ca. 85 zu Ende geschrieben hatte. "Aufbruch der inneren Mauer - Politik und Kultur der DDR 1971-1990". Darin analysiert sie an vielen Einzelbeispielen der Erziehungstheorie und der Literatur die Krise -eine Art Engführung- in die das gesamte System gekommen war. Und zwar so, dass eine recht erstarrte Form von Marxismus-Leninismus sozusagen als das Gewölbe ewiger Wahrheit über allen am Himmel stand, aber kaum jemand bewegte. Das Erstaunliche war wirklich bei Begegnungen vor und nach 89, wie wenig Marxismus als alltägliches Begriffsbesteck zur Erklärung von Geschehen zur Verfügung stand und herangezogen wurde.

Nach Antonia Grunenbergs Analyse wurde unter dem weiterbestehenden System des sprachlich reproduzierten Leninismus-Marxismus gleichsam eine zweite Ebene eingezogen: Arbeitsmoral. Arbeit und Produktion als höchste Norm. Teilweise kalvinistisch gedacht, teilweise utilitaristisch. Wie erhöhen wir die Gesamtproduktivität unseres Gemeinwesens, damit auch hier sich möglichst viele leisten können, was andere haben- vor allem die Westler?

Es trat genau das Gegenteil des Beabsichtigten ein: Arbeit und Produktivität, wesentlich nur in ihren Messzahlen -Geldwert und Planerfüllung- sichtbar gemacht, rissen niemand vom Hocker. In Loests "Es geht seinen sozialistischen Gang" wird das saturierte kleinbürgerliche Leben beschrieben, das in seinem Desinteresse an Politik und Dingen außerhalb der vier Wände täuschend dem des westlichen spießig gemachten Arbeiters glich.

Grunenberg zeigt dann an vielen Beispielen der Belletristik, wie -vom ZK und der Kulturleitung durchaus hingenommen- die privaten Probleme desjenigen in den Mittelpunkt treten, der mit Arbeitswelt nichts anfangen kann, mit der politischen Begriffswelt noch weniger. Typisches Produkt dieser Problembehandlung: Plenzdorfs: "Die neuen Leiden des jungen W." So sieht sie ebenfalls eines der bekanntesten Bücher Christa Wolfs aus ihrer früheren Zeit "Nachdenken über Christa W". Diese, die sich allen Erklärungsvesuchen entzieht, ist eine, die in kein Erklärungssystem hineinpasst: weder in eines, das sie erklären soll, noch in eines, das sie selbst zur Ordnung ihrer Welt und Umwelt entwerfen könnte.

Ein Grundtatbestand ist also unbestreitbar. Im Gegensatz etwa zu den Romanen der Seghers steht nicht mehr der kämpfende oder versagende Mensch bei Christa Wolf und ihrer mitschreibenden Generation im Mittelpunkt, der für die Durchsetzung und Bewahrung des Sozialismus einträte. Vielmehr wird, wie nebenbei gesagt in der West-Literatur auch, zum großen Teil das Strampeln der Individuen vorgeführt, die allein oder zu zweien sich wenigstens an eine gesicherte Ecke retten wollen. Antonia Grunenberg beschreibt das einfach -als ein Krisenmerkmal der DDR-Gesellschaft.

Die späteren Kritiker nach 89/90 sehen vor allem bei Christa Wolf einen Innerlichkeitskult, der Fluchträume des Seelenlebens eröffnet. Und eben, weil die Dichterin solche anbietet, wird ihr vorgeworfen, billigen Trost zu offerieren in einer Situation, die eigentlich zum Heraustreten aus der Privatheit, zur öffentlichen Auföehnung hätte führen müssen. Christa Wolf hätte als große Beschwichtigerin den schon bröckelnden Laden am Laufen gehalten. Das alles lässt sich aber auch ganz anders verstehen.

Träfe die nachträgliche westliche Deutung völlig zu, wäre die Beunruhigung in ZK und Kulturinstanzen durch Christa Wolf schwer verständlich. Gewiss, sie bekam ihre Preise. Sicher, man war nicht unfroh, schon aus Devisen- mehr noch aus Ansehensgründen, dass all ihre Bücher in Westdeutschland mit großem Erfolg verkauft wurden. Privatisiert wurde in tausend Publikationen. Das hätte am wenigsten gestört.

In Wirklichkeit gab es seit "Nachdenken.." Quengeln bis Streit über: Veröffentlichen - so nicht Veröffentlichen - Ändern. Nicht als gäbe es das im privatisierten Verlagswesen des Westens zwischen Lektor, Verlagsbesitzer und Autor nicht genauso. Es geht hier keineswegs um die beliebte Frage nach der Zensur. Es geht um den unbestreitbaren Tatbestand der Störung, des Gestörtseins der tonangebenden Kreise der DDR, solange diese bestand.

Ein kennzeichnendes, schon fast rührendes Beispiel bot der alte Girnus in einem Rückzugsgefecht, nachdem "Kassandra" erschienen war. Girnus, selbst langjähriger Herausgeber von "Sinn und Form", in der Frühzeit sogar Wolfs Unterstützer, klagte vor allem um die Herabwürdigung der Götter. Apollo zum Beispiel, werde da "Mäusejäger" genannt. (Smintheus- wir bekamen es beim Homer in der Schule auch nicht anders übersetzt). Bei Girnus ging ein Klageton durch seinen ganzen Essay: man hatte das Gefühl, dieser Apollo säße im Politbüro und würde von Wolf erniedrigt, nicht nur als Gott, sondern auch als Mann. Die Bedrohung des Maskulinen durch den stellenweisen Rückgriff ins Mutterrecht in "Kassandra" war kläglich zu spüren. Dies alles - schon ganz am Ende, und doch ein Zeichen, wie nah die angeblich ins Unpolitische abtauchende Christa Wolf der ganzen alten Politikergarde der DDR ging.

Wie war das möglich? Nehmen wir ein unverdächtiges kleines Prosastück "Störfall", in welchem synchron die Nachrichten aus Tschernobyl und die Hirnoperation eines Bruders behandelt werden. Dies ganz Private- der blühende Frühjahrsgarten, die Sorge um den Bruder- können nicht durchgehalten werden als nur private Regung. Das politische Versäumnis, die Katastrophe Tschernobyl für alle machen den gewünschten Rückzug in die Isolation des geretteten Ich unmöglich. Unmöglich aber auch ein Aussschreiten, eine Abwehr der gemeinsamen Gefahr. Hier setzt Christa Wolfs in den spätern Werken immer deutlichere Kritik der offiziellen Sprache als Herrschaftsmittel ein. Aus dem Radio dringen immer neue Deckwörter, verbale Hüllungen, die ungreifbar machen, was uns im nächsten Augenblick angreifen wird. Rückzug ins Private allein hätte den sozialistischen Seelsorgern in der DDR nichts ausgemacht. Aber der Nachweis der Unmöglichkeit eines solchen Rückzugs, auf den die Oberen die DDR-Bewohner doch gerade verwiesen hatten, musste beunruhigen. Die Abwanderungswilligen drängten drohend zurück.

Damit stoßen wir auf den Kern des Problems. Sozialismus ist ja nicht vom Himmel gefallen. Kann sich selbst auch niemals so darstellen. Der offiziellen Linie nach, ist er notwendige Folge der Aufklärung und damit der bürgerlichen Revolution. Er nimmt deren Fortschritte in seine eigene Bewegung auf und führt sie zu Ende. Innerhalb des überlieferten Fortschrittsglaubens ist Sozialismus die Krönung der Bestrebungen des ganzen Menschengeschlechts, und zwar so, dass alle Konflikte, die von altersher zerreißen und entzweien, in der neuen Gesellschaft im Prinzip als lösber erscheinen.

Brecht zum Beispiel hatte im "Kaukasischen Kreidekreis" die Uralt-Situation der zwei Frauen, die um ein Kind streiten, aus der Salomolegende der Bibel aufgegriffen. Der Streit wird so gelöst, dass nicht diejenige, die nur die natürliche Tat der Geburt beigetragen hat, das Kind erhält, sondern diejenige, die es in Sorgen und Gefahren Jahre lang aufgezogen hat und bewahrte. Das verknüpft sich mit dem gesellschaftlichen Streit zweier Kolchosen um ein Grundstück. Brechts optimistische These: so wie die zwei Kolchosen sich vernünftig einigen können im Sinne einer gemeinsamen höheren Produktion, so können in einer -vernünftigen- sozialistischen Welt die Menschen auch solche Konflikte lösen, die gar nicht primär okonomische Ursachen haben.
Das lässt sich freilich leicht auch als Anspruch an den Sozialismus lesen: wenn unser Sozialismus ein wirklicher ist, muss er ein solches Licht in die Welt werfen, dass er auch die Streitigkeiten weghebt, auflöst, die aus Zeiten stammen, lang vor dem Privateigentum und planmäßiger Produktion. So urtümliche wie die des Verlangens nach dem eigenen Kind, der Suche nach der verlorenen Liebe.

Genau die Frage stellt Christa Wolf in ihren späteren Büchern immer wieder. Schon in "Kein Ort nirgends" wird es zum Problem, wieso gerade Kleist und Günderode, die doch die Tendenzen des Jahrhunderts am schärfsten und deutlichsten ausfochten, von eben diesem Jahrhundert so begraben und erstickt wurden, dass sie sich beide den Tod gaben. Noch entschiedener in "Kassandra". Christa Wolf greift bis in die Urzeit zurück, ins Verhältnis von Frau und Mann, aber auch ins Überleben des ganzen Menschengeschlechts im Weiterführen des Kriegsbetriebs- von den verschollensten Zeiten her.

Ulbricht und Honecker waren ehrlichen Herzens nie müde geworden, als Humanisten als Erben aller fortschrittlichen Bewegungen der Menschheit aufzutreten. Genau das machte ihnen Christa Wolf streitig. Sie brach die Fortschrittslinie an der Spitze ab. Wie wenn, so fragt sie, die von Grunenberg richtig beschriebene Produktivitätskultur in Ost und West nicht genau dazu führte, dass nicht nur alles Erreichte zerfällt, sondern sogar die Grundlagen des Menschseins, auf denen alles aufbaut, einschließlich eines möglichen Sozialismus. Wenn die uns bekannte bebaute und bearbeitere Umwelt einfach wegsänke durch Fortschrittsbefangenheit und Krieg? Dann verschwände mit den Fragenden auch die Frage nach der richtigen Ordnung des menschlichen Produzierens samt der nach dem Eigentum.

Christa Wolf gräbt gleichsam unter den Fundamenten des als System verstandenen Sozialismus und zwar so tief, dass die Grundlagen auch des angestrebten Sozialismus als bedroht erfahren werden. Daher die Erschütterung im Osten. In Wirklichkeit war die im Westen nicht geringer. Vordergründig konnte man die Angriffe Schirrmachers und der seinigen nach 1890 verstehen als Abwehr des Aufrufs "Für unser Land", der damals mit allen Mitteln totgeschwiegen wurde, in Wirklichkeit eine Million Unterschriften bekommen hatte. Das kam erst heraus, als alles vorbei war. Auch wenn an Sozialismus im eigentlichen Sinn in diesem Augenblick nicht mehr zu denken war: Was wäre falsch gewesen an einer Verhinderung neuer deutscher Großmacht? Zumindest der Überfall auf Jugoslawien hätte ohne den Anschluss der DDR und der Hegemonie auf andere Staaten des Ostens schwer bewerkstelligt werden können.

Widmanns Text lässt aber noch einen weiteren Grund vermuten der großen Wutangst, die damals kultiviert wurde. Und damit der Abwehr einer nur vermuteten Forderung, die von Christa Wolf ausging. Widmann schreibt: "Die Zeit des Einverständnisses ist vorbei. Es ist wieder Zeit für Christa Wolf. Der Einzelne, der sich verraten hat, in den Jahren der großen gesellschaftlichen Versöhnung, als er den Genossen der Bosse wählte, als er glaubte, selbst für freedom and democracy in die Welt ziehen zu müssen, der wird jetzt wohl zu den Büchern der Christa Wolf greifen, die sich auch vertan hatte, als sie glaubte, vernünftig sein zu müssen im Dienste der Sache. Er wird das tun nicht auf der Suche nach jemandem, der immer schon wusste, was richtig und falsch ist. Ihn interessieren die Irrtümer der Christa Wolf, weil er gelernt hat, dass es ohne Irrtümer nicht geht und darum interessiert ihn, wie es mit ihnen geht."
An anderer Stelle noch ausführlicher und sinngemäß: wir waren fest entschlossen, uns die Rosinen aus dem Kopf zu picken, uns einzuordnen und die Welt zu nehmen, wie sie ist.

Jetzt aber erkennen wir, dass dasjenige, in dem wir Unterschlupf suchen wollten nicht weniger brüchig ist als damals die DDR. Und dass es -mit Christa Wolf- gilt, nach der Erschütterung des Fortschrittsglaubens, die Grundlagen zu sichern. Die Ausgangspunkte. Was heißt da schon sichern? Wenigstens die Fähigkeit bewahren, nach diesen Grundlagen zu fragen.

Quellen:
• Frankfurter Rundschau, 18.3.2009 Feuilleton: "Das richtige Leben"
• Antonia Grunenberg: Aufbruch der inneren Mauer/ Politik und Kultur in der DDR/ Edition Temmen, 1990

Rezension zum Handbuch "Soziale Bewegungen und Social Media"

Web 2.0 und soziale Bewegungen -“ ein Handbuch
Jonas Pohle

SBSMInformationen über die sozialen Proteste in Israel oder die "Occupy Wall Street"-Bewegung in den USA verbreiteten sich zuerst nicht über die klassischen Medien, sondern über das Internet, über Twitter, Facebook, das Fotoportal Flickr und das Videoportal Youtube. Wie diese "Social Media"-Instrumente für unternehmerische Zwecke in den Bereichen Marketing oder PR eingesetzt werden können, darüber gibt es mittlerweile Bücher wie Sand am Meer. Mit "Soziale Bewegungen und Social Media" hat der Wiener ÖGB-Verlag nun das erste Handbuch zum Einsatz sozialer Medien und Netzwerke für soziale Bewegungen veröffentlicht.

Die Herausgeber stellen ihren Anleitungen zahlreiche Fallbeispiele voran. Die Bloggerin Anne Roth beschreibt, wie sie zu ihrem Blog "annalist" kam, auf dem sie sich vorrangig mit den Themen Überwachungsstaat und Bürgerrechte beschäftigt. Alles begann nach der Verhaftung ihres Lebensgefährten Andrej Holm. Der Stadtsoziologe wurde unter dem Vorwurf, Mitglied der "militanten gruppe" zu sein, brutal verhaftet. Um ihn und seine Familie spannten die Geheimdienste ein dichtes Überwachungsnetz. Roth begann in ihrem Blog die Erlebnisse zu beschreiben und zu verarbeiten und stieß damit auf ein ernormes Interesse.

Als im Oktober 2009 das Audimax der Universität Wien besetzt wurde, war dies ein Startschuß für Studierendenproteste an anderen österreichischen, aber auch deutschen Universitäten, die von Anfang an über soziale Netzwerke weitergetragen wurden. Wolfgang Lieb, einer der Macher hinter dem Weblog nachdenkseiten.de, erklärt im Interview die Bedeutung von Gegenöffentlichkeit.

Daß es eben nicht ausreicht, eine gute Idee und eine Internetseite zu haben, wird am Fallbeispiel der Hungerlohnpartei-Kampagne von ver.di deutlich. Mit einer durchaus gelungenen Plakataktion im Vorfeld der letzten Bundestagswahlen prangerte die Gewerkschaft die ablehnende Haltung der Unionsparteien und der FDP gegen einen Mindestlohn an, fand aber im Internet und in sozialen Netzwerken so gut wie keine Reaktion. Hier fehlte die entsprechende Vernetzung.

Neben praktischen Ratschlägen für eigene Internetseiten und "Social Media"-Konten beschäftigen sich die Autoren auch mit grundsätzlichen Fragen wie Datensicherheit, Datenschutz und Umgang in der Netzgemeinde. In mehreren Beiträgen stellen Autoren Wege vor, wie sich Datensicherheit mit der Verschlüsselung von E-Mails und Dateien realisieren läßt. Dem Thema Videos, Mobilisierungsclips und Livestreams ist ein eigenes Kapitel gewidmet.

Mit diesem Band begibt sich der gewerkschaftliche ÖGB-Verlag auf neue Wege. Die Kommunikation der Autoren, die Diskussionen über die einzelnen Beiträge, das Korrekturlesen usw. liefen zum großen Teil über das Internet. Das komplette Buch ist auch kostenlos online abrufbar.

Die Nutzung von Facebook, Twitter und Co ersetzt nicht den Protest auf der Straße, gewinnt jedoch eine wichtige Bedeutung bei der Verbreitung von Informationen und der Mobilisierung. Wie das genutzt werden kann, zeigt das Handbuch auf.

Hans Christian Voigt, Thomas Kreiml (Hrsg.): Soziale Bewegungen und Social Media. Handbuch für den Einsatz von Web 2.0. ÖGB-Verlag, Wien, 2011, 396 Seiten, 29,90 Euro, ISBN: 978-3-7035-1462-3, www.sozialebewegungen.org


Quelle: junge Welt, 7.11.2011

kritisch-lesen.de Nr. 11 - "Debatten und Praxen des Anarchismus"

Am 1. November erschien die 11. Ausgabe von kritisch-lesen.de. Schwerpunkt diesmal: "Debatten und Praxen des Anarchismus".

Schwerpunktmäßig geht es in acht von insgesamt zwölf Rezensionen um Debatten und Praxen des Anarchismus. Die elfte kritisch-lesen-Ausgabe ist der erste Teil eines (vorläufig) zweiteiligen Schwerpunktes zum Thema Anarchismus. Er ist auch der erste Schwerpunkt, der überwiegend von Autor_innen aus dem Autor_innen- und Sympathisant_innen-Kreis (ASK) geplant und zusammengestellt wurde. Der zweite Anarchismus-Schwerpunkt -“ soviel sei vorweg verraten -“ wird im April 2012 erscheinen und sich mit „Zeugnissen“ des Anarchismus beschäftigen. Darunter verstehen wir (Auto)biografien, Memoiren, Werksammlungen, Tagebücher, etc. Die erste Anarchismus-Ausgabe beschäftigt sich mit vielerlei unterschiedlichen Debatten und Praxen des Anarchismus und ist ebenso pluralistisch und heterogen wie der Anarchismus selbst.

Den Beginn macht Sebastian Friedrichs Rezension Sehhilfe für Vielschichtigkeit des Anarchismus über das Buch Hier und Jetzt von Uri Gordon. Das Buch und die Rezension nähern sich der gegenwärtigen anarchistischen Bewegung im Kontext der globalisierungskritischen Bewegung von vielen verschiedenen Richtungen und Blickwinkeln. Weiter geht es mit einem zweiten Buch voll anregender Reflexionen zum Anarchismus in Theorie und Praxis: Regina Wamper stellt in Verteidigung des Anarchismus Überlegungen zu Gabriel Kuhns Buch Vielfalt -“ Bewegung -“ Widerstand an. Um dem Vergessen weniger bekannter Anarchist_innen entgegenzuwirken, hat der Wanderverein Bakuninhütte e.V. eine Gedenkschrift zu Fritz Scherer veröffentlicht. Sebastian Kalicha bespricht diese Schrift in Der Anarchist und der Alpenverein. Etwas theoretischer wird es bei Gabriel Kuhns Rezension Anarchismus Old School zu Hans Jürgen Degens Buch Das Paradies ist offen, in der Kuhn die Frage stellt, wie innovativ die in dem Buch dargelegten Gedanken tatsächlich sind. Eine historische und theoretische Abhandlung zum Anarchafeminismus -“ einem besonders wichtigen Thema in der anarchistischen Bewegung -“ findet sich in Der doppelte Kampf von Regina Wamper: Sie bespricht das deutschsprachige Standardwerk zum Thema von Silke Lohschelder, Liane M. Dubowy und Inés Gutschmidt. Gabriel Kuhns zweite Rezension Vorkriegsantifa beschäftigt sich mit einem historischen Thema des deutschen Anachosyndikalismus: der anarchosyndikalistischen Arbeiterwehr Schwarze Scharen, die gegen den Faschismus in Deutschland Widerstand leistete. Philippe Kellermann hat schließlich die bahnbrechende Studie zu Bakunins Konflikt mit Marx von Wolfgang Eckhart rezensiert, wobei er nach der Lektüre satter 1239 Seiten zu einer Reihe interessanter Schlussfolgerungen kommt. Wie dieser epochale Aufeinanderprall zweier unterschiedlicher Auffassungen des Sozialismus in einem anderen Teil der Welt tragische Realität wurde und welche Auswirkungen dies hatte, bespricht Sebastian Kalicha in seiner Rezension Bakunin versus Marx auf kubanisch.

Darüber hinaus hat die Redaktion vier weitere Rezensionen zu anderen Themen ausgewählt. Zunächst bespricht Heinz-Jürgen Voß in Vom Gay Pride zum White Pride den von Koray Yilmaz-Günay herausgegebenen Band „Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre -šMuslime versus Schwule-™“, in dem die Autor_innen am Beispiel Berlin rassistische Entwicklungen nachzeichnen, wenn etwa Kriege und Menschenrechtsverletzungen mit dem Kampf für Rechte von Homosexuellen und Frauen begründet werden. Anschließend richtet Fritz Güde anhand des Buchs Die arabische Revolution? von Bernhard Schmid den Blick auf Nordafrika und die Frage, wie sich die Lage dort fern von vorherrschenden Medienberichten darstellt. Adi Quarti geht in Gewalt und Nichtstun Slavoj Zizeks „abseitigen Reflexionen“ zu Gewalt auf den Grund. Schließlich kritisiert Fritz Güde in Entbeintes in Brühe Götz Alys Versuch, den deutschen Antisemitismus aus dem Neid zu erklären.

Wie stets an dieser Stelle: Wenn ihr immer rechtzeitig über die neuste Ausgabe informiert werden wollt, dann tragt euch gern in der Spalte rechts für den Newsletter ein, freundet euch mit uns bei Facebook an oder haltet einfach sonst die Augen auf.
Viel Spaß beim kritischen Lesen!

Hier gehts zur Ausgabe: http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/debatten-praxen-des-anarchismus/

Nordafrika: Alle verlangen umfassende Menschenrechte! Was davon werden sie kriegen?

Bernhard Schmid liefert mit "Die arabische Revolution? Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten" das Gegenteil einer Prophezeiung. Dafür eine umfassende Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Verhältnisse in Nordafrika, die den Abstand zwischen revolutionärem Anspruch und der Fesselung durch die sozialen Abhängigkeiten zu ermessen erlaubt.

Nächstes Wochenende gibt es eine erste Volksabstimmung in Tunesien für eine neue Verfassung. Dafür hat man Tunesien wieder aus dem Dunkel der Vergessenheit geholt. Wie weit die Schilderungen der gleichen Verhätnisse dort auseinandergehen, mögen zwei Artikel der FAZ der letzten Woche und dieser zeigen.

Der Autor schildert die Region der Phosphatbergwerke, in der alles angefangen hat. Sein Ergebnis: Es blieb alles, wie es war. Dieselben Bosse, die gleichen Löhne - sogar relativ hoch im Vergleich zu noch anderen Gebieten - die gleiche Umweltverödung - die gleiche hohe Arbeitslosigkeit, vor allem für besser Ausgebildete.

Dagegen am heutigen Dienstag im gleichen Blatt ein hoheitsvoller Blick - sehr von oben - auf die gesamtgesellschaftliche Lage im Land. Leider nur nach der Kindle-Ausgabe zu zitieren."Etliche Unternehmen sind nach der Verjagung des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali im Januar von Unruhen heimgesucht worden.Es kam zu Streiks und Sachbeschädigungen, die von Forderungen nach Lohnsteigerungen und besseren Arbeitsbedingungen begleitet wurden." So das kühle Fazit. STREIKS werden als Unglücksfälle angesehen, die in einer Revolution an sich nichts zu suchen haben, nicht als die notwendigen Vollzugsformen einer kollektiven Bewegung.

Wie war es früher? "Regelmäßige Abwertungen des Dinar hielten neben niedrigen Löhnen die Kosten für ausländische Investoren in Grenzen"
Und die Aussichten, nach Meinung des gegenwärtigen Finanzministers? "Am Konsens einer unternehmensfreundlichen Politik wird nicht gerüttelt werden...Wir glauben aber,dass in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres der soziale Druck nachlässt, dann können wir zu schwierigeren Reformen übergehen". Wozu dann überhaupt noch abstimmen, wenn die vorher und nachher Herrschenden alles so gut in der Hand haben.

Und wozu noch nach dem Ergebnis der Abstimmung nächster Woche fragen? Nach dem, was uns der Artikel vom 18.10. zu verstehen gibt, ist alles schon gelaufen. (Alle Zitate nach FAZ-Kindle: Christian Schubert/ Hohe Erwartungen an den tunesischen Frühling)

Bernard Schmids Aufstellungen

Bernard Schmid ist einen anderen Weg gegangen. Er übersieht das ganze Gebiet Nordafrikas von Algerien bis hin zu Ägypten.Er fragt konsequent, aber ohne Sympathie-Übertreibung, nach den Chancen der Unteren, dem Begriff einer wirklichen Revolution nahezukommen. An Stelle der von anderer Seite bevorzugten Prophezeiungen sortiert er nach Einfluss-Mächten. In Kapitel 2 geht er der Rolle der Gewerkschaften nach und zugleich der Bewegungen, die gewerkschaftsunabhängig vorgingen.Sehr wichtig in Kapitel 3 die Analyse der möglichen Rolle der sogenannten "Islamisten". Dann wird nachgegangen der "facebook" Legende. Der Behauptung nämlich, die Gesamtbewegung habe vor allem - und mehr oder weniger ausschließlich - Blogs, Network, Facebook und dergleichen als Grundlage. Dann richtet sich der Blick auf die Rolle der diversen einheimischen Staatsgewalten mit ihren verschiedenen Versuchen, das Ruder in der Hand zu behalten - oder es gleichgesinnten Brüdern weiterzureichen. Sehr wichtig dann die Eingriffe der USA und der EU -rhetorisch, militärisch, propagandistisch. Zwei letzte Kapitel fragen dann nach dem Einfluss der ganzen Bewegung auf Israel und Palästina und nach den mehr oder weniger gewaltsam zurückgeschlagenen Auswanderungsversuchen aus Libyen und Tunesien, nachdem die ursprünglichen Rückhaltungsverträge mit den dortigen Grenzpolizei-Verfügern zwischendurch sich gelockert hatten.

Islamisch orientierte Parteien

Am aufklärendsten vielleicht in Bernard Schmids Buch die genaue Bestandsaufnahme der Ausrichtungen der verschiedenen islamisch orientierten Gruppen. Während hierzulande gleich schaudernd vom drohenden "Islamismus" gesprochen wird, der sich den Berufsgruslern als einheitlicher Block darstellt, unterscheidet Schmid erst einmal nach Ländern. Richtig ist natürlich, dass die religiös orientierten Gruppen in einem Land ohne große Parteientradition einen Vorsprung haben. So die Islambrüder in Ägypten - die En-Nadha in Tunesien. Vor allem in den arabisch-sprachigen Ländern -außer Ägypten- scheint sich dabei ein Modell durchzusetzen, das sich mehr nach dem in der Türkei herrschenden ausrichtete. Der Kampf um die Scharia, in deutschen Zeitungen oft als das schlimmste hingestellt, enthält auch ganz harmlose Zielsetzungen- zum Beispiel für das Bankenwesen. Ohne weiteres ließen sich Banken islamischen Rechts denken auf Teilnahmebasis. Dass dabei der gewöhnliche Zins einfa
ch nach den Tabellen aus New York umgerechnet würde, schafft zwar den Kapitalismus nicht ab,verschlimmert ihn aber auch nicht.Und dass am Anfang der nordafrikanischen Revolten nirgends ein Religionsproblem im Vordergrund stand, wird von Bernhard Schmid noch einmal bestätigt.
Aber die Auseinandersetzungen zwischen koptischen Christen und Muslimen in Ägypten?Darüber sind im Augenblick nur Vermutungen möglich. Es spricht aber alles dafür, dass erst einmal die Kräche angezettelt wurden von Veteranen aus der Mubarakzeit, worauf dann Polizei und Militär brutal Frieden stifteten.Und aus der Zersplitterung der Massen neue Kraft zogen.( Der sehr vertrauenswürdige Leiter einer deutschen Schule in Alexandria erzählte mir selbst von den Ereignissen dort, dass zunächst Muslime und Christen zusammen sich gegen Schlägereien aller Art untereinander wendeten. Bis dann die Obrigkeit die Unruhen hergestellt hatte, die sie eigentlich verhindern sollte).

Bleibt alles, wie es ist?

Bernhard Schmids Fazit - einstweilig - "In Tunesien und Ägypten wurden die Diktaturen durch die Revolten jeweils "enthauptet", also zum Sturz des jeweiligen Staatsoberhauptes gezwungen....Doch unterhalb des bisherigen Hauptes-in Gestalt des gestürzten Präsidenten-und Rumpfes- der bisherigen Staatspartei- bleiben einige Glieder der früheren Staatspartei noch aktiv" (S.46). Vor allem in Ägypten, wo der Generalrat - das Militär - in letzter Zeit mehr Leute eingesperrt hat, als Mubarak in seinen letzten Jahren. Das über reiche materielle Mittel verfügende Militär versucht, durch allerlei Tricks in der neuen Wahlordnung und Verfassung die Macht zu behalten. Schultergeklopft bei diesem Unterfangen durch Westerwelle und andere Helfer aus dem Westen. In Tunesien spielte das Militär eine geringe Rolle, die diversen Geheimdienste und Polizeien eine große. Wie die vergnügten Gewährsmänner der FAZ -siehe oben - versichern, soll auch dort alles so bleiben, wie es ist. Natürlich ohne Diktator.

Die Chancen der Unteren, sich in Tunesien am nächsten Sonntag durchzusetzen, werden im Buch nicht übertrieben. Außer den auch wieder neu zur legalen Partei zusammengetretenen Muslimen gibt es allen Ernstes 101 Gruppen, die sich zur verfassunggebenden Versammlung zusammengefunden haben. Darunter ausgesprochen linke Gruppen! Auch solche, die von den Parteien des französischen Gebietes mehr oder weniger patronisiert werden sollen. Der Ausgang bleibt offen.

P.S.: Die Stämme. In letzter Zeit wird in Bezug auf Libyen, aber auch auf Tunesien, immer wieder von Stämmen geredet. Romantikern tritt Karl-Mayliches in den umwölkten Sinn. In der Bedeutung eines Zusammenhangs der Geburt gibt es solche Stämme auch in Libyen selten. Was allenthalben Stamm genannt wird, ist oft nicht mehr als Patronatszusammenhang, nach Wohnorten gegliedert. Patron - frz. Chef. Der Chef eines Gebietes - der einzige Fabrikant oder Großgrundbesitzer formt aus den wirtschaftlich Abhängigen eine Gruppe, die mehr oder weniger tatkräftig - zuweilen auch prügelfroh - zu ihm steht. Wer Böses im Hinterkopf hegt, darf auch an Mafia denken. Die ganze Erscheinung dient zur Erstellung von Gefolgschaften über Personenfixierung. Und erzeugt zunächst einmal ein gesellschaftliches Parzellenwesen. Schwer zusammenzuhalten.

Bernhard Schmid: "Die arabische Revolution? Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten"
Edition assemblage Oktober 2011
120 Seiten
ISBN-10: 3942885026
ISBN-13: 978-3942885027

Umberto Eco: Zettelkasten als Schießanlage - zur Buchmesse

Lauter Vermutungen, keine Besprechung

Es scheint ja Mode zu werden, dass die Autoren etwas ganz anderes im Sinn haben, als sie dem Schein nach vorführen. So soll es La Roche um die Schilderung eines verhängnisvollen Autounfalls gegangen sein - und die Geißelung der medialen Behandlung danach. Darübergeraspelt dann  als Trüffelspur die erwartete Ration Sex, damit das Buch ins Schema passt.

So ähnlich scheint es auch Umberto Eco zu halten. Dem öffentlichen Vorgeben nach soll es noch einmal gehen um die Entstehung der "Protokolle der Weisen von Zion". Nur hat Eco darüber in einem langen Essay vor Jahren schon viel übersichtlicher geschrieben.  Der Kern der Sache kommt zwar auch wieder im Roman zum Vorschein: dass einer, der etwas Antisemitisches schreibt, noch lange kein Antisemit der Herzensneigung nach sein muss. Sondern vor allem Opportunist. Mitstinker unter den Röchelhyänen seiner Zeit. Was könnte am ehesten passieren und passen? Nur - warum noch einmal 550 Seiten ausgeben, um das zu wiederholen?

Auch Ecos eigene Erfindung im vorliegenden Werklein - die Spaltung des Hauptfälschers in zwei Personen, die vergessen haben, was sie schon anstellten und wen sie auf dem Gewissen haben, reißt nicht vom Hocker. Man kapiert allzuschnell, dass die beiden eins sind. Zur Erklärung dieses Umstands wird in den ersten Kapiteln ein gewisser Doktor Fröid eingeführt, der Winke zum sogenannten Verdrängen ausgibt.

Warum der Umweg über das verschollene Protokoll der "Juden von Prag"? Verdacht: Es ging dem gelehrten Autor gar nicht um diesen Plot. Auch nicht um die Serien von Speisen, die zwischendurch immer gereicht werden - oder die Titel höllischer Exzellenzen, von denen bei einer Anrufung keiner vergessen werden darf. Über drei Kindle-Seiten lang. Vermutung: Es ging hauptsächlich darum, in historischer Verkleidung die gegenwärtigen Läufe und Irrläufe der Politik nachzuzeichnen. In Italien und ganz Europa.

So gewinnt die Handlung zum ersten Mal halbwegs Spannung, als der Geheimdienst des Rumpfstaates Italien-Piemont bei der Hauptfigur Simonini immer neue Verbrechen bestellt. Kaum meldet sich diese - angeblich ein Hauptmann - lobesbereit, wird sie fertiggemacht. Nicht etwa, weil am Service etwas fehlte - die Toten bleiben tot, und nichts weist auf die Dienste hin - sondern weil der Geheimdienst seine eigenen Pläne nicht auseinanderhalten kann. Immer haben sich die Umstände geändert. (Vergl S.167 ff) So sollen die Abrechnungen des einzigen ehrlichen Mitglieds in der Garibaldi-Verwaltung verschwinden - sie verstießen zu auffällig gegen die abgelieferten anderen. Dazu wird bedenkenlos ein ganzes Schiff versenkt. Kein Lob  für den Untergangs-Ingenieur. Schließlich könnte man im Nachfragen nach dem untergegangenen Schiff auf den letzten Aufenthalt des mitersoffenen Nievo kommen, darüber auf die Freundschaft mit unserem Hauptmann Simonini - und darüber auf Verbindungen mit der königlichen Regierung. Normalerweise wurden damals wie heute so unbequeme Zeugen einfach liquidiert. Da aber der Roman weitergehen muss, wird Simonini nach Paris versetzt. Und fälscht dort gewissenhaft Angefordertes. Das sagt wohl weniger über die Intrigen des neunzehnten Jahrhunderts als viel mehr über die bedenkenvolle Bedenkenlosigkeit des Systems Berlusconi. Verbrechen? Jederzeit - und gern! Ziele beibehalten - oh je! Entdeckt werden? Auf alle Fälle Spuren verwischen!

Bekanntlich gehört Eco in seinem Vaterlande selbst zu denen, die sich der Versuchung nie entzogen, auf dem Regierungs-Chef herumzuhacken. Wird es zu langweilig, offenliegende Wunden mit hundert anderen noch einmal aufzupicken - versteck Deine Attacke in etwas, das man wohlwollend auch Roman nennen kann. Und Du hast Deine Sonderstellung gerettet.

Der Angriff auf die Gegenwart - nicht des Zaren, aber die des noch oben befindlichen Universal-Betrügers - wird vor allem in der Zitatenfolge der Schlussempfehlung der "Protokolle" an den russischen Ankäufer spürbar. Da heißt es etwa:

"als angebliches Zitat aus den "Protokollen": Um die Massen daran zu hindern, sich eine eigene politische Meinung zu bilden, werden wir sie mit Vergnügungen, Spielen, Leidenschaften und Volkshäusern  ablenken und zu Wettbewerben in Kunst und Sport aller Art einladen... Wir werden den Wunsch nach ungebremstem Luxus anstacheln,und wir werden die Löhne erhöhen,was aber den Arbeitern keinen Vorteil bringen wird,da wir zur gleichen Zeit die Preise der notwendigsten Lebensmittel erhöhen werden unter dem Vorwand schlechter Ernten... Wir werden versuchen, die öffentliche Meinung zu allen Arten phantastischer Theorien hinzulenken, die irgendwie fortschrittlich oder liberal erscheinen könnten" (S.488ff)

Wozu passt das eher? Zu einem Russland, in dem wenig Arbeiter lesen konnten - oder zum Zustand Italiens mit drei Privatfernsehen in Berlusconis Hand und einem öffentlichen unter der selben Verfügungsgewalt?

Der Antisemitismus wird dem Ankäufer für den Zaren als Zugabe geliefert, steht aber keineswegs im Zentrum dessen, was der Generalfälscher einem jeden System anpreist, welches mit vollem Recht seinen Untergang voraussieht und unter allen Umständen aufschieben will.

Oder: "Was die Zeitungen angeht, so sieht der jüdische Plan eine scheinbare Pressefreiheit vor, die zur besseren Kontrolle der Meinungen dient. So sagen unsere Rabbiner, dass es darum gehen wird, möglichst viele Periodica zu erwerben, oder selbst zu gründen, die verschiedene Meinungen ausdrücken, so dass die Leser denen vertrauen, die scheinbar ihrenMeinungen nahestehen, ohne zu bemerken, dass in Wirklichkeit alle die Meinung der jüdischen Herrschenden wiedergeben...". (S.489 ff) Hier bleibt die Satire etwas zurück hinter den gegenwärtigen Zuständen. Auf jeden Fall funktioniert das Vorgehen auch ganz ohne Juden und Rabbiner vorzüglich - Nicht nur in Italien

Warum nur das umständliche Versteckspiel? Steht es in unserer Zeit schon wieder so, dass die niederschmetterndsten Kopfnüsse für jede Staatsgewalt nur in Velours verpackt abgeliefert werden dürfen?

Roman, 528 Seiten

"Der Friedhof in Prag: Roman" (Kindle Edition) EUR 19,99

"Der Friedhof in Prag: Roman" (Gebundene Ausgabe) EUR 26,00

kritisch-lesen.de Nr. 9 - Rechte Lebenswelten

"Automome Nationalisten" aus Südthüringen bei Neonazi-Kundgebung am 13. Mai 2006 in Suhl
Quelle: IndyMedia
CC-Lizenz 2.0
Urheber: Antifaschistische Gruppe Südthüringen [AGST]
Zur ersten Ausgabe nach unserer Sommerpause warten wir mit einigen Veränderungen auf. Erstens verabschieden wir Dirk Brauner aus der Redaktion, der uns aus persönlichen Gründen verlässt. Wir danken an dieser Stelle herzlich für die unzähligen investierten Stunden und die tolle Zusammenarbeit. Wir freuen uns schon jetzt auf die kommenden Anmerkungen von Dirk als kritischen Leser. Zweitens erscheinen wir ab jetzt nur noch einmal im Monat (jeden ersten Dienstag), dafür aber in ungefähr doppeltem Umfang, drittens haben wir demnächst eine Veranstaltungs- und eine Linkliste. Zukünftig werden wir viertens zur Konzeption der jeweiligen Schwerpunkte externe Expert_innen aus unserem Autor_innen- und Sympathisant_innen-Kreis enger einbinden. Dieses Mal wurden wir für den Schwerpunkt -Rechte Lebenswelten- von Ulrich Peters unterstützt; er ist Redakteur des Antifaschistischen Infoblattes.

Und nun zum Schwerpunktthema dieser Ausgabe: rechte Lebenswelten. In der Neonazi-Szene erobern individualisierte Erscheinungsformen immer mehr Nischen und verändern auch die Außenwirkung. Neue rechte Lebenswelten festigen die Anbindung der Mitglieder nach Innen. Ist der Einstieg über die vielfältigen neuen Zugangsmöglichkeiten vollzogen, lässt sich feststellen, dass -die Szene- der neue Lebensmittelpunkt für die Akteur_innen wird und es mehr als genug Möglichkeiten gibt, diese wie selbstverständlich in den Alltag zu integrieren. Seien es eigene und subkulturell wirkende Modemarken, die neonazistische Ideologie häufig deutlicher und hipper nach außen tragen als die Bomberjacke, oder die gemeinsame Freizeitgestaltung in Form von Ausflügen, Sportveranstaltungen, Demonstrationen oder Musikveranstaltungen. Kein -Oberkörper-Frei-Tanz- von Kahlrasierten, sondern vegane Küche und sauber produzierter Hatecore. Neonazi zu sein wird immer mehr zum Allround-Lebensentwurf. Einige dieser Möglichkeiten rechter Lebenswelten sollen anhand ausgewählter Beispiele in dieser Ausgabe von kritisch-lesen.de genauer dargestellt werden.

Um angesichts des Auftretens sogenannter Autonomer Nationalisten (AN) nicht in häufig zu kurz greifende und vorschnell formulierte Aussagen über eine -neue Gefahr- der neonazistischen Szene zu spekulieren, ist gut recherchiertes Hintergrundwissen notwendig. Die wissenschaftlich und journalistisch gut herausgearbeitete Möglichkeit hierfür sieht Gabriel Kuhn im Sammelband -Autonome Nationalisten-. Tompa Láska beschreibt in ihrem Beitrag Es geht um Symbole und Begriffe am Beispiel Sachsen-Anhalts und der dort vielfältig aktiven neonazistischen Hardcore-Szene, die in der Broschüre -Sirens of hate- aufgezeigt wird, wie gerade die Musik eine große Anziehungskraft auf jugendliche AN ausübt. Die Verbindung von Männlichkeit, Alkohol und Hochschulwesen beschreibt Andrea Strübe in Enge Bande. Dort arbeitet sie den Appell der Autoren des Bandes -Studentenverbindungen in Deutschland- heraus, die elitären und rassistischen Sichtweisen mit klarem Blick zu betrachten, um Kritik an studentischen Verbindungen fundiert äußern zu können. Der Prämisse extrem Rechter, “national befreite Zonen- zu schaffen und der Thematik der “Angsträume- widmet sich Klaus Maria in Jede Tat hat ihren Tatort. Eine weitere neonazistische Lebenswelt findet sich seit mehreren Jahrzehnten im Fußball. Gabriel Kuhn beschreibt in dem Beitrag zu dem Buch “Angriff von Rechtsaußen- nicht nur Etablierungsmöglichkeiten der extremen Rechten in den mehrheitlich unteren Ligen sowie das verbindende Element von Männlichkeit und Gewalt, sondern zeigt zugleich linke Perspektiven auf. Weitere ältere und aktuelle Bücher zum Thema findet ihr in unserem Archiv in der Kategorie Faschismus -“ Neonazismus.

Fern von unserem Schwerpunkt findet ihr dieses Mal folgende aktuelle Rezensionen: Fritz Güde widmet sich aus aktuellem Anlass in Historikerstreit: Spülwasser im Cocktailglas! Bitte selber saufen dem 25. Jubiläum des Historikerstreits. Er nutzt die Gelegenheit, das aktuell vom -Extremismusexperten- Brodkorb herausgegebene Buch -Singuläres Auschwitz?- kritisch zu betrachten und einige grundsätzliche Gedanken zum Thema Singularität anzubringen. Mehr vom rechtsliberalen Rand berichtet Michael Lausberg in seiner Rezension Rechtsruck der nordrhein-westfälischen FDP 1945-1953 und blickt mit dem Buch -Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr- von Kristian Buchner zurück zur Nachkriegsgeschichte der FDP, deren Spitze sich sehr engagiert um die Einbindung -ehemaliger- Nationalsozialisten bemühte. Bei dem neu gegründeten Laika-Verlag erschien außerdem jüngst in der -Bibliothek des Widerstands- das Buch -Mumia Abu-Jamal. Der Kampf gegen die Todesstrafe und für die Freiheit der politischen Gefangenen-. Diesem hat sich Thomas Trueten angenommen und betont in seiner Rezension Der Kampf um das Leben von Mumia Abu Jamal die Wichtigkeit der Solidarität im Kampf gegen die Todesstrafe. Im übertragenen Sinn um Repression geht es auch in unserer letzten Rezension. In dem Buch -PKK. Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam- wird die Geschichte und aktuelle Politik der PKK behandelt. Ismail Küpeli widmet sich diesem Buch in Ferner Krieg in den Bergen Anatoliens? und bezeichnet es, auch wenn es Mängel aufweise, als Pflichtlektüre für alle, die sich mit dem Thema auseinandersetzen.

Viel Spaß beim kritischen Lesen!

Rezensionen zum Schwerpunkt

Alte Politik in neuen Kleidern

Jan Schedler / Alexander Häusler (Hg.) - Autonome Nationalisten: Neonazis in Bewegung

Das Auftauchen der Autonomen Nationalisten hat Linke wie Rechte verwirrt. Revolution in Nazi-Kreisen? Querfront? Aprilscherz? Ein neuer Band zum Thema hilft, diese und ähnliche Fragen zu beantworten.

Von Gabriel Kuhn

Es geht um Symbole und Begriffe

Miteinander e.V. / Arbeitsstelle Rechtsextremismus (Hg.) - Sirenen des Hasses. NS-Hardcore aus Sachsen-Anhalt

Diese Broschüre zeigt, wie die Nazi-Musikszene Symboliken aus dem Bereich des Hardcore übernimmt und diesen inkognito mehr und mehr für sich einnimmt.

Von Tompa Láska

Enge Bande

Felix Krebs / Jörg Kronauer - Studentenverbindungen in Deutschland: Ein kritischer Überblick aus antifaschistischer Sicht
Die Autoren ermöglichen Einblicke in das Innenleben und Denken von Studentenverbindungen.

Von Andrea Strübe

Jede Tat hat ihren Tatort

Christoph Schulze / Ella Weber (Hg.) - Kämpfe um Raumhoheit. Rechte Gewalt, "No Go Areas" und "National befreite Zonen"

Ein kleines Büchlein, das zeigt, wie erfolgreich extrem Rechte Räume auch in den Köpfen besetzen und wie wichtig es ist, diese zurückzuerobern.

Von Klaus Maria

Rechte ins Abseits stellen: Zur Verteidigung des Fußballs

Ronny Blaschke - Angriff von Rechtsaußen: Wie Neonazis den Fußball missbrauchen

Der Fußballsport wird seit langem für extrem rechte Propaganda genutzt. Ronny Blaschke präsentiert in einem neuen Buch gegenwärtige nazistische Umtriebe und Gabriel Kuhn schreitet zur linken Verteidigung.

Von Gabriel Kuhn

Aktuelle Rezensionen

Historikerstreit: Spülwasser im Cocktailglas! Bitte selber saufen

Matthias Brodkorb (Hg.) - Singuläres Auschwitz?: Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre "Historikerstreit"

Um es gleich zu sagen: Überflüssiges Aufwärmen ältesten Waschwassers. Neues ist nicht zu erfahren: weder über Noltes angebliches Recht noch über Habermasens Unrecht.

Von Fritz Güde

Rechtsruck der nordrhein-westfälischen FDP 1945-1953

Kristian Buchna - Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr: Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP 1945-1953

Eine Forschungsarbeit arbeitet das Konzept der „Nationalen Sammlung“ des nordrhein-westfälischen FDP-Landesvorsitzenden Friedrich Middelhauve heraus, der aus der Partei eine „dritte Kraft“ rechts von CDU/CSU und SPD etablieren wollte.

Von Michael Lausberg

Der Kampf um das Leben von Mumia Abu Jamal
Bibliothek des Widerstands (Hg.) - Mumia Abu-Jamal

Neues Buch zu Geschichte, Hintergrund und Perspektiven des Kampfes für die Freiheit Mumia Abu Jamal-™s und aller politischen Gefangenen.

Von Thomas Trueten

Ferner Krieg in den Bergen Anatoliens?

Nikolaus Brauns / Brigitte Kiechle - PKK: Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes

Das Buch beleuchtet Geschichte und gegenwärtige Politik der PKK.

Von Ismail Küpeli

Erstveröffentlichung bei kritisch-lesen.de

"Fragt uns - wir sind die letzten."

Vor kurzem veröffentliche der Berliner VVN-BdA den zweiten Teil der Broschüre "Fragt uns, wir sind die Letzten.".

Der Titel der beiden Broschüren ist eine Anlehnung an den Titel der Autobiographie Kurt Julius Goldsteins (Wir sind die letzten - fragt uns. Kurt Goldstein. Spanienkämpfer, Auschwitz- und Buchenwaldhäftling. Bonn 1999). Goldstein (1914-2007) wurde von den Nazis als Jude und Kommunist verfolgt, war Spanienkämpfer und überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald. Er war bis zu seinem Tod antifaschistisch aktiv und sprach regelmässig als Zeitzeuge mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Die Interview-Broschüre, die Erinnerungen von Verfolgten und Menschen aus dem antifaschistischen Widerstand aufzeichnet. Diese Erinnerungen sind ein bedeutendes Gegengewicht zu herrschenden Geschichtsbildern und auch zu denjenigen Zeitzeug_innen, die scheinbar von nichts wussten -“ vor allem nicht von ihrer eigenen Schuld. Wir erwarten von den Zeitzeug_innen nicht, dass sie uns Geschichte objektiv vermitteln. Uns geht es gerade um die individuellen Schlüsse und die Bewertungen, die uns nur Verfolgte und Menschen aus dem Widerstand vermitteln können. Unsere Interviews orientieren sich dabei weniger an einem wissenschaftlichen, vermeintlich objektiven Zugang zu Geschichte, sondern vielmehr an einem persönlichen. Wie erlebten Menschen Verfolgung und/oder Widerstand? Welche Erkenntnisse zogen sie daraus? Was waren (und sind) ihre Beweggründe, sich gegen faschistisches Gedankengut einzusetzen?


Beide Broschüren stehen als pdf-Datei zum Download zur Verfügung:

"Fragt uns, wir sind die Letzten." - Teil 1 [pdf, 4,5 MB]

"Fragt uns, wir sind die Letzten." - Teil 2 [pdf, 1,9 MB]

Fragt uns ...

Leonhard Frank: "Der Mensch ist gut"

Leonhard Frank, vor 1929
Foto: WikiPedia
Gutmensch. Er war vielleicht der erste, der den verächtlichsten Titel, der heute vergeben werden kann, mit Stolz trug. "Der Mensch ist gut" eine Serie von fünf Geschichten, in der Schweiz geschrieben, wohl schon während des ersten Weltkriegs nach Deutschland geschmuggelt. Leonhard Frank, auf der Flucht vor dem Mörderdienst in seinem ersten Exil, hatte von Haus aus wenig Grund zu seinem Aufruf. In seinem ersten und vielleicht eindringlichsten Roman "Die Räuberbande" schildert er seine Schülerqualen unter einem sadistischen Lehrer. Er trug ein Stotterleiden davon von dem Druck, der auf ihm lastete. Also zumindest einer war keineswegs so, wie ihn ein friedlicher Gott bei der Schöpfung hätte erträumen können.Trotzdem: "Der Mensch ist gut".

Liest man die heute fast vergessenen Geschichten noch einmal ,steht man zunächst fremd vor ihnen. In jeder Geschichte wird im Grunde nur eines phantasiert: der anwachsende Heereszug der vom Krieg geschlagenen, beraubten, verletzten Menschen, die nach Liebe dürsten nach allem Hass, dem sie vielleicht selbst einmal erlegen waren. Der armselige Kellner ,dem sein Sohn weggeschossen wurde,führt einen Zug - die Witwe eines Versicherungsagenten einen anderen, schließlich in der letzten Geschichte ein bloßer Rumpf, ohne Arme und Beine, auf einem Karren festgebunden sitzend. Es gibt kaum Einzelcharaktere. Nur immer wieder die Vorstellung vom Marsch der Erniedrigten und Beleidigten, der die Macht der Mächtigen einfach wegfegen sollte. Die Abkunft von den proletarischen Träumen des neunzehnten Jahrhunderts verrät sich an jeder Stelle. So hat Jules Vallès, Mitkämpfer der Commune 1871, vor dem Ausbruch der Revolution immer wieder Totenmärsche, Todesklagen sich vorgestellt, die bis zu Gott emporsteigen müssten.

Geben wir zu, dass die Wiederholung bloßer Schreie, leerer Klagen in Franks pazifistischem Werk auf heutige Leser ermüdend wirkt. Wirken kann. Nichts mehr darin von der magischen Genauigkeit der "Räuberbande". Nichts mehr von der gespenstischen Anschaulichkeit der uralten Stadt mit ihren ins Dunkel verschwappenden Gassen. In diesem Roman hat Frank ein Bild der Heimat, der Heimatstadt überliefert, wie sie war vor den gnadenlosen Zerstörungen des zweiten Weltkriegs. Als alles in Flammen aufging in einer einzigen Nacht.

"Der Mensch ist gut" wurde immer neu aufgelegt und muss nach dem ersten Krieg einen ungeheuren Eindruck gemacht haben. In dem mir vorliegenden Nachdruck findet sich ein Vorwort ausgerechnet Wehners, wohl unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg verfasst. Sicher nicht später. Nicht in der Zeit, als Wehner zu den unbarnherzigsten Betreibern des Beitritts zu neuen Militärbündnissen gehörte.

Wie kam Frank, der Zeuge entsetzlichster Verbrechen, zu seinem Titel? Sicher nicht kindischerweise aus der Meinung, alle Menschen seien von Natur aus solche, die man nie und nirgends zum Krieg gewinnen könne! Eher aus dem Verlangen heraus: Es könnte doch auch ohne wechselseitiges Sengen und Brennen ein menschliches Leben geben. Der genauere Titel hätte wohl heißen müssen: "Der Mensch ist gut- aber auch sehr schwach!" Zwang und mehr noch Eitelkeit und Verführung bringen gewöhnliche Leute dazu, sich in Uniform werfen zu lassen und auf nichts anderes geil zu werden, als dem Nächsten den Bauch aufzuschlitzen,wenn der das Unglück hat, in ein anderes Fräckchen gekleidet worden zu sein.

Sinn des Satzes also schließlich: Eine andere Welt ist möglich -bewohnt von genau den Leuten, die sich immer wieder missbrauchen ließen. Diese Position muss gegen die "Gutmenschenschreier" aus freiem Entschluss festgehalten werden. Wieviele Denkfeinde, Gelangweilte, Verblödungswillige und schon Verblödete Du in vierzig Jahren in Deinen Klassenzimmern auch erlebt hast, vergiss nicht die vielen, die trotzdem aufwachten, die einen Gedankenblitz zu fassen wussten, die über ihre Pfannkuchigkeit hinaus wollten.Der Möglichkeit, der Anlage nach ist der Mensch gut. Vom Gegenteil auszugehen hieße: alle Unterrichtung, alle Besserung aufgeben!

Franks Lohn!

Für Leonhard Frank blieb es nicht beim ersten Exil. Als die Rassisten 1933 ans Ruder kamen, die schärfsten Bestreiter des elementar Guten im Anbeginn eines jeden Menschen, da war für ihn kein Platz mehr.In "Links wo das Herz ist" schilderte der Verjagte seine Wege. In den USA bekam er sogar ein Jahr lang ein Stipendium bei einer Film-Firma. Jeden Tag antreten- Skripts verfassen oder auch nicht- und mit ein paar Dollars in der Hand abziehen. Dass keines der Drehbücher jemals auch nur gelesen wurde,durfte den Empfänger der Wohltat nicht kümmern. Er hatte dankbar zu sein und die Zeit hinzugeben, "die uns auf Erden gegeben war". Nach dem Ablauf dieser Art Barmherzigkeitszugabe schlug er sich kümmerlich durch. Und schrieb im fernen New York noch einmal von der Jungensbande in Würzburg, die helfen wollte. "Die Jünger Jesu" nehmen die Namen von Aposteln an, klauen im zerbombten Würzburg den Reicheren den zweiten Wintermantel, um ihn einer Ausgebombten überzulegen.

Stark christlich geprägt und ziemlich anschauungslos. Das hätte die Würzburger nicht so erregt. Sie hätten das Buch links liegen lassen. Aber Frank schildert auch hellsichtig, dass die Täter in der Zeit des Faschismus nachher kaum zur Rechenschaft gezogen wurden und ihre Geschäfte betrieben wie vorher auch. Neben diesen Neu-Anpassern, die die Antikommunisten blieben, die sie gewesen waren, nun aber zusätzlich Amerika-Fans,lässt Frank aber auch einen gering veränderten Neo-Nazi-Jugendring entstehen, der schon wieder die wenigen Antifaschisten- eben die neuen Apostel -bedroht. In dem Punkt sah er wohl von den USA her nicht völlig richtig. Die in Frage kommenden sechzehnjährigen hatten alle den Krieg in Kellern miterlebt, über Wiesen rennend im Tieffliegerbeschuss, so dass damals für sehr kurze Zeit der blutige Ernst des Mordens nicht mehr die Hirne verbrannte. Zugleich macht Frank den Fehler, die US-Soldaten als uneingeschränkte Freiheitskämpfer vorzuführen. Ganz so war es sicher nicht. Da hat Feldzugsteilnehmer Heym in "DER BITTERE LORBEER" sicher genauer gesehen. Im letzten Kapitel wird ein bevorstehender Krieg zwischen den USA und der SU als ziemlich sicher angesehen. Da sind die Sympathien des Autors keineswegs mehr auf der Seite Amerikas. Was ist inzwischen passiert? Aus dem Buch erfahren wir es nicht.

Die Würzburger verhielten sich zu dem Roman wie die Mainzer zu den Werken von Anna Seghers. Seghers und Frank hatten Bilder gerettet, Bilder von Städten, tausendjährig, mit mittelalterlichen Umschränkungen.Es wurde ihnen nicht gedankt. Die Würzburger empörten sich vor allem über die Verdächtigung, sie hätten mit den alten Nazis unter ihnen nicht abgerechnet.Sie waren sie schließlich selber. Und wie-bitte schön- hätte Frank das von New York aus erkennen wollen?

Da hilft ein Blick auf das nahegelegene Wertheim im letzten badischen Zipfel weiter. Als ich als Assessor 1963 - dorthin versetzt wurde, erinnerte es in jeder alten Gasse an das Würzburg des jungen Frank der "Räuberbande". Der Gesinnung nach allerdings an das Nachkriegs-Würzburg, das ein Frank sich bitter vorgestellt hatte.

Nur ein BeispieL. Es gab einen kleinen, gut ausgestatteten Buchladen. Als ich kam und -wie damals üblich- kollektiv Lektüren bestellen wollte, wurde ich kollegial eindringlich verwarnt, dort ja nicht zu bestellen. Warum? Erst nach einiger Zeit bekam ich das heraus. Der Inhaber war im KZ gewesen. Als er herauskam, ließ er sich breitschlagen, gleich nach dem Krieg Mitglied zu werden der Entnazifierungskammer. Und urteilte nicht übertrieben, aber angemessen. Beging dann den schwersten Fehler seines Lebens: dort zu bleiben, wo auch die von seinem Spruch getroffenen blieben. Bis ich kam, hatten sich die Verhältnisse total verändert. Beziehungsweise normalisiert, wie das jetzt zu formulieren war. Die früheren Oberen waren wieder oben. Der Buchhändler wieder dort, wo ihm diese Oberen den Platz zuwiesen. Als dann selbst an dieser verlassensten Stelle sich die Zeiten doch noch einmal änderten, und Schüler demonstrierten gegen die ungerechtfertigte Entlassung eines Referendars, da schüttelte ihn so die Angst, dass er die Beteiligten flehentlich aufforderte, nicht weiter zu demonstrieren. Man wisse ja, was bei "so etwas" am Ende herauskomme.

Nach diesen Erfahrungen zweifle ich keinen Augenblick daran, dass die benachbarten Würzburger noch schneller entsprechende Verhältnisse geschaffen hatten. Kaum dass der Kalte Krieg das erlaubte und begünstigte.

Vor 139 Jahren ist Leonhard Frank geboren. Er hat unvergesslich das Bild verbrannter Erde gerettet. Und er hat im ersten Weltkrieg das Entsetzliche schon erkannt, das seither die Welt verheert.Es ist ihm nicht gedankt worden. Am 18.August 1961 starb er an Herzversagen.

Herangezogene Ausgaben:
Leonhard Frank: Der Mensch ist gut. Arena Taschenbuch 1986
Leonhard Frank:Die Jünger Jesu. Geschrieben 1947 in New York. Aufbau-Verlag 1961

Historikerstreit: Spülwasser im Cocktailglas! Bitte Selbersaufen

Zum Buch "Singuläres Auschwitz? Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre "Historikerstreit"", herausgegeben von Matthias Brodkorb in der Reihe: Endstation Rechts 3, erschienen im Adebor-Verlag.

Um es gleich zu sagen: Überflüssiges Aufwärmen ältesten Waschwassers. Neues ist nicht zu erfahren: weder über Noltes angebliches Recht noch über Habermasens Unrecht.

Interessant dabei nur eins: die Frankfurter Allgemeine hatte seit Jahren dem einstigen Favoriten Nolte die kalte Schulter gezeigt. Nun erübrigt sie ziemlich viel Raum, um dem größten Schreihals unter den Beiträgern des Sammelbands -“ Egon Flaig -“ Platz für lärmende Breitseiten gegen Habermas einzuräumen.

Woher der Meinungswechsel?

Worauf sie bei der FAZ aus sind, muss dahingestellt bleiben.Worauf es Brodkorb ankam, dem verdienstvollen Bekämpfer aller Extremismen, vor allem des eingebildeten von links, war wohl Ansehensgewinn. Vorboxen in die erste wissenschaftliche Reihe. Deshalb sein unendlich umständlicher Andeutungsstil, dem alten Nolte peinlich abgeschaut. In der Hauptsache geht es ihm darum, dass Habermas eines drüber bekommt. Brodkorb greift nicht etwa den allerlahmsten Begriff Habermas' an: “Verfassungspatriotismus-. Hätte es den wirklich mal gegeben, also Anhänglichkeit an die rechtlich gefasste Freiheit, hätten alle 1989 aufjaulen müssen, als die wichtigsten Bestimmungen des Grundgesetzes über Bord geworfen wurden - durch Trick und Erpressung einer Volkskammer. So ohnmächtig Habermasens Zielvorstellungen vom Verfassungspatriotismus heute wirken, in einem Punkt hatte er auf jeden Fall recht. Dass nämlich Nolte und die anderen angegriffenen Historiker Hilfsbataillons darstellten im Kampf für Kohls "andere Republik". Für den Rückweg zum neuen Nationalismus, wie er sich inzwischen als quasi selbstverständlich durchgesetzt hat.

Was dem Aufwärmer kalt gewordener Streitigkeiten äußerst missfällt, ist die Weigerung des Philosophen Habermas, am Brodkorb mitzunaschen. Das wird als Charakterfehler erkannt und gemäß der Nikomachischen Ethik des Aristoteles verurteilt (Brodkorb ist wie Flaig Gräzist und zitiert anfallsweise auf griechisch). Dafür kann Brodkorb mit Nolte zusammen in wohligem Dunkel den Grundgedanken von Hitlers sekundärer Antwort auf Stalins (eigentlich Lenins-) Erstschlag ausbreiten. Kein klarer Standpunkt - alles Meinung, Fragen. Wie Hannah Arendt beim ersten Besuch in Berlin nach dem Krieg feststellte: Alle Tatsachen waren verschwunden. Es gab nur noch Meinung. Auch Nolte - in die Defensive getrieben - kennt in einem seiner letzten Bücher (Streitpunkte) nur noch Fragen. Ausgelegt auf dem Wühltisch für Nackte. Und andere Bedürftige. Im traulichen Gespräch mit Brodkorb wird alles aufgetragen. Der moniert manchmal zart, mit einem Zitatenzettel in der Hand. Und immer noch geht es um die "Singularität".

Singularität der deutschen Verbrechen


Singularität - Einmaligkeit. Warum soll es so wichtig sein, was anderswo - in anderen Ländern und Zeiten - an Schlimmem passiert ist? Und für wen? Einmaligkeit interessiert den einzelnen Menschen, weil er nur einmal lebt. Wurde ich von Mongolen im zwölften Jahrhundert gepfählt? Traf mich der Schwertschlag als Gegner der englischen Revolution? Verreckte ich im Schlamm eines Schützengrabens? - Was kann mich da kümmern, was anderen passiert? Mich trifft der Schlag auf jeden Fall unwiderruflich. Mein Bewusstsein erlischt. Für mich ist der Film aus. Wenn alles, was geschieht, in einem einzigen, unwiederholbaren Leben geschieht, dann ist nichts verrechenbar. Auf dieser Ebene läuft die Theorie Noltes (Hitler schlimmer oder nicht so schlimm wie Stalin) und anderer von vornherein ins Leere. Eine andere Bedeutung könnte "einmalig" gewinnen, wenn wir den Ausdruck in die geschichtliche Entwicklung stellen. Den Athenern Flaigs - im selben Band - kann Männerherrschaft und Frauenunterdrückung kaum vorgeworfen werden: In der geschichtlichen Umwelt gab es nichts anderes. Wenn aber nach Jahrhunderten der Aufklärung und angeblich christlicher Gesinnung ganz offiziell die Ungleichheit der Menschen - vor aller Ohren - verkündet wird, dann wird eine Entwicklung nicht nur zurückgenommen, sondern ein Versprechen gebrochen. Und nicht nur in Meinungen, sondern in Handlungen, die - lange vor Auschwitz - weithin gebilligt wurden. Den einmaligen Bruch in diesem Sinn nicht mehr geschehen zu lassen, ist dann freilich etwas, das jede und jeden angehen sollte, denen die Einheit der Menschheit - die gemeinsame Menschwerdung - am Herzen liegt.

Noltes Fall

Das in gewissem Sinn Erschütternde am Weg Noltes ist der Bruch in seiner eigenen Lehre. 1963 als sein Buch Der Faschismus in seiner Epoche herauskam, war das wirklich ein großer Wurf. Ich damals Assessor hatte mühsam mit Bracher vom Machtvakuum geredet - und damit allerhöchstens erklärt, dass die Lehre von "checks and balances" nicht funktioniert. Nolte mit seinem Buch verschaffte allererst das gute Gewissen, von einer einheitlichen europaweiten Bewegung namens "Faschismus" sprechen zu dürfen. Zugleich damit die Anerkennung, dass Antifa-Kampf gegen Faschismus international immer noch seine Berechtigung hatte. Das Unglück Noltes: Während er geistesgeschichtlich richtig die Verwandtschaft aller europäischen Faschismen herausarbeitete, und damit eine mehr oder weniger aktive Tätergruppe benannte, können Noltes spätere Beschuldigungen nicht einmal alle deutschen Nazis, sondern am Ende nur die einsame Person Hitlers betreffen. Dass Hitler die Rattenphobie aus irgendwelchen Gruselkrimis über Russland aufgeschnappt hatte, mag ja so gewesen sein - oder auch nicht. Nur: Wer hatte solche Phobien noch? Umgekehrt gedacht: Was trieb die vielen Vernichtungsbetreiber an, die keine Rattenphobie hatten und doch enthemmt mordeten? Und was ist mit den italienischen Faschisten, die zwar die Rassengesetze von Deutschland übernahmen, aber selbst nach deutschen Mit-Nazi-Urteilen es an Verfolgungseifer außerordentlich fehlen ließen?

Mit seiner Hitler-Fixierung zerstört Nolte die ehemalige Einsicht: Ja, es hatte Millionen gegeben, die Faschisten sein wollten. Auch ohne die Zentralfigur Hitler. Und die Antisemitismus-Erklärungen, die Nolte einfielen - und die Brodkorb teilweise zu teilen scheint! Gab es denn ausschließlich den östlichen Juden - den phantasierten Bolschewiken - als Feind? Man muss nur einmal die volkstümlichen Karikaturen anschauen aus der Nazizeit. In fast allen zeigt sich ein Wesen mit Doppelgesicht: Eine Hand schwenkt die Sowjet-Fahne, eine andere aber hält den Dollarbeutel hoch. Dass der Kapitalist mit dem Kommunisten - und dem Gewerkschafter - heimlich zusammenarbeiten, so sehr sie sich offen bekämpfen, gehörte zu den Grundphantasien der offiziellen Propaganda. Und passte viel besser zum Überreden einer Weltkriegsnation - "dazwischen" - als alle einseitige Beschuldigung nur der Sowjet-Union.

Das alles spielte für Nolte nie eine Rolle. Verblüffenderweise für Brodkorb auch nicht. In keinem Satz wird Noltes Rolle im ehemaligen "Bund Freiheit der Wissenschaft" erwähnt. Wer damals seine Tiraden mitbekommen hat, wird sich erinnern an Angstwut voller Ekstasen gegenüber der Studentenbewegung, nicht wie sie wirklich war, sondern wie auch sie damals vor allem als eiskalte Zerstörerin phantasiert wurde. In einem fast rührenden offenen Brief an ehemalige Schüler (Nolte war einmal Studienrat gewesen) im Merkur - aus den frühen siebziger Jahren, wie ich mich erinnere - erklärt er, dass er einer der letzten war, die die Universität noch aufgenommen hätte. Jetzt fordere Dankbarkeit von ihm, das wankende Schiff zu retten. Erst damals nahm er die Rettergebärde an, die dessen, der als letzter eine Welt der Werte zu retten hat. Erst seit der Zeit nahmen seine Schriften den angstvoll-verhetzten Zug an - und die partielle Sympathie nicht gerade für den Faschismus selbst, aber für die "Angst um die Kultur", die in dieser ganzen Bewegung angeblich wirksam geworden sein soll. Deren Angst war seine eigene.

Geisteswissenschaft reicht nicht aus

Der Ausgangspunkt der Verirrungen Noltes liegt wahrscheinlich in seinem geisteswissenschaftlichen Zugang zum Problem des Faschismus. So einleuchtend der Nachweis der geistigen Übereinstimmungen - nach Büchern, Lehrern und Lehren, Manifesten - so unzulänglich die Ursachenforschung.

Ein Begriff, den Nolte höchstens als Zitat einmal verwendet: "Imperialismus". Geht man nämlich gar nicht von den angeblich neuen Ideen aus, sondern von den durchgehaltenen Einfluss- und Eroberungstendenzen der herrschenden Klassen, stößt man sofort in Deutschland auf die "Alldeutschen" - auf Ludendorff mit seinen Anschlusswünschen gegenüber dem Baltikum und die Ukraine, auf den deutschen Wirtschaftstag 1930. Da mochten Essenzen mancher Art in den Seelenbräu geschüttet werden. Herauskommen musste immer eins: Wir brauchen das Land im Osten! In diesem grausigen Chor sang Hitler schließlich die erste Stimme. Aber es wäre beim überhitzten Kreischen eines Blähhalses geblieben, hätte die Begleitung in Bass und Sopran gefehlt. Soll das heißen, dass Eindringen in die Psyche einzelner Täter historisch auf jeden Fall verfehlt wäre? Das kann es nicht. Es muss nur von der materiellen Lage einer ganzen Schicht ausgegangen werden. Nicht: Wie ist ein unnennbares Wesen Hitler wirklich? Sondern: Wie geht der vereinzelte und verlorene mit einer Lage um, die ihn wie alle betrifft? Wie kann er - gerade er - sie so interpretieren, dass Tausende sich mitinterpretiert, miterkannt fühlen? Um nur ein Beispiel zu geben: Der Lebensweg Hitlers konnte vielen hingestellt werden als die eines besonderen Tellerwäschers zum Millionär, allerdings nicht amerikanisch gesehen als Lohn der Leistung. Sondern als Kampf, Hochstrampeln gegen finsterste Mächte, die ihn wie alle bedrohen. Ist ein Wesen einmal zu solcher Höhe hochgeprügelt worden, wird es dann seine geheimen Vorstellungen "auch noch" durchsetzen wollen, sich den Mut dazu zusprechen, sich selbst vormachen, er stelle den Inbegriff des "Volksgeistes" dar?

Das nur als Anregung zu einer ganz anderen Behandlung des Problems. Brodkorb und seine Mitarbeiter tragen nichts dazu bei.

Singuläres Auschwitz?: Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre "Historikerstreit"
EUR 14,90
180 Seiten
Adebor Verlag
ISBN-10: 3980937593
ISBN-13: 978-3980937597

Weitere benutzte Literatur

Ernst Nolte 1993: Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus. Propyläenverlag
Ernst Nolte 1968: Sinn und Widersinn der Demokratisierung in der Universität. Rombach

Die Rezension ist eine Vorab-Veröffentlichung der Anfang September erscheinenden neunten Ausgabe von kritisch-lesen.de.
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