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kritisch-lesen.de Nr. 24: Kriegerischer Frieden

Am 10. Dezember ist es wieder soweit: der Friedensnobelpreis wird verliehen. In diesem Jahr darf sich niemand Geringeres als die Europäische Union über den Preis freuen. Während sich gefreut und darüber geredet wird, wie die EU den Frieden nach Europa brachte, ist kaum Kritik zu vernehmen. Dabei sind EU-Länder an kriegerischen Einsätzen auf dem gesamten Globus beteiligt und spielen bei der Rüstungsproduktion eine erhebliche Rolle. So ist Deutschland im Rüstungs-produktionsranking auf Platz drei weltweit und unter anderem seit elf Jahren in Afghanistan im Einsatz. Frieden sähe anders aus. Auch innerhalb der Linken gibt es irritierende Haltungen bei der Frage, wie man es eigentlich halten sollte mit dem Krieg. Befürwortungen werden auch bei sich als links bezeichnenden Menschen immer wieder laut. In den Hintergrund gedrängt wird die sich zwar in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten verändernde, aber noch immer existente imperialistische Dominanz einiger Staaten und Verbündeter, die den Frieden als Legitimation für militärische Einsätze immer wieder in Stellung bringen.

Gründe genug, um einen Blick auf aktuelle linke Antimilitarismus- und Antiimperialismusdebatten zu richten, um Diskussionen und Interventionen nachzuzeichnen. Und so appellieren die ersten drei Rezensionen, Antiimperialismus wieder verstärkt in linke Politik einzubinden: Zu Beginn bespricht Jens Zimmermann in Antiimperialismus revisited einen Sammelband der Linksjugend Solid und stellt heraus, dass in der Broschüre die Reaktualisierung theoretischer Positionen und empirischer Befunde des Antiimperialismus gelungen sind. Christin Bernhold empfiehlt in ihrer Rezension Imperialismus: Alter Wein in neuen Schläuchen den Begriff Imperialismus aus dem Theorie-Museum zu holen, denn dieser sei für die heutige Linke substantiell. In ebenjenes Museum begibt sich Christian Stache mit seiner Rezension Von der bestimmten Negation der klassischen zur neuen Imperialismustheorie. In dem bereits 1978 erschienenen Buch „Marx, Engels und die Imperialismustheorie der II. Internationale“ vertritt Hans-Holger Paul die These, dass durch die direkte Lektüre des Marxschen „Kapital“ (unter anderem durch Engels) die Befürwortung von Imperialismus seitens der RevisionistInnen und ReformistInnen zu erklären ist. Einer auch aktuell immer wieder aufscheinenden Debatte beim Thema Antimilitarismus, die mitunter auch große zivilgesellschaftliche Aufmerksamkeit erregt, widmet sich Sebastian Friedrich mit Forschung und (Anti-)Militarismus: der Zivilklausel an deutschen Hochschulen. Ein weiterer Strang, der linke Antimilitarist_innen seit jeher beschäftigt, ist der Pazifismus. Einen allgemeinen Blick auf „Pazifismus und Antimilitarismus“ wirft Sebastian Kalicha in Den „pazifistischen Hammer“ schwingen und bescheinigt dem Einführungswerk durch seine Facettenvielfalt eine Bereicherung für den linken Diskurs zum Thema. Zu Deserteuren im Zweiten Weltkrieg erschien jüngst das Buch „... und wenn sie mich an die Wand stellen”, welches Zülfukar Cetin bespricht und besonders aufgrund seiner Perspektive aus der Geschlechterforschung sehr lobt. Schließlich wirft Thomas Möller in Vier Jahre Kampf gegen den Kriegsgeist einen Blick in die politische Biographie des Pazifisten und engagierten Kriegsgegners Bertrand Russel.

In den weiteren Rezensionen befasst sich Dr. Daniele Daude in Performativität in der Akademie zunächst mit den Theorien zur Performativität von Erika Fischer-Lichte. Den biographischen Roman „Wie ich im jüdischen Manhattan zu meinem Berlin fand“ von Irene Runge hat Heinz-Jürgen Voß gelesen und ist begeistert von der Gelassenheit, die die Autorin trotz nicht immer schöner Erlebnisse behält. In einer weiteren Roman-Rezension widmet sich Paul Gensler dem neuen Philosophen-Roman von Irvin D. Yalom „Das Spinoza-Problem“, welches beim Rezensenten jedoch nicht so gut weg kommt. Zum Schluss geht Ismail Küpeli auf das Buch „Ordnung und Gewalt“ von Stefan Plaggenborg ein, sieht die angestrebten Intentionen jedoch nicht verwirklicht.

Noch ein kleiner Hinweis für die nächste Ausgabe: Im Januar werden wir nicht wie gewohnt am ersten, sondern ausnahmsweise am zweiten Dienstag erscheinen, also dem 8. Januar.

Weiter zur Ausgabe 24.

Auf der Suche

Der EindringlingDaniel, ein 25-jähriger Student, ist von beschaulichen Göttingen nach Berlin gezogen. Hier hofft er, der Kontrollfreak, nicht nur sein Lehramtsstudium abzuschließen, sondern auch seinen Vater Fil näher kennenzulernen. Der Kontakt zu seinem Vater beschränkte sich auf einige wenige Besuche, bis der Kontakt abbrach. Zu unterschiedlich schienen die Lebenskonzepte zwischen dem politisch aktiven Vater und dem in der kleinbürgerlichen Familienidylle aufwachsendem Daniel.
Angekommen in Berlin, dem hippen Touristenmagneten, wird Daniel mit der tödlichen Krankheit Fils konfrontiert.
Jetzt, wo der Vater im Krankenhaus liegt und nicht ansprechbar ist, gerät das Leben von Daniel zunehmend aus seinen geregelten Bahnen. Es interessiert ihn nicht mehr der „Wer hat mehr Facebook-Freunde“-Wettbewerb mit seinem Mitbewohner, die Seminare und Prüfungen. Wer will wissen, wer sein Vater ist und zieht nach Kreuzberg in dessen Wohnung.
Seine Suche führt ihn zurück in die Jahre der Hausbesetzer und der IWF-Proteste 1988, zu Ela, der Ex-Freundin von Fil und zu Beule, dem besten Freund seines Erzeugers.

Raul Zelik konfrontiert seinen politisch naiven, aber aufgeschlossenen Protagonisten, mit der Geschichte und nachdem Sinn nach linksradikalem Aktivismus fragen und erzählt damit eine spannende Epoche Westberliner Geschichte.

Daniel wächst, je näher er dem Vater und seiner Geschichte kommt, aber auch je mehr er die Kontrolle über sein eigenes Leben verliert.

Zelik gelingt es in seinem Roman einen Bogen zu spannen zwischen der linksradikalen Hausbesetzerzeit der achtziger Jahre und dem Berlin der Gegenwart.

Raul Zelik: Der Eindringling
ISBN : 978-3-518-12658-5 | 292 Seiten | Oktober 2012 | 14 € | Edition Suhrkamp Nr. 2658

kritisch-lesen.de Nr. 23: Arabische Revolutionen

Szene bei der sog. "Sicherheitskonferenz" in München, 2009
Im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ gingen in Ländern Nord-Afrikas und des Nahen Ostens zahlreiche Menschen auf die Straße. Die Proteste richteten sich dabei mehrheitlich gegen soziale Missstände und politische Unterdrückungen. Dabei kam es in manchen Ländern zu revolutionären Umstürzen, in anderen Ländern waren die Proteste weitaus begrenzter. Die Proteste überraschten, schließlich waren die Vorstellungen in Deutschland bislang durch ein Bild Nord-Afrikas und des Nahen Ostens als rückschrittlich und anti-emanzipatorisch geprägt. In hegemonialen Medien wurden sie jedoch zunächst begeistert aufgenommen. Dabei wurde verstärkt auf die Idee der „arabischen Welt“ zurückgegriffen, die sich von „dem Westen“ abgrenzt. Positiver Bezug wurde vor allem auf die Entwicklungen in Ägypten, Libyen und Tunesien genommen. Syrien wurde aufgrund der politischen Entwicklungen zunehmend als Bürgerkriegsland beschrieben. Auf andere Länder Nord-Afrikas wurde in der Vergangenheit weniger Bezug genommen. Die Verantwortlichkeit deutscher Außenpolitik am Machterhalt der jeweiligen Regime wird dabei oft unter den Teppich gekehrt. Vielmehr wird zunehmend die Verantwortung der Bundesregierung betont, am Aufbau demokratischer Strukturen und marktwirtschaftlicher Reformen zu helfen. Während Deutschland als demokratischer Staat behandelt wird, scheint in Ländern Nord-Afrikas dieser Prozess der Demokratisierung noch bevor zu stehen.

Im vergangenen Jahr wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Publikationen veröffentlicht, die sich mit den arabischen Revolutionen befassen. Andrea Strübe rezensiert das Buch „Arabischer Frühling“ von Tahar Ben Jelloun - eine Monographie, die die Verantwortung europäischer Staatschefs am Machterhalt der repressiven Regime Nord Afrikas und des Nahen Ostens hervorhebt. Anschließend widmet sich Philipp Jedamzik dem Buch „Leben als Politik“ von Asef Bayat, der die Alltagshandlungen von strukturell marginalisierten Menschen in den urbanen Zentren des Nahen Ostens fokussiert und nach dem gesellschaftlichen Veränderungspotential fragt, welches diesen Handlungen innewohnt. Sara Madjlessi-Roudi rezensiert den Sammelband „Die arabische Revolution“ von Frank Nordhausen und Thomas Schmidt, der Analysen zum Protest in elf Ländern umfasst. Dem folgend betrachtet Sebastian Kalicha das Buch „Tahir und kein zurück“ von Juliane Schumacher und Gaby Osman. Er sieht darin eine gelungene linke Analyse, die sich der bisherigen Berichterstattung deutscher Medien widersetzt und Hintergrundinformationen zu den revolutionären Ereignissen in Ägypten vermittelt. Eine weitere Analyse aus linker Perspektive schließt sich dem an: Sibille Merz rezensiert eine Sonderausgabe zu den arabischen Revolutionen der Monatszeitung Analyse und Kritik.

Den Anfang bei den Rezensionen außerhalb des Schwerpunkts macht Ismail Küpeli, der den Sammelband „Die EU in der Krise“ der Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ bespricht, ein Sammelband, der Grundlegendes für eine kritische Europaforschung und zu autoritären Tendenzen in der Krise vermittelt. Adi Quarti gibt in seiner Rezension „Was sollte man unbedingt lesen?“ einen Einblick in den Roman „Manetti lesen - oder vom guten Leben“ des Autors P.M., dessen neuestes Werk sich zwischen ein wenig zu viel Utopie und einer Chronik des Widerstandes bewegt. Aus der Nomos-Reihe Staatsverständnisse bespricht Maximilian Pichl „Der Nomos der Moderne“ – ein Sammelband zu den Arbeiten Giorgio Agambens. Die Beiträge schließen laut dem Rezensenten zwar an zentrale Theoreme Agambens an, hinterfragen diese jedoch auch kritisch und zeigen Leerstellen auf. Warum Wirtschaft mehr ist als Mathematik, zeigt Patrick Schreiner zufolge Tomáš Sedláček in „Die Ökonomie von Gut und Böse“. Sedláčeks Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften sei allerdings nicht aus einer linken Perspektive verfasst und dementsprechend fehle eine Kritik des Neoliberalismus. Friedrich Engels Analysen zum Staat widmet sich eine weitere Publikation in der Reihe Staatsverständnisse, der es Rezensent Philippe Kellermann zufolge jedoch an einer umfassenden historischen Kontextualisierung mangelt.

Weiterlesen in der am 06. November erschienenen 23. Ausgabe.

Kachelmann wirft mit Wolkenballen. Trifft aber nur einmal halbwegs.

Frau Nebenklägerin oder das Gericht haben einen Fehler gemacht beim einstweiligen Verbot des Kachelmann-Buchs.

Sie haben es verboten bis zur Tilgung des Nachnamens der Betroffenen. Ins Verbot aber nicht eingeschlossen alles, was schon "im Verkauf ist".

Dazu gehören offenbar auch die Versandbuchläden wie AMAZON, die anstandslos die E-Book-Fassung ausliefern. Insofern ist eine Kurzorientierung für alle Interessierten jetzt schon möglich.

Das Buch schwillt vor dem Leserauge oder - später - in seiner Hand. Es schwillt von Zorn. Das wäre nach der Untersuchungshaft nur zu verständlich. Leider auch von Wiederholung. Die durch die hinzugefügten Berichte der Lebensgefährtin und inzwischen Ehefrau nicht weniger lasten.

Die Schilderung des Innenlebens in unserem Zentralknast Bruchsal ist eindrucksvoll für diejenigen, die wesentlich präzisere Berichte in indymedia nie zur Kenntnis nahmen. Kachelmanns Klagen leiden vor allem darunter, dass er die meiste Zeit nur darüber staunt, dass ihn, gerade ihn, der Zugriff der Behörden so hart traf.  Als ob das Leiden nicht allgemein wäre. Über der Betrachtung seines Einzelschicksals versäumt er, den wirklichen Treffer seiner Anklagen herauszuarbeiten. Dass nämlich in unserem Vaterland viel zu schnell - und zwar generell - zum Mittel der Untersuchungshaft gegriffen wird. Um zum Ziel zu gelangen: Angeklagten-Geständnis. Zumindest Angeklagten - Zermürbung. Da werden Gründe herangekarrt:

Verdunklungsgefahr - Fluchtgefahr - dringender Tatverdacht. So etwa jetzt im überflüssigsten aller Nachklappverfahren - gegen die Revolutionären Zellen, wo einer betagteren Angeklagten die Haft nur deshalb weiter verlängert wird, weil sie in Erwartung einer langjährigen Bestrafung ja jedes Motiv hätte, abzuhauen und irgendwo unterzutauchen. Und wenn schon? Welchen Verlust würde dabei das deutsche Staatswesen oder das "allgemeine Rechtsempfinden" erleiden? Nachdem die betreffende Person jahrzehntelang nichts gegen diesen Staat und seine Bewohner unternommen hat.

Es wäre wünschbar gewesen, dass der prominente Autor gerade darauf mehr Aufmerksamkeit verwandt hätte. Damit auch alle mal zusammenschrecken, die niemals Angehörigen-Info oder Ähnliches anfassen würden.

Kachelmanns zweite Anklage betrifft etwas, das bescheideneren Zeitgenossen nicht passieren kann. Nämlich die Lügenkartelle der Presse, die sich nicht überbieten lassen wollen an gesteigerten Greuelnachrichten über Betroffene. Hier macht Kachelmann immerhin glaubhaft, dass all die Lügenknäuel nicht hätten gestrickt werden können, wenn nicht Polizei und vielleicht auch Staatsanwaltschaften freudig Garn dazu an die Redaktionen oder Mittelsmänner geliefert hätten.

Aus den Zeiten der Prozesse gegen die RAF selbst ist solche Zusammenarbeit noch gut erinnerlich. Staatstragend gefördert von presseähnlichen Hervorbringungen und durch Zuarbeit staatlichen Personals.Dahin wendet sich der Blick des Wetterkundlers leider nicht.

Der Rest - wie gesagt - tränenschwer, aber - ziemlich - inhaltsleer. Auch nach Freigabe des Werks nur solchen zum Kauf zu empfehlen, die unbedingt den Nachnamen einer rachebrütenden Verlassenen kennen lernen wollen. Wir wissen ihn jetzt, aber verraten ihn nicht. Der letzte Teil des Werks ist jetzt schon mit Details über Gegendarstellungen etc. verstopft. Wir möchten nicht in juristische Gewitter geraten.

Quelle: Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz von Jörg Kachelmann und Miriam Kachelmann von Heyne Verlag (Gebundene Ausgabe - 15. Oktober 2012, EUR 19,99)

kritisch-lesen.de Nr. 22 - Ökologie und Aktivismus

Die Erde, von auswärts gesehen.
Foto NASA
Lizenz: Public Domain
Der linke US-amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut verfasste, nachdem er sich über die besorgniserregende ökologische Situation in Rage geschrieben hatte, verbittert eine Grabinschrift für den Planeten Erde: „The good Earth – we could have saved it, but we were too damn cheap and lazy.“ Verbitterung kann sich schnell breit machen wenn man sich mit ökologischen Fragen in Theorie und Praxis auseinandersetzt. Zu aussichtslos scheint die Situation; zu viele Rückschläge erleidet man in der tagtäglichen aktivistischen Arbeit; zu wenig konsequente Schritte werden getätigt. Dabei gibt es aber durchaus auch Hoffnungsschimmer: Die weltweite Anti-AKW-Bewegung ist seit Fukushima so laut wie in ihren besten Tagen (und die Atomindustrie in schwerer Bedrängnis); weltweit gehen Menschen gegen Gentechnik, Biopiraterie und den „Nahrungstotalitarismus“ (Shiva) transnationaler Konzerne auf die Barrikaden; indigene Gemeinschaften setzen sich gegen neokoloniale „Entwicklungsprogramme“, Landraub und die damit einhergehende Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen zur Wehr; verschiedenste Gruppen und TheoretikerInnen gehen zunehmend über das schlichte Appellieren an politische EntscheidungsträgerInnen hinaus und erkennen die offensichtliche Verbindung zwischen dem ökologischen Desaster und kapitalistischer Ausbeutung – denn kapitalistische Maximen wie Profitmaximierung oder „Wachstum“ haben auf das fragile Ökosystem mindestens ebenso destruktive Auswirkungen wie auf die Menschen, die davon betroffen sind. In diesem Sinne wollen wir uns diesen Monat dem breiten Themenfeld „Ökologie & Aktivismus“ widmen und unterschiedliche Diskussionen und Themen anhand von fünf Büchern zum Thema aufbereiten.

Den Beginn macht Jens Zimmermanns Rezension des monumentalen Werks „Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte“ des Umwelthistorikers Joachim Radkau. Der Rezensent attestiert dem Werk zwar, historisch umfangreich und einwandfrei zu sein, jedoch analytisch einige Schwächen zu haben. An das Stichwort der „Weltgeschichte“ anknüpfend, beschäftigt sich die zweite Rezension mit der Widerstandsbewegung gegen die Narmada-Staudämme in Indien. Horst Blume führt anhand des Buches „Staudamm oder Leben!“ von Ulrike Bürger eindringlich in die Thematik ein und diskutiert die ökologischen und menschenrechtlichen Probleme derartiger Megaprojekte sowie Facetten des Widerstands dagegen. Ebenfalls im indischen Kontext diskutiert die bekannte Ökofeministin Vandana Shiva Themen wie Nachhaltigkeit, Biopiraterie und Lebensmittelsouveränität sowie die ökologischen Folgen der neoliberalen Globalisierung. Sebastian Kalicha bespricht in „Nahrungstotalitarismus" Shivas Buch „Geraubte Ernte“. Salvatore Paradise wirft einen kritischen Blick auf das Buch „Stromwechsel. Wie Bürger und Konzerne um die Energiewende kämpfen“ der taz-Redakteure Hannes Koch, Bernhard Pötter und Peter Unfried. Obwohl das Anliegen einer Energiewende mit Sicherheit ein legitimes und nützliches ist, kritisiert er in „Die deutsche Spielart eines grünen Kapitalismus“ den Versuch der Autoren, lediglich den sogenannten „grünen Kapitalismus“ salonfähig machen zu wollen. Zum Schluss rezensiert Adi Quarti noch den Klassiker „Ökologie der Angst. Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe“ des Soziologen Mike Davis. Obwohl bereits 1998 erschienen, zeige das Buch laut dem Rezensenten die „auch heute noch relevanten Verbindungen zwischen Ökologie und urbaner Armut auf“ und sei ein „beängstigend aktuelles Buch“.

Die aktuellen Rezensionen dieser Ausgabe eröffnet Heinz-Jürgen Voß mit seiner Rezension „Schwule in der Nazi-Zeit“ und warnt hier eindringlich davor, ebenjene nicht schlicht als Gruppe von Opfern zu homogenisieren, wie es leider häufig der Fall sei. Den „Bildern der Nation“ widmet sich Selma Haupt anhand des Werkes „Die Imagination der Nation“, welches das „nationale Ding“ in literarischen und filmischen Produktionen untersucht. „Die Politik der Schulden“, die in David Graebers Buch „Schulden“ anthropologisch dargelegt wird, nimmt sich Moritz Altenried vor und knüpft damit an die bereits in kritisch-lesen.de #19 gestartete Debatte über die deutsche Rezeption von David Graeber an. Er lobt an diesem vielbeachteten Werk die historische Aufarbeitung des Themas. Eine historische Aufarbeitung in etwas anderer Hinsicht unternimmt das Buch „Die Sowjetmacht. Das erste Jahr“, das von Philippe Kellermann als gelungen bewertet wird. Abschließend widmet sich peps perdu in „Reclaim your Beauty“ den Ausgrenzungsmechanismen anhand von Körpernormen wie Attraktivität und Schönheit.

Weiterlesen in der am 2. Oktober erschienenen Ausgabe von kritisch-lesen.de.

Buschkowsky - der ausgerutschte Realist beim Eintritt ins Rechtskartell.

Buschkowsky ist verdächtigt worden, den neuen Sarrazin machen zu wollen. Zu Unrecht. Er macht es viel geschickter. Und spielt den ungeheuren Vorteil aus, den Gegenstand genau zu kennen, von dem ein Sarrazin bloß Statistikzahlen träumt. Insofern gelingen ihm ohne weiteres eindrucksvolle Szenerien von Säufern, Schulschwänzern und U-Bahnkrakeelern, die jedem ähnliche Zusammenstöße in Erinnerung rufen. Und jede und jeden ärgerlich zusammenfahren lassen. Selbst zur Satire findet sich Waschkowsky geneigt. Wenn er etwa den Uraltspruch variiert: "Und wenn ich nicht mehr weiter weiß, dann gründ ich einen Arbeitskreis". Bei jedem auftauchenden und natürlich ungelösten Problem drängeln sich Fachleute in Berlin um neue Posten.

Soweit alles in Ordnung. Bei größtem Wohlwollen ließe sich so ein Schilderer mit Balzac vergleichen. Der war politisch bekanntlich eher Königsanhänger, schilderte aber so genau und eingehend seine Aufsteiger und Absinker in der frühen bürgerlichen Epoche, dass Marx und Engels ihn als einen der genauesten Widerspiegler der Zeitumstände nach Napoleons Abgang in Frankreich anerkannten.

Allerdings rutscht unser Berliner regelmäßig aus.Bei Buschkowsky prescht leider grundsätzlich die propagandistische Absicht vor - und aller Realismus wird ins Ideologische verdreht. So gelangt er zum Beispiel zu Folgerungen aus seinen Erfahrungen, die als Maxime ohne jeden Beweis einmarschieren. Etwa sinngemäß in der Behauptung: "Nicht jeder Schulschwänzer wird einmal Verbrecher. Aber alle Verbrecher waren einmal Schulschwänzer." (Ohne Seitenangabe zitiert, da nur eine Kindle-Ausgabe als Quelle vorliegt). Hat Buschkowski da die Himmlers und Goebbels ganz vergessen,die richtig schulgeil waren - oder auch nur die Hochstapler in intellektuellen Kreisen, die ohne ziemliches Vorwissen wohl kaum durchgekommen wären?

Hauptmangel des Buches, auch wenn alle aufgeführten Details stimmen sollten: der Denkstil. Von Anfang an schmiedet Buschkowsky die gesamte Leserschaft zu einem Block zusammen. Den Block der unter sich einverstandenen Ureinwohner, die mit vollem Recht verlangen können, dass jeder Hinzukommende sich nach ihnen richtet. Und zwar nicht nur im rechtlichen Sinn. Sondern in jeder Einzelheit ihres alltäglichen Verhaltens. Immer wieder im Anklageton: Wenn welche schon zu uns kommen wollen, dann ist es wohl das Mindeste, dass sie unsere Bräuche kennenlernen und sich danach richten.Nur, wenn ich mich auf mich selbst zurückwende, finde ich in der Eile in mir solche Maßstäbe gar nicht. Was hätte ich gern, dass solche Neubürger beachten sollten? Weniger Lärm vielleicht, wenn sie gruppenweise in Kneipen zusammensitzen. Nur den Wunsch würde ich ohne Klassenrücksichten auch an viele andere Ur-Einwohner richten, wenn ich zufällig in ihre Mitte gerate. Und in einem solchen Fall ist
Buschkowkis Rat wahrscheinlich zu akzeptieren. Wenn es Dir im Lokal "zum Löwen" nicht gefällt, zieh einfach aus und um zum "Restaurant Fasan".

Recht hatte der bekannte Autor gestern bei Maischberger, als er betonte, dass seine Verbesserungsvorschläge sich nicht an eine bestimmte Art Einwanderer richteten, sondern an alle, die "unseren" Ansprüchen nicht entsprechen. Damit verfällt allerdings das ganze Prekariat seinem Urteil. Und seine Denkweise enthüllt sich nicht so sehr als rassistisch, denn als Heilmittel gegen jede Art von Denken in Kategorien des Klassenkampfs.

So genau dieser Sozialdemokrat das Auseinanderfallen aller denkbaren Lebenswelten in seinem Bezirk schildert, in regem Aufgebot des Abwertungsattributs parallel, so fern steht ihm der Gedanke, dass alle Angehörigen der "Unterschicht" zusammen sich auflehnen müssten gegen materielle und psychische Unterdrückung. Gerade wo Buschkowsky holländische Verhältnisse schildert mit den Rechten der dortigen Polizei auf Begutachtung und selbständige Eingriffe, merkt man dem Staatsmann seine Leidenschaften an. Im günstigsten Fall von Kindergartenpflicht - Schulpflicht - Ernstmachen mit allen staatlichen Bedrohungen könnte nichts herauskommen als Dressur. Dressur der Unteren nach dem von Buschkowsky eingebildeten Maßstab von "uns". Es wäre Drill in Reinkultur.

Das Buch hat schon regen Beifall gefunden und wird ihn weiter finden, wenn erst die Buchläden die vorderen Regale freigeräumt haben. Buschkowsky kann und wird sich - cleverer als Sarrazin - als der anständige und gemäßigte Vertreter der gesunden bürgerlichen Belange ins Schaugeschäft einarbeiten und vor allem von seinen SPD-Genossen begeistert herangezogen werden, wenn sie gerade mal wieder Lust auf etwas Polizeiliches in einem Stadtkern verspüren. Also vorwärts mit Buschkowsky!

Freiheitlicher wird es allerdings dadurch auch nicht.

Quelle: Neukölln ist überall. Von Heinz Buschkowsky, 400 Seiten
Verlag: Ullstein Hardcover (21. September 2012)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3550080115
ISBN-13: 978-3550080111

    kritisch-lesen.de Nr. 21 - Polizei im Rassismus

    Photograph by Tomasz Sienicki
    Lizenz: Creative Commons-Lizenz Namensnennung 3.0 Unported
    Quelle
    Rassistisches polizeiliches Handeln wird sowohl von Mainstream-Medien als auch von Politiker_innen nur selten aufgegriffen. Erfahren dennoch – aufgrund erfolgreicher Kampagnenarbeit durch Aktivist_innen (etwa Initiative Oury Jalloh oder Initiative Christy Schwundeck) – einzelne Schicksale von Betroffenen rassistischer Polizeigewalt mediale Öffentlichkeit, wird nicht nur von offizieller Seite häufig von „bedauerlichen Einzelfällen“ gesprochen. Demnach seien rassistische Kontrollen, Misshandlungen oder gar Morde lediglich auf individuelles Fehlverhalten zurückzuführen. Polizei als Institution, in die fest das gesellschaftlich verankerte rassistische Verhältnis eingeschrieben ist, wird dennoch fast nie thematisiert. Hinzu kommt, dass die Polizei über das Gewaltmonopol des Staates verfügt und ihr damit die Legitimation zukommt, für „Recht und Ordnung“ zu sorgen. Polizei kann daher nicht nur als Spiegel der Gesellschaft begriffen werden, sondern auch als Institution, die etwa durch gezielte Kontrollpraxen Kriminalität politisch und medial mit hervorbringen kann. (Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag „Alltägliche Ausnahmefälle“, der in der aktuellen Ausgabe der antirassistischen Zeitschrift ZAG erschienen ist). Rassistische Polizeihandlungen sind als Form des institutionellen Rassismus zu betrachten, wie Hannah Eitel anhand der Broschüre „Institutioneller Rassismus“ des Migrationsrates Berlin Brandenburg aufzeigt. Eitel sieht in der Broschüre ein detailliertes Bild rassistischen Alltags dargestellt, bei dem polizeiliche Praxis nicht ausgespart bleibt. Dass das Thema „Polizei im Rassismus“ im deutschsprachigen Raum unterrepräsentiert ist, zeigt sich auch anhand der bisher erschienenen Publikationen. Es finden sich nur sehr wenige Veröffentlichungen zum Thema, weshalb wir uns in dieser Ausgabe auch englischsprachiger Literatur zugewendet haben. Biplab Basu hat sich die Studie „But Is It Racial Profiling?“ genauer angeschaut. Die Studie zeigt, dass bei einer beträchtlichen Anzahl von polizeilichen Kontrollen, Rassismus für die Polizist_innen handlungsleitend ist. Racial Profiling beschreibt diese gängige Polizeipraxis, nach der Menschen aufgrund rassialisierter Attribute polizeilich kontrolliert werden. Die Praxis, Menschen zum Beispiel wegen ihrer Hautfarbe zu kontrollieren, wurde jüngst von dem Verwaltungsgericht Koblenz als legitim erklärt (dagegen gab es einige Proteste, etwa eine Petition, die über 15.000 Menschen unterzeichnet haben). Johanna Mohrfeldt ermöglicht in ihren beiden Rezensionen „Rassistische Polizeipraxis im demokratischen Rahmen“ und „Pionierarbeit trotz eingegrenzter Perspektive“ sowohl Einführung als auch Vertiefung zum Thema Racial Profiling anhand von Studien aus verschiedenen Ländern. Eine der wenigen in deutscher Sprache erschienen Veröffentlichungen, die das Thema Polizei im Rassismus aufgreift, ist der Bericht „Täter unbekannt“ von Amnesty International. Die Rezensentin Laura Janßen sucht allerdings darin vergeblich nach einer kritischen Analyse. Abschließend lobt peps perdu in der Rezension zu „Banlieues. Die Zeit der Forderungen ist vorbei“ den Perspektivenreichtum dieser Textsammlung. Das Buch zeigt auf, wie Rassismus und räumliche Ausgrenzung zusammen spielen.

    Um sich weiter mit dem Thema rassistische Polizeigewalt zu befassen, empfehlen wir darüber hinaus den Besuch der Konferenz „Racial Profiling Reloaded“ der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt, die am 12. und 13. Oktober in Berlin sattfinden wird (weitere Informationen auf der KOP-Homepage).

    Bei den weiteren Rezensionen richtet zunächst Martin Brandt den Blick auf das neue Buch von Heinz-Jürgen Voß. In „Intersexualität – Intersex“ plädiert Voß für Brandt in überzeugender Weise für ein konsequentes Ende der medizinischen Eingriffe an Neugeborenen und Kleinkindern aufgrund der Diagnose „Intersex“. Wenig überzeugend findet hingegen Sebastian Friedrich den Versuch des Medientheoretikers Byung Chul-Han, seinen populären Essays in „Topologie der Gewalt“ ein theoretisches Fundament zu verpassen. Friedrich stellt in seiner Rezension „Große Hülle, kleiner Kern“ fest, dass Han letztlich wenig Substanzielles anbiete. Weitaus Substanzieller erscheint für Adi Quarti die Analyse der „Sicherheitsarchitektur 9/11“ von Stuart Price, der die veränderten Formen der Repression im Neoliberalismus untersucht. Patrick Schreiner widmet sich anschließend dem Buch „Bankrotteure bitten zur Kasse“ von Jürgen Leibiger, in dem richtige Fragen und Ansätze präsentiert werden, wenngleich Schreiner nicht alle Antworten überzeugen. Schließlich lobt Ismail Küpeli die Dissertation „Der ethnische Dominanzanspruch des türkischen Nationalismus“ von SavaÅŸ TaÅŸ als eine Analyse, der es gelingt, die ideologischen Komponenten des türkischen Nationalismus zu dekonstruieren.

    Weiterlesen in der am 4. September erschienenen Ausgabe von kritisch-lesen.de

    Höhler: Heiße Tränen einer Gläubigen werfen keine Blasen auf Merkels Haut...

    Angela Merkel
    Bildquelle:
    Armin Linnartz
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    Abendnachrichten freitags: Zu sehen ein zerknirschter Herr aus Griechenland. Und eine Kanzlerin - mit zwei Aussagesätzen. Mehr Geld gibt es nicht. Mehr Zeit auch nicht. Dann aber: Merkel wünscht von ganzem Herzen, dass Griechenland in der EU bleibt.

    Das Unvereinbare beider Sätze liegt auf der Hand. Wird weder von Merkel noch von den Kommentatoren erwähnt. Als wäre das Unvereinbarste zugleich das Angemessene.

    Zu diesem Schauspiel liefert Gertrud Höhler in ihrem neuen Buch "Die PATIN" die einleuchtendste Deutung. Das Undurchschaubare ist beabsichtigt. Es ist geradezu der Kern von Merkels Erfolgen.Unberechenbarkeit erlaubt ihr, immer neu und überraschend aus dem Dunkel vorzupreschen.

    Gertrud Höhler zeichnet den Weg dieser Politikerin scharf und bitter nach.

    Wichtig vor allem ihr Nachweis, dass die Ausschaltung des Parlaments volle Absicht ist. Wo Parlament schwindet, soll Staat die Regie übernehmen. Wo ursprünglich Parteien ihre Rolle als Opposition wahrzunehmen hatten, stehen sie jetzt fassungslos vor dem Themenklau Merkels. Was können GRÜNE noch anmelden, wenn die Energiewende jetzt von der Regierung selbst übernommen wird? Was die SPD, wenn der Mindestlohn selbst in den schwärzesten Regionen der Regierungspartei Gefallen findet? Was die FDP, wenn doch unsere Kanzlerin die größte Vorkämpferin für freie Wirtschaft sein will? (Es aber keineswegs ist, wie Höhler später ausführt)

    Auch an der Schlussfolgerung Höhlers ist nichts auszusetzen: Wenn alles so weiter läuft, wie Merkel sich das vorstellt, dann steht nichts mehr fest. Alles wird möglich sein. Nur allerdings- nach dem Willen des Regierungschefs. Nicht nach den Richtlinien, die wir uns bisher als Demokratie vorgestellt haben.

    Von daher gesehen ein schnittiges und schneidendes Buch - dazu geschaffen, uns alle Tricks der Obermanipulatorin ins Gedächtnis zu rufen und richtig einzuordnen.

    Es ist mir gelungen, das Buch über Kindle rasch reinzuziehen, so dass mich zumindest die Vorwürfe der Autorin nicht treffen können, das Buch sei ungelesen beurteilt worden.

    Verblüffend bleibt nach der Lektüre, dass verschiedene Wesen fast zu Heiligen erhoben werden mussten, um den Kontrast zur Verderberin Merkel plastisch herauszuarbeiten. Gauck etwa. Er, von allen mit Recht als Generalverwalter der gesammelten Ressentiments in Ost und West eingeschätzt, soll als Apostel der Freiheit endlich das Widerwort gefunden haben gegen die Vertreterin der Beliebigkeit. Auch tut Höhler so, als glaube sie Kohl in vollem Ernst seine Ausrede mit dem gegebenen Ehrenwort. Damit hätte er nach ihr an einem höheren Wert festgehalten, den seine damalige Anklägerin Merkel gar nicht zu schätzen gewusst hätte.

    Ebenso bekommen die Liberalen insgesamt so manches warme Huldwort ab. Trotz ihrer Plattwalzung unter Merkel hätten sie doch den Wert der Freiheit begriffen und kämpften immer noch dafür. Kaum erwähnt die Steuersenkungsspässe für Hotels und andere niedere Bewegungen, die nur der Klientel dienen sollten, sonst gar niemand.

    So bewundernswert die Bewegungen Merkels beim Geschäft des Machterhalts beschrieben werden, es fällt doch eines auf, je länger man liest: Sämtliche Vorgänger kommen im Vergleich zu ihr fast engelhaft weg. Wenn Höhler etwa genau die Tendenz Merkels beschreibt, sich eher als Präsidentin des ganzen Volkes denn als Führerin einer bestimmten Partei hinzustellen, und deshalb das reale Präsidentenamt systematisch degradiere - um die Position mitzuübernehmen, hat sie dabei ganz die Vorgängerversuche vergessen, sich präsidial zu kostümieren.Mit Adenauer angefangen, der auf seine alten Tage geil nach dem Amte greifen wollte - bis er merkte, dass ein Präsident leider in der Bundesrepublik zu wenig zu sagen hat für die Bedürfnisse eines Exkanzlers.

    Gar nicht werden die Diktaturgelüste des Basta-Kanzlers Schröder erwähnt. Ihm gegenüber lässt sich Merkels Technik als Verbesserung verstehen - sie grinst breiter bei den ausgeteilten Fußtritten- aber nicht als absolute Neuerung.

    Höhlers Zorn lässt sich nur ganz nachempfinden, wenn man kurzfristig ihre Fiktion teilt, bis zu Merkel hätte es eine Partei voller Grundwerte gegeben, an die sich alle Mitglieder gehalten hätten.Die bisherige CDU! Als enttäuschte Magdalena tritt Gertrud Höhler auf, die im Garten von Gethsemane auf ein Grab trifft, in dem als Leiche der ehemals für Gott gehaltene Jesus liegt. Und alle Verheißungen sind dahin. Und er kommt niemals wieder. Was bleibt dann anderes als der Aufschrei und die unendliche Klage?

    Auch gibt Höhler keine Antwort auf die Frage, warum SPD, GRÜNE und FDP sich ohne äußeren Zwang alles gefallen lassen, womit Merkel sie vor aller Augen betrügt. Also kann die mehr oder weniger überzeugende Herleitung der heutigen Merkel aus der ehemaligen Täuscherin und Schweigerin in der DDR einfach nicht die einzige Erklärung für die gegenwärtigen Übel sein. Schließlich waren unsere Steinmeiers und Roths keinen Tag in der DDR - und liegen doch platt wie Pfannekuchen vor den Füßen der Herrin... Also müssen die gegenwärtigen Verbrechen Ursachen haben, die nicht in einer Einzelseele sich verstecken.

    Dieses Begrenzte der Analyse wird Gertrud Höhler nur abstreifen können, wenn sie die Verwandlungen der Gesamtgesellschaft ins Auge fasst. Wenn sie die Grenze hin zu den Theoretikern überschreitet, die schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nachwiesen, dass sämtliche Staaten, wie demokratisch sie sich auch geben, ein Zusammenwirken und Zusammenwachsen der großen Kapitalien- vor allem des Bankenmanagements - mit den staatlichen Instanzen nötig haben, um sich überhaupt in einer Zeit brutalster Krisen noch halten zu können. In diesem Rahmen würden Höhlers Beobachtungen erst ihren Wahrheitswert entfalten können.

    Schaden wird Höhlers Kritik der "Patin" bei den Wahlberechtigten kaum. Einfach, weil sie gerade die Charakterlosigkeit der Vorbellerin Merkel schätzen. Ihre Wendigkeit. Sie hängen viel lockerer an den frommen Sprüchen der CDU als am momentanen Erfolg. Und werden ihr so lange nachlaufen, so lange die Tricks Merkels Vorteile versprechen. Fritz Güde

    Bibliographischer Nachweis: Die Patin: Wie Angela Merkel Deutschland umbaut

    kritisch-lesen.de Nr. 20: Sommerausgabe

    Foto: Luc Viatour / www.Lucnix.be
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    Wir begegnen den sommerlichen Urlaubsflüchten in dieser Ausgabe nicht mit einem inhaltlichen Schwerpunkt, dafür aber mit einigen Literaturempfehlungen für laue Sommerabende und – wer's klassisch mag und es sich leisten kann – für den Strand. Zu Beginn schreibt Martin Brandt in „Zu bunt fürs Grau" über die biographischen Auseinandersetzungen Ronald Schernikaus mit der zwar kritisierten, aber auch verteidigten Wahlheimat DDR und dem kapitalistischen Nachbarn. Sebastian Kalicha empfiehlt eine Auseinandersetzung mit der progressiven Rap-Lyrik der Linzer Hip-Hop-Combo TEXTA, deren Texte nun in den„TEXTA-Chroniken“ veröffentlicht wurden, denen der Rezensent nicht nur sozialkritische und politische, sondern auch literarische Qualität bescheinigt. Zu wenig an Reflexion bescheinigt Paul Gensler der deutschen Linken und sieht daher in „Die Finkler-Frage“ von Howard Jacobson eine Möglichkeit, den auf Juden und Jüdinnen projizierten Bildern immer kritisch, aber manchmal auch ironisch beziehungsweise sarkastisch zu begegnen und einen Blick auf jüdisches Leben in der Postmoderne zu richten. Einen Blick zurück wirft Tompa Láska in seiner Rezension „Die Entdeckung der Biographie" und beleuchtet dabei verschiedene Lebensabschnitte von Harry Mulisch. Innere Zerissenheit, Angst vor dem was kommt und die Einsicht, dass Menschen sich doch immer auch weiter entwickeln können, sind dabei nur einige Eindrücke die das Buch hinterlässt. Franziska Plau sieht in dem Buch „Begegnungen auf der Trans*fläche“ eine gute Gelegenheit, sich mit dem Alltagsleben von Trans*menschen auseinanderzusetzen, ohne, dass bei den Geschichten des Buches der Humor außen vor gelassen würde. Gerlinde Kirma hat sich dem bereits vor einigen Jahren erschienen autobiographischen Roman„Die kalten Nächte der Kindheit" von Tezer Kiral gewidmet und Jorane Anders hinterfragt mit „Jungfrau“ von Thomas Meinecke religiös fundierte Keuschheit.

    Welche unerwarteten Wendungen ein Leben bereithält, zeigt Sebastian Kalicha am Beispiel von Hans und Hedi Schneider. In seiner Rezension „NS-Terrorjustiz as usual" beschreibt er den Weg dieses österreichischen Ehepaares, das wegen einer Lappalie in die Mühlen der NS-Unrechtsjustiz geriet. Philippe Kellermann weist in seiner Besprechung von „Nie wieder Kommunismus?“ darauf hin, dass trotz des sympathischen Anliegens des Buches es dennoch einen ambivalenten Eindruck hinterlässt. Exemplarisch dafür untersucht er insbesondere einen Artikel des Sammelbandes näher. Ismail Küpeli geht mit „Vom Scheitern der Gleichung Europäisierung = Frieden" auf die Suche nach dem Umgang mit dem „Kurdenkonflikt“ vor dem Hintergrund der EU-Annäherung durch die Türkei. Heinz-Jürgen Voß widmet sich mit „Wenn jungen Menschen Hoffnungen genommen werden" der Untersuchung Stefan Wellgrafs der Institution Hauptschule und der „Wertlosigkeit“, die den Schüler_innen in Gesellschaft und Schule immer wieder eingetrichtert wird. Schließlich widmet sich Sebastian Friedrich der „Sprache des Neoliberalismus" anhand des Sammelbands „Imagine Economy“.

    Wir wünschen Euch einen schönen Sommer und viel Spaß beim kritischen Lesen in der 20. Ausgabe vom 7. August 2012

    Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit

    Bertold Brecht, 1954
    Quelle:
    Bundesarchiv, Bild 183-W0409-300 / Kolbe, Jörg / CC-BY-SA
    "Es erscheint selbstverständlich, dass der Schreibende die Wahrheit schreiben soll in dem Sinn, dass er sie nicht unterdrücken oder verschweigen und dass er nichts Unwahres schreiben soll. Er soll sich nicht den Mächtigen beugen, er soll die Schwachen nicht betrügen. Natürlich ist es sehr schwer, sich den Mächtigen nicht zu beugen und sehr vorteilhaft, die Schwachen zu betrügen. Den Besitzenden missfallen, heißt dem Besitz entsagen. Auf die Bezahlung für geleistete Arbeit verzichten, heißt unter Umständen, auf das Arbeiten verzichten und den Ruhm bei den Mächtigen ausschlagen, heißt oft, überhaupt Ruhm ausschlagen. Dazu ist Mut nötig. Die Zeiten der äußersten Unterdrückung sind meist Zeiten, wo viel von großen und hohen Dingen die Rede ist.

    (...) Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will, hat zumindest fünf Schwierigkeiten zu überwinden.

    - Er muss den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird;

    - die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird;

    - die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe;

    - das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird;

    - die List sie unter diesen zu verbreiten."

    Diese Schrift verfasste Bertold Brecht 1938 in Paris zur Verbreitung im faschistischen Hitler-Deutschland.

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