Skip to content

97 Jahre Justizmord an Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti

Sacco (rechts) und Vanzetti (links) als Angeklagte, mit Handschellen aneinander gefesselt
Heute vor 97 Jahren, am 9. April 1927, wurde das Todesurteil gegen die beiden aus Italien in die USA eingewanderten Arbeiter Ferdinando „Nicola“ Sacco und Bartolomeo Vanzetti, die sich der anarchistischen Arbeiterbewegung angeschlossen hatten, verkündet. In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1927 wurden beide im Staatsgefängnis von Charlestown, Massachusetts, hingerichtet.

Morde an Revolutionären und Arbeiterführern mit Hilfe der Justiz sind eng mit der Geschichte der USA verbunden: Die Chicagoer Arbeiterführer Parsons, Spies, Engels und Fischer wurden am 11. November 1887 als Reaktion auf die große Streikwelle Opfer der Klassenjustiz. Die Tradition setzte sich mit den in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts trotz weltweiter Solidaritätskampagnen hingerichteten anarchistischen Arbeitern Sacco und Vanzetti fort. Auch heute gehört die Todesstrafe zu den Mitteln der rassistischen Klassenjustiz in den USA.

„Ich habe nicht nur mein ganzes Leben lang kein wirkliches Verbrechen begangen, wohl einige Sünden, aber keine Verbrechen, sondern auch das Verbrechen bekämpft, das die offizielle Moral und das offizielle Gesetz billigen und heiligen: Die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Wenn es einen Grund gibt, warum Sie mich in wenigen Minuten vernichten können, dann ist dies der Grund und kein anderer.“

Bartolomeo Vanzetti

Kurt Tucholsky widmete ihnen das Gedicht 7,7 („Sieben Jahre und sieben Minuten mussten zwei Arbeiterherzen bluten“).

Sieben Jahre und sieben Minuten
mußten zwei Arbeiterherzen bluten.

Sieben Jahre?

Zellenenge,
Nächte –“ Luft! –“ Visionengedränge.

Zehnmal in die Todeskammer –“
zehnmal den allerletzten Jammer –“
zehnmal: jetzt ist alles aus.

Zehnmal: Grüßt uns die zu Haus!

Zehnmal: vor der eignen Bahre.

Zum Tode verurteilt sieben Jahre.

Sieben Minuten:
Das Blut gerinnt.

Wißt ihr, wie lang sieben Minuten sind –“?
Sieben Minuten Krampf und Qual,

Muskeln zucken noch ein Mal –“
Blut kocht in Venen –“ Hebelgekreisch –“
es riecht nach angesengtem Fleisch –“
irr drehn sich Pupillen –“ das Ding sitzt gebunden
420 lange Sekunden . . .

Strom weg. Tot? Hallelujah!
Bravo! Bravo, U.S.A. –“!

Sieben Jahre und sieben Minuten
mußten zwei Arbeiterherzen bluten.
Sieben Minuten und sieben Jahre –“
Diesen Schwur an ihrer Bahre:

Alle für zwei. Ihr starbt nicht allein.
Es soll ihnen nichts vergessen sein.

(Theobald Tiger, Die Weltbühne, 30.08.1927, Nr. 35, S. 342.)


Vor 32 Jahren: The Truth lies in Rostock-Lichtenhagen

Heute vor 32 Jahren begann in Rostock - Lichtenhagen ein "Volksfest" der ganz besonderen Art: Eine Woche lang, vom 22. bis zum 26. August 1992, griffen mehrere hundert junge Rechtsradikale die Flüchtlingsunterkunft und ein von vietnamesischen VertragsarbeiterInnen bewohntes Haus im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen an. Unterstützt wurde der Mob von über tausend "ganz normalen" Deutschen, die Polizei griff kaum ein. Es handelte sich um die massivsten rassistischen Ausschreitungen der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Der von Mark Saunders und Siobhan Cleary produzierte Dokumentarfilm „The truth lies in Rostock“ dokumentiert die Ereignisse. Er entstand 1993 unter maßgeblicher Beteiligung von Menschen, die sich zum Zeitpunkt der Geschehnisse im attackierten Wohnheim befanden. Deshalb zeichnet sich die Produktion nicht nur durch einen authentischen Charakter aus, sondern versteht sich auch Jahre danach als schonungslose Kritik an einer Grundstimmung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die Pogrome gegen Migranten oder einfach nur „anders aussehende“ überhaupt erst möglich macht. Nicht umsonst sorgte der Film auch in der Linken für eine heiße Debatte um die Frage, in wieweit die rassistischen Übergriffe mit der „Wiedervereinigung“ Deutschlands und dem darauf folgenden nationalistischen Taumel zu tun hatten.

Im übrigen ist deswegen jedwede Orientierung auf staatliche Institutionen (... Politik und Staat dürfen nicht zulassen, dass Rassisten auf der Straße erneut die Oberhand gewinnen....) fehl am Platz. Denn Chemnitz und Heidenau wie auch Lichtenberg und Freital konnten nur in Folge, Billigung und als Ergebnis rassistischer Politik der Bundesregierung als auch der Handlung der Bullen etc. passieren....



• Informationen bei WikiPedia
Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen (Antifa Info Blatt)
Für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung!
Kein Mensch ist illegal!
Mehr Videos
Quellen:
FAU-FFM
Umbruch Bildarchiv
gegen0310
Antifa SFA - Soltau Fallingbostel Walsrode


Alle auf die Straße - gegen die AfD und andere Faschisten - in Ost und West

SharePic zur Kundgebung am 2. September mit dem Text: "Kundgebung 02. September - auf die Straße gegen die AfD und andere Faschisten. Zeit zu handeln!" vor dem Hintergrund einer Antifa Demo und dem Link auf zeitzuhandeln.org
SharePic zur Kundgebung am 2. September
Die AfD wird am 01.09. bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen starke Ergebnisse einfahren. Genauso bei den anderen anstehenden Wahlen in den Ostdeutschen Bundesländern. Das Ergebnis könnte Geschichte schreiben. Die Partei und mit ihr weite Teile der allgemeinen Rechten, wird ihren bisher größten Erfolg feiern, während die gesellschaftliche Linke weiterhin nicht in der Lage ist, dem etwas entgegenzusetzen oder eigene politische Gegenmacht aufzubauen.

Die Ampelkoalition arbeitet, aus parteipolitischen Gründen, durchaus gegen die AfD, die CDU schwört sich, mehr oder wenig konsequent, auf eine Brandmauer gegen „alles rechts von uns“ ein und das Bündnis Sahra Wagenknecht bleibt ohne klares Profil gegen Rechts.

Ob die AfD in Regierungsverantwortung kommt oder die „Brandmauer“ tatsächlich hält bzw. die bürgerlichen Parteien aus eigener Kraft regieren können wird sich erst noch zeigen.

Für uns steht fest: Die bürgerlichen Parteien sind Teil der Rechtsentwicklung. Die Ampel-Regierung setzt einen rechten Kurs um. Sie reagiert mit Abschiebungen, Sozialabbau und Aufrüstung im Inneren und Äußeren auf die aktuellen Krisen. Die CDU hat, all ihren Versprechen von der Brandmauer zum Trotz, längst einen rechten Kurs übernommen und nähert sich der AfD immer weiter an.

Die Stärke der Rechten zeigt sich aber nicht nur an der AfD:
Die faschistische Rechte von Identitärer Bewegung bis zum III. Weg wird zunehmend selbstbewusster und gewinnt an Stärke, ihnen gelingt es ,bis jetzt, gut die allgemeine Krise für sich zu nutzen, sich aufzubauen und „Rechts-sein“ als Gegenkultur zum vermeintlich „linken“ Mainstream zu etablieren. Auch nehmen militante Übergriffe, sowohl organisiert als auch spontan auf politische Feinde und Minderheiten immer mehr zu, so zum Beispiel in Berlin vor einigen Wochen, als eine Gruppe Antifaschist:innen von Faschisten des III. Wegs angegriffen wurden, oder zahlreiche Anfeindungen rund um den CSD in verschiedenen Städten. Besonders hier braucht es einen antifaschistischen Selbstschutz.

Den die Rechtsentwicklung findet auch, wenn nicht sogar hauptsächlich, außerhalb von Wahlkämpfen und Parlamenten statt - das weiß auch die AfD.

Wir wissen nicht, welche Dynamiken der Wahlkampf im Osten mit sich bringen wird. Übergriffe auf echte oder vermeintliche Feinde, von Seiten der Rechten, sind keine Seltenheit mehr und auch rechte Massenbewegung (wenn auch oft sehr kurzlebig) können schnell entstehen. Hier gilt es aufmerksam zu bleiben und sich auch spontan dem Kampf gegen die Faschisten anzuschließen bzw. diesen zu organisieren und durchzuführen.

Auch ist klar: Im Westen hinkt die AfD ihren Kameraden stimmen technisch noch hinterher aber die Rechtsentwicklung ist ein deutschlandweites Phänomen, dem es sich überall entgegenzustellen gilt.

Die Wahlen am ersten September sind für uns der Startschuss für eine Phase, in der wir konkret gegen Rechte vorgehen müssen. Dafür braucht es Entschlossenheit, Organisierung und langfristige Arbeit.

Einen Startschuss für antifaschistische Arbeit hier in der Region, möchten wir am 02.09., dem Tag nach der Wahl, setzen. Wir wollen hier in Stuttgart, in Verbindung und im Anschluss an direkte Proteste in Erfurt am 31.08., auch gegen AfD und Rechtsentwicklung auf die Straße gehen und klarmachen, dass wir weiterhin aktiv sein werden - 365 Tage im Jahr.

Kommt alle am 02.09. um 18.00 Uhr auf den Rotebühlplatz/ Stadtmitte. Lasst uns gemeinsam zeigen, dass wir entschlossen und bereit sind, den Faschisten entgegenzutreten.

Quelle

Kriegsverbrechen in Beer Sheva: Rede zur Demonstration „Free Palestine“ in Wuppertal am 17. August 2024

Guten Tag,

Mein Name ist Sebastian Schröder und ich bin Vertreter in der Bezirksvertretung Elberfeld-West in Wuppertal für die Partei Die Linke.

Laut offiziellen Zahlen wurden mindestens 40.000 Menschen seit Oktober durch die israelische Armee getötet. Wissenschaftliche Artikel gehen von einer weitaus höheren Opferzahlen aus (The Lancet, Juli 2024).

In Deutschland wird jede Kritik an diesem Kriegsverbrechen häufig entweder mit Diffamierung oder mit Totschweigen beantwortet.

Luftbild von Be’er Scheva
Luftbild von Be’er Scheva
Quelle: Chumchum14, Lizenz: CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons
In Wuppertal herrscht Schweigen zu einem konkreten Kriegsverbrechen, verübt von Shimon Tobol. Er war bis zum 7. Oktober stellvertretender Bürgermeister der israelischen Grossstadt Beer Sheva.

Beer Sheva ist seit 1977 israelische Partnerstadt von Wuppertal. Es war die erste Städtepartnerschaft zwischen der Bundesrepublik und Israel.

Der israelische Botschafter Ron Prosper hat am 24. Mai 2024 Wuppertal besucht. Dieser Besuch fand ohne Ankündigung statt.

Wenige Tage zuvor hat die israelische Zeitung Haaretz und im Anschluss weitere Medien über die Verbrechen von Shimon Tobol berichtet, dem ehemaligen stellvertretenden Bürgermeister von Beer Sheva.

E hat als Soldat in Hebron und Umgebung von Oktober 2023 bis Januar 2024 menschenverachtende Fotos und Kommentare auf der Internetplatform X gepostet. Auf einigen Fotos zeigt sich Tobol mit Gefangenen, die verbundene Augen haben und gefesselt sind. Tobol selbst dokumentiert die Erniedrigung gefangener palästinensischer Männer durch Zurschaustellung und äussert rassistische Beschimpfungen.

Tobol rühmt sich am 9. November (!) 2023 der Beteiligung am Tod von Anas Nasser Muhammad Abu Atwan aus Dura. Es folgt seine Drohung, auch die Familie von Abu Atwan zu töten.

Tobol ist Mitglied eines Ablegers der Partei „Degel HaTorah“, einer ultraorthodoxen Partei aus dem konservativen Spektrum.

Er äussert in seinen Posts Vernichtungsphantasien, die er religiös begründet: Zur Rechtfertigung seines Verhaltens beruft er sich auf eine zentrale Geschichte in der hebräischen Bibel, auf „Amalek“ (vgl. Deborah Feldman: Judenfetisch, München 2023, 2-. Auflage, S. 154).

Die Geschichte ruft zur Vernichtung der Amalekiner auf, um das jüdische Volk vor diesen „Todfeinden“ zu retten. Nethanjahu hat in einer TV-Ansprache Ende Oktober darauf Bezug genommen und so bewusst einen Zusammenhang zwischen den Amalekinern und den palästinensischen Menschen in Gaza hergestellt. Diese Äusserung wurde in der Völkermord-Klage von Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof als Beispiel für genozidale Hassrede gegen die palästinensische Bevölkerung genannt.

Das zeigt: Dies ist kein Einzelfall, es sind unzählige Verbrechen der israelischen Armee vor und seit dem 7. Oktober dokumentiert, in Gaza und im Westjordanland.

Btselem hat ausführlich über das Lager Sde Teiman berichtet, über Todesfälle und systematische Folter. Tausende palästinensische Menschen befinden sich in unbefristeter Haft ohne Rechtsgrundlage. Diese sogenannte „Administrativhaft“ gibt es nur für palästinensische Menschen, nicht für Israelis.

Die Stadtverwaltung Beer Sheva schreibt auf Nachfrage von Haaretz zum Fall Tobol lediglich, dass Shimon Tobol zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Fotos nicht mehr für sie tätig war.

Die israelische Armee weist lediglich darauf hin, dass es aus Sicherheitsgründen verboten ist, Fotos von Gefangenen zu veröffentlichen. Seit Januar 2024 postet Shimon Tobol nicht mehr, aber was macht er heute?

Ist er immer noch Soldat in der israelischen Armee?

Droht er weiter mit Folter?

Verübt er weiter Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen?

Was ist aus den verhafteten Männern geworden?

Wo sind sie eingesperrt?

Gibt es gegen sie rechtstaatliche Verfahren oder sind sie in der rassistischen Administrativhaft?

Werden sie gefoltert?

Leben sie?

Wie geht es ihren Familien?

Wir fragen die lokalen Medien: Warum wurde in Wuppertal bisher nicht über den weltweit beachteten Fall Tobol berichtet ?!

Wir fragen die politischen Parteien hier in Wuppertal: Wie stehen sie dazu, dass ein hochrangiger Lokalpolitiker einer verpartnerten Stadt stolz seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit in aller Öffentlichkeit präsentiert ?!

Wir fragen die antifaschistische Zivilgesellschaft hier in Wuppertal: Wie könnt Ihr in Deutschland gegen die Rechten kämpfen und über die Gräueltaten der Rechten in Israel schweigen ?!

Wir verurteilen Euer Schweigen und Eure Doppelmoral!

Demonstrationen am 24. August in Hamburg und Karlsruhe vor dem Urteil im G20-Rondenbarg-Prozess

Sharepic zu den Demos in Hamburg und KarlsruheDer G20-Rondenbarg-Prozess neigt sich seinem Ende entgegen. Mit einer Urteilsverkündung ist Ende August zu rechnen. Wir wollen vor der Urteilsverkündung gemeinsam unter dem Motto „Versammlungsfreiheit verteidigen! Freispruch für die Angeklagten im G20-Rondenbarg-Prozess!“ auf die Straße gehen und rufen am Samstag, dem 24. August, zu Demonstrationen in Hamburg und Karlsruhe auf. Für die Mobilisierung zu den beiden Demonstrationen haben wir Plakate, Flyer und Aufkleber gedruckt. Ihr könnt gerne kostenlos Material bei uns bestellen, schreibt uns einfach eine E-Mail. Wenn ihr gemeinsame Anreisen plant, sagt uns gerne Bescheid.

Für Versammlungsfreiheit und widerständigen Protest! United we Stand!

24. August 2024 | 15 Uhr | Demonstration | Hamburg | Gänsemarkt
24. August 2024 | 15 Uhr | Demonstration | Karlsruhe | Friedrichsplatz


Quelle
Zum Aufruf

Warum ich den Industrial Workers of the World beigetreten bin

Damals, 2004, vielleicht 2005, arbeitete ich in Portland, Oregon, als Landschaftsgärtner. Es war ein kleines Team, nur drei von uns und unser Chef. Unser Chef war im Großen und Ganzen ziemlich cool. Er hat uns nicht bis auf die Knochen geschuftet. Er war flexibel, was freie Tage anging. Er nannte mich sogar Magpie. Er bezahlte uns unter dem Tisch. Manchmal ließ er die Arbeit sausen, um surfen zu gehen. So ein Typ.

Tatsächlich sagte ich ihm nach meiner ersten Arbeitswoche: "Hey, ich werde für etwa einen Monat weggehen, um Straßen in Süd-Oregon zu blockieren, um den Verkauf von Altholz zu stoppen, und vielleicht ein bisschen Baumsitting zu betreiben. Wenn ich zurückkomme, kann ich dann meinen Job wiederhaben?", und er sagte ja, und so ging ich für einen Monat weg, und dann kam ich zurück und bekam meinen Job wieder. Eines Morgens rief er mich vor der Arbeit an und sagte: "Hey, du brauchst heute nicht zur Arbeit zu kommen, wenn du nicht willst, wir werden einen Baum fällen." Ich sagte ihm, dass ich ein Problem mit der Abholzung von altem Baumbestand habe, nicht mit dem Fällen von Bäumen, aber ich wusste seine Sorge zu schätzen.

Doch eines Tages entdeckten wir ein Problem. Wir waren zu dritt in seinem Team. Ich war noch nicht als Transsexueller unterwegs, also war ich ein Junge, ein anderer Junge und ein Mädchen. Das Mädchen war die Größte und Stärkste von uns dreien. Wir fanden heraus, dass sie 25 Cent weniger pro Stunde bekam als ich. Das würde nicht reichen. Da wir alle drei Anarchisten waren, marschierten wir zum Red & Black Cafe, wo wir einige Wobblies trafen... einige Leute von der Industrial Workers of the World. "Die anarchistische Gewerkschaft", so stand es da, obwohl das nur halb stimmt. "Die anarchistenfreundliche, auf direkte Aktionen ausgerichtete Gewerkschaft, die vor hundert Jahren von einer Kombination aus Anarchisten und Sozialisten gegründet wurde", wäre eine genauere, wenn auch wortreiche, Beschreibung.

Wir marschierten dorthin, gingen zu den Wobblies und sagten: "Wir sind 100 % unseres Arbeitsplatzes und wir sind bereit, morgen in den Streik zu treten, um gleichen Lohn für Frauen und Männer zu fordern."

Die Wobblies sahen uns an, und einer von ihnen sagte: "Ja, cool, wir haben unsere offenen Treffen für neue Mitglieder am ersten Sonntag jedes zweiten Monats, und das letzte war nächste Woche, also kommt in sieben Wochen wieder und wir werden euch anmelden."

An diesem Tag wurde ich also nicht zu einem Wackelkandidaten.

Stattdessen meldeten wir drei uns am nächsten Morgen bei der Arbeit und sagten unserem Chef: "Sie haben die Wahl. Entweder du zahlst ihr dasselbe wie Magpie, oder du hast keine Angestellten mehr."

Also bekam sie eine Gehaltserhöhung, und ich grub wieder Löcher für 10 Dollar die Stunde, und ich lernte etwas Einfaches und allgemein Wahres: Eine Gewerkschaft hat Macht.

Dann sparte ich erfolgreich genug Geld für ein Flugticket in die Niederlande, kündigte meinen Job und flog über den Ozean, um in einem besetzten Haus zu leben und zu versuchen, mich zu verlieben, was nicht gelang.

Die Geschichte der Gewerkschaften im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten ist, offen gesagt, erschreckend. Wie so oft fungierten die Gewerkschaften eher als Organisationen der weißen Vorherrschaft denn als Instrumente zur Förderung der Interessen der Arbeiterklasse. Wenn man eine Gewerkschaft hat, die nicht-weiße Arbeiter ausschließt, was bei den meisten Gewerkschaften der Fall war, dann hat man eine Organisation, deren Zweck es ist, die Machtstruktur der weißen Vorherrschaft zu erhalten. So einfach ist das.

Natürlich gab es Ausnahmen von diesem expliziten Rassismus, aber insgesamt sahen die ersten Gewerkschaften in den USA nicht gut aus.

Das Bild zeigt das Cover der Broschüre
One Big Union - Eine große Gewerkschaft, Grundlagentext zum Konzept der IWW

Erschienen: Erste Publikation im Jahre 1911.
Überarbeitet und mit einem neuen Nachwort versehen.

Klick auf das Bild führt zur Webseite der Wobblies und der Downloadmöglichkeit der Einführung in die Theorie und Praxis der IWW und ihrer Grundprinzipien als PDF Datei.
Dann, 1905, traf sich eine Gruppe von Sozialisten und Anarchisten in Chicago und gründete die Industrial Workers of the World, eine syndikalistische, antirassistische und antisexistische Gewerkschaft. Sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer und organisierte Menschen, die von den traditionellen Gewerkschaften abgelehnt oder ignoriert worden waren - Wanderarbeiter, Landstreicher und eingewanderte Arbeiter aus den "schlechten" Teilen Europas, wie Italien und Osteuropa, sowie Menschen aus China und Mexiko.

Als ich das erste Mal von den IWW hörte, verwirrte mich der Name. Ich hatte angenommen, dass sie Arbeiter organisierten, die "industrielle" Arbeit verrichteten. Leute, die, ich weiß nicht, Metall in Öfen schmelzen oder mit Hämmern auf Dinge einschlagen. Leute, die Nitzer Ebb und Nine Inch Nails hörten, vielleicht, oder zumindest die Leute, die Nägel herstellten.
Das ist überhaupt nicht die Idee hinter der Industriegewerkschaft. "Industriell" bedeutet in diesem Zusammenhang "ganze Industrien". Dies wird mit "Trade Unionism" verglichen. In der Handelsgewerkschaft gibt es vielleicht eine Bremsergewerkschaft, eine Schaffnergewerkschaft und eine Gewerkschaft der Gleisbauer, die alle voneinander getrennt sind. In der Industriegewerkschaft ist jeder, der bei der Bahn arbeitet, in derselben großen Gewerkschaft.
Damit entfällt eines der wichtigsten Mittel, mit denen die Chefs die Gewerkschaft brechen können. Sie können nicht mehr getrennt mit den Schaffnern verhandeln und somit deren Interessen gegen die der Bremser ausspielen.

Der Antirassismus und Antisexismus der IWW diente dazu, eine andere Art der Spaltung der Arbeiterklasse zu verhindern: Die Vorherrschaft der Weißen war lange Zeit eines der wirksamsten Mittel des Kapitalismus gegen die Arbeiterklasse, und immer wenn weiße Arbeiter streikten, holten die Bosse schwarze (oder chinesische oder mexikanische, je nach Region des Landes) Streikbrecher und schürten einen kleinen Ethnienkrieg.
Infolge der Organisierung durch die IWW gab es Orte wie die Docks in Philadelphia, wo sich in den 1910er Jahren schwarze und weiße Langarbeiter gemeinsam organisierten. Alle, die auf den Docks arbeiteten, organisierten sich gemeinsam, von denen, die auf den Tiefseedocks arbeiteten (die früher am besten bezahlt wurden) bis hin zu den Feuerwehrleuten des Docks, alle in Local 8 der IWW. Sie waren demokratisch, scheuten sich nicht vor direkten Aktionen und verbesserten ihr eigenes Leben durch die gemeinsame Arbeit erheblich.

Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts in Amerika ist peinlich, weil die Gewerkschaften in erster Linie als Vertreter der weißen Vorherrschaft fungierten. Die Gewerkschaftsbewegung in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat keinen viel besseren Ruf, weil die Gewerkschaften, sobald sie sich etabliert hatten, zu einer eigenen Machtstruktur wurden, die für ihre eigene Korruption anfällig war. Ihre Verbindungen zum organisierten Verbrechen wurden immer enger, und einige machten sogar gemeinsame Sache mit den Bossen. Trotz der Korruption war ein gewerkschaftlich organisierter Arbeitsplatz immer besser für den Arbeitnehmer als ein nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeitsplatz, und viele der großen Gewerkschaften haben schließlich ihre eigene Korruption ausgemerzt. Dennoch hebt sich die Arbeit der IWW zu Beginn des 20. Jahrhunderts leuchtend von der Mehrheit der gewerkschaftlichen Organisierung ab, die davor und danach stattfand.

Die Wobblies waren und sind Menschen, die kein Interesse am Aufbau korrumpierbarer Strukturen hatten, die keine Angst vor dem eigentlichen Kampf hatten und haben.
Bei meinen Recherchen für meinen Geschichtspodcast kamen die IWW immer wieder zur Sprache. Einiges davon war mir bekannt, wie z. B. die Kämpfe um die Meinungsfreiheit im Westen, wo Landstreicher zu Hunderten und Tausenden auftauchten, um verhaftet zu werden, weil sie sich in Boomtowns organisierten und ins Gefängnis geworfen wurden, bis die Stadt sie schließlich alle freilassen und die Meinungsfreiheit wieder zulassen musste. Bei diesen Kämpfen starben Menschen, weil sie in den Gefängnissen misshandelt wurden. Andere wurden von rechtsgerichteten Mobs angegriffen und gefoltert. Aber sie gewannen.

Ein anderes Mal tauchten die IWW bei meinen Recherchen an Stellen auf, an denen ich sie überhaupt nicht erwartet hatte. Zum Beispiel, wie einflussreich sie in der mexikanischen Revolution waren: Kurz vor der mexikanischen Revolution inszenierte eine massive anarchistische Fraktion, die sich ironischerweise "Liberale Partei" nannte und zum Teil von einem indigenen Anarchisten namens Ricardo Flores Magón angeführt wurde, bewaffnete Aufstände im ganzen Land. Am Ende brachen diese Aufstände zusammen, aber sie ebneten innerhalb weniger Jahre den Weg für eine liberalere Revolution. Ein großer Teil der Organisation dieser Revolutionen fand in den USA jenseits der Grenze statt und wurde von den multirassischen, internationalen IWW geleistet, die sich damals stark für die Organisierung von eingewanderten und mexikanischen Minenarbeitern engagierten. Das bedeutet, dass deutsche Anarchisten mit dem Gewehr in der Hand neben ihren mexikanischen Kollegen stehen und für die Befreiung Mexikos von der Unterdrückung kämpfen, was ein cooles Bild ist.

Manchmal reichten die Fäden, die zu den IWW zurückführten, länger. Die Gründung der IWW hat den Lauf der Geschichte in der ganzen Welt entscheidend verändert. Ihre Ideen waren revolutionär, und zwar nicht nur, weil sie für die Revolution eintraten, sondern weil sie revolutionierten, was Gewerkschaftsarbeit sein konnte. Sie brachten die Ideen des Syndikalismus in den Vordergrund, und überall auf der Welt begannen die Menschen, sich entlang der Linien von Industriegewerkschaftern und Syndikalisten - oft Anarchosyndikalisten - zu organisieren.

Ich kann zum Beispiel eine direkte Linie von der schwarzen und indigenen Anarchistin Lucy Parsons, einer der Gründerinnen der IWW, zu der Art und Weise ziehen, wie die Anarchosyndikalisten in den 1920er Jahren in Deutschland Hunderte oder Tausende von unterirdischen Abtreibungskliniken errichteten, in denen Millionen von Abtreibungen vorgenommen wurden. Ich kann eine Linie von Lucy Parsons zu dem deutschen Anarcho-Syndikalisten Rudolph Rocker ziehen, der in den 1910er Jahren für einige Jahre nach England ging und dort irische und jüdische Arbeitsmigranten zusammenbrachte. Da die irischen Hafenarbeiter gestreikt hatten, schickten sie ihre Kinder zu den jüdischen Schneidern, um sie zu ernähren. Als die britischen Faschisten in den 1930er Jahren versuchten, die Iren gegen die Juden aufzuhetzen, wollten die Iren nichts davon wissen, und gemeinsam schlugen die Juden und die Iren die Faschisten in der Schlacht in der CableStreet vernichtend, was der faschistischen Organisation auf der Straße im England der 1930er Jahre den Todesstoß versetzte. Ich kann mir das ansehen und sagen: "Das geschah, weil eine Frau namens Lucy Parsons in den Vereinigten Staaten in die Sklaverei hineingeboren wurde und nach ihrer Befreiung ihr Leben der Entwicklung von Strategien widmete, mit denen wir alle nicht nur von der Sklaverei, sondern auch vom Kapitalismus befreit werden können."

Ich fand mehr und mehr dieser Themen. Die IWW tauchten immer wieder an den unwahrscheinlichsten Orten auf.
Vor ein paar Wochen, als ich über die Gewerkschaft Local 8 in Philadelphia recherchierte, beschloss ich, dass ich ein Heuchler wäre, wenn ich nicht beitreten würde, und ich trat den IWW bei.

Die erste Blütezeit der IWW brach während der ersten Roten Panik 1917 oder so zusammen, als Anarchisten und Wobblies massenweise verhaftet oder deportiert wurden. Die Gewerkschaft hielt sich wacker, aber die politische Landschaft Amerikas wurde für immer verändert. Einer der Kerngedanken der IWW war es, die Arbeiter auch entlang linker ideologischer Linien zu vereinen, aber nach dem russischen Bürgerkrieg, als die Bolschewiki ihre linken Mitstreiter zerschlugen, wurde die Vorstellung, was es bedeutet, ein Linker, Kommunist oder Sozialist zu sein, ebenfalls für immer verändert. Die Bolschewiki hielten nicht viel von den IWW, da sie zu demokratisch und zu schwer zu beeinflussen waren, und unterstützten stattdessen die liberaleren Gewerkschaften, da diese leichter zu kontrollieren waren.

Der Stern der IWW ging unter. Die liberaleren Gewerkschaften beanspruchten einen größeren Anteil der Arbeiterklasse für sich. Mit der Zeit wurden diese Gewerkschaften natürlich auch rassenübergreifend, und es war immer noch besser, einen gewerkschaftlichen Arbeitsplatz zu haben als einen nicht gewerkschaftlichen Arbeitsplatz.

Die IWW sind jedoch nie verschwunden. Ich weiß weniger über ihr Wiederaufleben, aber ich weiß, dass sie stattgefunden hat, und seit Jahrzehnten beobachte ich, wie die IWW Dinge erreichen, die ich nie für möglich gehalten hätte. Die vielleicht beeindruckendste Errungenschaft der IWW ist das IWOC, das "Incarcerated Workers Organizing Committee". Die IWW organisieren die Gefängnisarbeit. Und das ist keine Sache von oben nach unten... die Gefangenen selbst organisieren sich drinnen, während die Organisatoren draußen ihre Unterstützung anbieten.

Ich bin ein Freiberufler ohne eine traditionelle Belegschaft, aber die FJU, die Gewerkschaft der freien Journalisten, vertritt, nun ja, freie Journalisten. Sie kämpft, oft erfolgreich, für die Auszahlung nicht gezahlter Löhne. Sie arbeitet an der Festlegung von Standards für Medien, die Freiberufler veröffentlichen.

Um ehrlich zu sein, brauche ich selbst keine Gewerkschaft. Meine Kunden sind in der Regel selbst ziemlich radikal und bezahlen mich pünktlich und so gut sie können. Es ist immer schön, wenn Menschen hinter einem stehen, und ich bin froh, dass ich jetzt diese große, horizontale Organisation an meiner Seite habe, aber ich bin den IWW nicht wegen mir beigetreten. Ich bin beigetreten, weil ich an ihre Mission glaube - die Arbeiterklasse zu organisieren, um ihre eigenen Bedingungen zu verbessern und schließlich die Lohnarbeit ganz abzuschaffen. Ich bin beigetreten, weil ich an die Arbeit glaube, die sie leisten, indem sie traditionelle und nicht-traditionelle Arbeitsplätze gleichermaßen organisieren.

Und ja, es war immer noch ärgerlich, dass vor 20 Jahren die ersten Wobblies, die ich kennenlernte, nicht gerade auf der Höhe der Zeit waren. Ich bin froh, dass ich gelernt habe, dass direkte Aktionen wichtiger sind als institutioneller Rückhalt. Aber was wäre, wenn unser Chef gesagt hätte: "Gut, ihr seid alle gefeuert." Was dann? Hätten wir drei dann die nötige Erfahrung gehabt, um eine Beschwerde einzureichen, oder den nötigen Rückhalt, um Druck auf ihn auszuüben, damit er uns unseren nicht gezahlten Lohn auszahlt? (Die Antwort auf beide Fragen ist nein.)

Die IWW scheint eine unvollkommene Organisation zu sein, und sie ist derzeit nicht auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Aber sie erlebt ein Wiederaufleben, und sie ist notwendiger denn je. Immer mehr Menschen arbeiten an nicht-traditionellen Arbeitsplätzen, und es braucht eine flexible, kämpferische Gewerkschaft, um die Menschen zu organisieren, die von den traditionellen Gewerkschaften ignoriert werden.

Also bin ich den Wobblies beigetreten. Das kannst du auch. Wenn du dich anmeldest und deinen Beitrag bezahlst (der je nach Einkommen gestaffelt ist), wird sich jemand mit dir in Verbindung setzen, um mit dir darüber zu sprechen, was auf lokaler Ebene passiert und wie du dich engagieren kannst.

Die Präambel der IWW-Satzung wurde von Thomas Hagerty verfasst, einem katholischen Wanderprediger, der wegen seiner politischen Aktivitäten aus der Kirche geworfen wurde und als Mystiker auf den Straßen Chicagos landete. Wie könnte ich es nicht lieben?

"Die Arbeiterklasse und die Klasse der Ausbeuter haben nichts gemeinsam.

Es kann keinen Frieden geben, solange Hunger und Not unter Millionen von Arbeitern herrschen und die wenigen, die die Ausbeuterklasse bilden, über alle Güter des Lebens verfügen.

Zwischen diesen beiden Klassen muss ein Kampf geführt werden, bis sich die Arbeiter der Welt als Klasse organisieren, die Produktionsmittel in Besitz nehmen, das Lohnsystem abschaffen und in Harmonie mit der Erde leben.

Wir stellen fest, dass die Zentralisierung der Verwaltung der Industrien in immer weniger Händen die Gewerkschaften unfähig macht, mit der immer größer werdenden Macht der Ausbeuterklasse fertig zu werden.

Die Gewerkschaften fördern einen Zustand, der es ermöglicht, eine Gruppe von Arbeitnehmern gegen eine andere Gruppe von Arbeitnehmern in derselben Branche auszuspielen und so dazu beizutragen, sich gegenseitig in Lohnkriegen zu besiegen.

Darüber hinaus helfen die Gewerkschaften der Ausbeuterklasse, die Arbeiter in dem Glauben zu lassen, dass die Arbeiterklasse gemeinsame Interessen mit ihren Ausbeutern hat.

Diese Verhältnisse können nur durch eine Organisation geändert und die Interessen der Arbeiterklasse gewahrt werden, die so beschaffen ist, dass alle ihre Mitglieder in einem Industriezweig oder, falls erforderlich, in allen Industriezweigen die Arbeit niederlegen, wenn in irgendeiner Abteilung ein Streik oder eine Aussperrung stattfindet, so dass die Schädigung eines Einzelnen eine Schädigung aller ist.

Anstelle des konservativen Mottos "Gerechter Tageslohn für gerechte Arbeit" müssen wir die revolutionäre Losung auf unsere Fahne schreiben: "Abschaffung des Lohnsystems".

Es ist die historische Aufgabe der Arbeiterklasse, den Kapitalismus abzuschaffen.

Die Armee der Produktion muss organisiert werden, nicht nur für den täglichen Kampf mit den Kapitalisten, sondern auch um die Produktion fortzuführen, wenn der Kapitalismus gestürzt ist.

Indem wir uns industriell organisieren, bilden wir die Struktur der neuen Gesellschaft innerhalb der Schale der alten."

Margaret Killjoy, Birds Before the Storm, 14. August 2024

Übersetzung mit freundlicher Genehmigung: Thomas Trueten

Links:

Industrial Workers of the World (IWW) im deutschsprachigen Raum

Wir befinden uns bereits in einem regionalen Krieg. Nur ein Waffenstillstand in Gaza kann ihn beenden

Solange die Palästinenser die Hauptleidtragenden waren, haben Israels Verbündete der militärischen Hybris des Landes nachgegeben. Jetzt fürchten sie die bitteren Früchte ihres Fehlers.

Palästinenser demonstrieren gegen die Ermordung des Leiters des politischen Büros der Hamas, Ismail Haniyeh, in Hebron im besetzten Westjordanland, 31. Juli 2024.
Palästinenser demonstrieren gegen die Ermordung des Leiters des politischen Büros der Hamas, Ismail Haniyeh, in Hebron im besetzten Westjordanland, 31. Juli 2024. Haniyeh war Ziel eines israelischen Anschlags in Teheran, Iran, und wurde zusammen mit seinem Leibwächter getötet. Er war der Hauptverhandlungsführer bei den Waffenstillstandsgesprächen im Gazastreifen. Die Demonstranten skandierten zur Unterstützung des Widerstands gegen die israelische Besatzung und es kam zu Zusammenstößen mit israelischen Soldaten.
Foto: © Mosab Shawer / ActiveStills Collective
Die aufeinanderfolgenden Attentate auf den Hisbollah-Befehlshaber Fuad Shukr in Beirut und den politischen Führer der Hamas , Ismail Haniyeh, in Teheran waren entweder strategische Torheit oder vorsätzliche Pyromanie. Während Israel die Verantwortung für den ersten Fall übernommen hat und sich über den zweiten Fall bedeckt hält, besteht kaum ein Zweifel daran, dass es beides inszeniert hat - und selbst einige seiner Verbündeten sind der Meinung, dass die Israelis dieses Mal zu weit gegangen sind.

Israelische Politiker haben sich schnell auf einen Vorwand für einen hochrangigen Schlag gegen die Hisbollah gestürzt - einen Raketenangriff aus dem Libanon, bei dem 12 syrische drusische Kinder und Jugendliche in den besetzten Golanhöhen getötet wurden, für den die Hisbollah eine Beteiligung bestritt -, obwohl die Anwohner vehement gegen ihre Rufe nach Vergeltung protestierten. Shukr und Haniyeh waren sicherlich wichtige Mitglieder ihrer jeweiligen Gruppen, aber Israel weiß sehr wohl, dass beide Organisationen über interne Mechanismen und Notfallpläne verfügen, um sie zu ersetzen; schließlich sind dies kaum die ersten Attentate, die die beiden Widerstandsbewegungen erlebt haben.

Wie Hassan Nasrallah von der Hisbollah und der iranische Ayatollah Ali Khamenei erklärten, war die Ermordung zweier hochrangiger Persönlichkeiten in ausländischen Hauptstädten innerhalb weniger Stunden eine eindeutige Botschaft, die die in den letzten zehn Monaten zwischen den kämpfenden Parteien festgelegten so genannten "roten Linien" durchbrach. Jetzt wartet die Welt auf eine Vergeltung für ein unnötiges Machtspiel, das uns einem Flächenbrand näher bringt, wie wir ihn seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben.

Die brisanten Auswirkungen der militärischen Hybris Israels sind seit den ersten Tagen der "Operation Eiserne Schwerter", der brutalen Kampagne, die nach dem tödlichen Angriff der Hamas vom 7. Oktober auf den Gazastreifen gestartet wurde, deutlich geworden. Aber die internationale Politik hat schon immer mehr Wert auf die Tötung von symbolischen Führern gelegt als auf die von Zivilisten.

Obwohl der 7. Oktober den gesamten Nahen Osten in einen gewalttätigen Strudel gestürzt hat, wurde uns wiederholt gesagt, dass die Schwelle zu einem "regionalen Krieg" noch nicht überschritten sei. Die kämpfenden Akteure, so betonen Experten, spielen immer noch ein riskantes, aber wohldurchdachtes Spiel, um die gegenseitige "Abschreckung" wiederherzustellen und ein gewisses Maß an Gewalt zuzulassen, das immer noch so verstanden werden kann, dass eine totale Verwüstung vermieden wird.

In vielerlei Hinsicht ist dies jedoch ein diskursiver Trick, der die erschütternde Wahrheit vor Ort herunterspielt: Wir befinden uns bereits seit Monaten in diesem regionalen Krieg. Der Beweis dafür sind die Leichen und Trümmer, die sich im Gazastreifen und im Südlibanon auftürmen, und die Aktivierung der vom Westen geführten Allianz und der Achse des Widerstands an mehreren Fronten - von US-Kriegsschiffen im Mittelmeer bis zu den Houthi-Milizen im Roten Meer, von israelischen Luftangriffen im Libanon bis zu einem Raketensperrfeuer aus dem Iran.

Diese Konfrontation kann sich unendlich zuspitzen. Der Grund dafür, dass die internationalen Akteure in der vergangenen Woche mit Verspätung in Aktion getreten sind, ist jedoch derselbe, warum der Krieg in seine bisher gefährlichste Phase getrieben wird: dass bestimmte Leben und bestimmte Interessen mehr zählen als andere.

Arroganz und Ehrgeiz

Für die westlichen Regierungen besteht die Hauptgefahr, die von den Morden an Shukr und Haniyeh ausgeht, nicht in der ungezählten Zahl von Arabern oder Iranern, die bei einer Eskalation der Feindseligkeiten getötet werden könnten. Wenn überhaupt, dann haben die vergangenen zehn Monate gezeigt, dass ein langwieriger Krieg ein erträglicher, wenn auch bedauerlicher Zustand ist, solange die Palästinenser die Hauptleidtragenden sind. Infolgedessen lehnten es die westlichen Hauptstädte, allen voran Washington, ab, alle Register zu ziehen, um die Kämpfe einzudämmen, und verschafften Israel stattdessen Zeit, um seine erklärten Ziele im Gazastreifen und im Libanon voranzutreiben - selbst als klar war, dass die Israelis scheitern würden.

Jetzt aber geraten die westlichen Regierungen in Panik. Sie befürchten nicht nur, dass ein eskalierter Krieg die globale Ordnung stören könnte, indem er ein Sicherheitschaos auslöst und die wirtschaftlichen Lieferketten unterbricht. Es ist auch die sehr reale Aussicht, dass ein solcher Krieg ein massives israelisches Todesopfer fordern könnte - und damit eine noch nie dagewesene Schwächung des israelischen Staates.

Dieser Schwächungsprozess hat wohl schon Anfang 2023 begonnen, während der internen Kämpfe um die rechtsextreme Justizreform, aber er wurde durch den 7. Oktober und die Gaza-Operation noch beschleunigt. Der volle Schaden der gegenwärtigen militärischen Zermürbung Israels und des Verlusts seines Ansehens in der Welt muss sich erst noch einstellen, aber ein ernsthafter Angriff der Hisbollah oder des Irans wird diesen Niedergang wahrscheinlich noch verschlimmern.

Verteidigungsminister Yoav Gallant mit Premierminister Netanjahu, US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, US-Militärchef CQ Brown und IDF-Chef Herzi Halevi in Tel Aviv, 18. Dezember 2023
Foto: U.S. Embassy Jerusalem, Lizenz: CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons, via Wikimedia Commons
Selbst wenn einige in Israel zugeben, dass das Militär möglicherweise zu weit gegangen ist, könnte das nationale Ego sie dazu zwingen, erneut zu reagieren; Verteidigungsminister Yoav Gallant weist die Armee bereits an, sich auf einen "schnellen Übergang zur Offensive" vorzubereiten. Der ständige Wunsch, Rechnungen zu begleichen und eine Art Sieg zu erringen, könnte jede Begründung für das Ablegen der Waffen zunichte machen.

Man hätte erwarten können, dass Israels eigene Führer diese sich verschlimmernde Spirale erkennen, in der die Wirtschaft des Landes im Keller ist, die Armee müde wird und die Bevölkerung im Norden und Süden vertrieben wird. Aber diese Führer sind zu sehr von ideologischen Ambitionen, nationalistischer Arroganz und der Angst um ihr eigenes politisches Überleben geblendet, um einen anderen Weg als Militarismus und Bombast in Betracht zu ziehen.

Es ist nicht nur Benjamin Netanjahu, dessen eigenes Sicherheitskabinett zugibt, dass der Premierminister ein Geiselabkommen mit der Hamas direkt sabotiert. Von Gallant bis hin zu IDF-Stabschef Herzi Halevi hat ein Großteil der politischen und militärischen Führungsriege ein persönliches Interesse an einer Form des anhaltenden Konflikts. Sie alle hatten an dem Tag das Sagen, an dem Israel das schlimmste Sicherheitsversagen seit Jahrzehnten erlitt, und sie alle kämpfen darum, ihren Ruf, wenn nicht gar ihre Karriere wiederherzustellen; ein endloser Notstand, so glauben sie, kann dazu beitragen, ihre Amtszeit zu verlängern.

Die rechtsextremen Minister in der Regierung, angeführt von Finanzminister Bezalel Smotrich und dem Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben Gvir, nutzen die Krise, um ihre messianischen Ziele zu verfolgen. Ihre Wähler vor Ort, vor allem die Siedler im Westjordanland, begleiten die gesetzgeberischen Vorstöße für eine formale Annexion mit von der Armee unterstützten Pogromen gegen palästinensische Gemeinden und festigen so ihre Vision von Groß-Israel, während sie gleichzeitig Pläne zur Umsiedlung des Gazastreifens vorantreiben.

Mehr Weitsicht als das Weiße Haus

Genau diese Beamten werden von Präsident Joe Biden und anderen westlichen Staatsoberhäuptern nahezu ungestraft geduldet, obwohl alles auf ihre Hintergedanken, ihre eklatanten Kriegsverbrechen und sogar auf den wachsenden Unmut in der israelischen Öffentlichkeit hindeutet. Zehn Monate lang haben sich die mächtigsten Regierungen der Welt dumm und hilflos gestellt und so getan, als hätten sie wenig Einfluss auf einen Staat, der sich um mehr Waffen, Gelder und diplomatische Unterstützung für seine Angriffe bemüht. Und Biden hat, obwohl er angeblich merkt, wie sehr er von Netanjahu "belogen" wird, Amerikas Wasserhähne immer noch offen gehalten und dafür gesorgt, dass die Zügel der Macht in den Händen der Narren und Pyromanen bleiben.

Jetzt erntet Washington - und damit auch die arabischen Unterzeichner des Abraham-Abkommens - die bitteren Früchte eines ihrer größten Fehler: die Annahme, dass die Umgehung der Palästinenser den Weg zum regionalen Frieden ebnen würde. Der Angriff der Hamas am 7. Oktober hat diesen Irrglauben erschüttert, aber die Regierung Biden hat die Lektion nicht verstanden.

Treffen zwischen Joe Biden (links im Bild) und Benjamin Netanjahu (rechts im Bild), 18. Oktober 2023
Treffen zwischen Joe Biden und Benjamin Netanjahu, 18. Oktober 2023
Quelle: The White House, Public domain, via Wikimedia Commons
Tatsächlich haben die Vereinigten Staaten es vorgezogen, Luftangriffe im Jemen und im Irak zu starten, die höchsten Gerichte der Welt zu bedrohen und Netanjahu in Washington mit stehenden Ovationen zu verwöhnen, anstatt Israel zu einem Waffenstillstand im Gazastreifen zu zwingen. Die Tatsache, dass Millionen von Demonstranten weltweit von den ersten Tagen an auf den Straßen und in den Universitäten ein Ende des Krieges forderten und die Regierung Biden dies nicht tat, zeigt, wie viel vorausschauender der normale Bürger im Vergleich zu den Entscheidungsträgern im Weißen Haus ist.

Aber die Katastrophe ist nicht unausweichlich. In der diplomatischen Lücke, die die Vereinigten Staaten hinterlassen haben, haben sich in den letzten Monaten andere darum bemüht, die Folgen des Konflikts zu begrenzen. Katar vermittelt nach wie vor bei den Verhandlungen zwischen der Hamas und Israel, obwohl letzteres die Bemühungen seiner Gastgeber regelmäßig beleidigt und untergräbt und nun einen der Hauptverhandlungsführer der anderen Seite ermordet hat.

China, das sich traditionell aus dem Konflikt heraushält, unterstützte die jüngsten Bemühungen um eine palästinensische Versöhnung, als 14 Fraktionen, darunter Fatah und Hamas, letzten Monat in Peking eine Einheitserklärung unterzeichneten. Die neue, von der Labour-Partei geführte britische Regierung hat die Kürzungen ihrer Vorgängerin beim UNRWA rückgängig gemacht, ihre Einwände gegen die Anträge des Internationalen Strafgerichtshofs auf Haftbefehle zurückgezogen und steht Berichten zufolge kurz davor, bestimmte Waffenverkäufe an Israel zu stoppen.

Wichtig ist, dass der Internationale Gerichtshof, der die Plausibilität eines sich anbahnenden Völkermords in Gaza anerkannt hat, die israelische Besatzung unmissverständlich als illegal bezeichnet und entschlossene Maßnahmen zu ihrer Beendigung gefordert hat. Und der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, wartet auf grünes Licht, um Netanjahu und Gallant in Den Haag vor Gericht zu stellen, zusammen mit dem Gaza-Chef der Hamas, Yahya Sinwar (der, wenn die Berichte über die Ermordung des Kommandeurs Mohammed Deif stimmen, jetzt der einzige überlebende Hamas-Verdächtige ist).

All dies sind winzige Maßnahmen im Vergleich zu Washingtons massivem Druckmittel oder dem ernsthafteren wirtschaftlichen und politischen Druck, den andere Regierungen immer noch ausüben. Aber sie sind Indikatoren dafür, wohin sich die internationale Politik letztendlich bewegt. Die Vereinigten Staaten müssen diesen Veränderungen nicht hinterherhinken, aber um voranzukommen, müssen sie die Wahrheit akzeptieren, dass ihr wertvollster Verbündeter in der Region - und die Macht der USA selbst - eine Quelle von mehr Verwüstung als Frieden gewesen ist.

Übergroße Macht ausüben

Israelische Kolonialtruppen reißen das Haus des Palästinensers Abdul Karim Zaloum im Stadtteil Haska nördlich der Stadt Hebron ab, unter dem Vorwand, ohne Genehmigung im Gebiet C zu bauen. Seit Beginn dieses Jahres wurden mindestens 860 Gebäude von israelischen Kolonialtruppen abgerissen, wodurch 1.760 Palästinenser vertrieben wurden.

Foto: © Mosab Shawer / ActiveStills Collective
Die Palästinenser ihrerseits sind zahlenmäßig, waffentechnisch und durch regionale und globale Kräfte, die sie nicht kontrollieren können, unterlegen und leiden unter einem Völkermord, der zerstörerischer ist als die Nakba von 1948. Israels Tötungsfelder haben jede palästinensische Familie in Gaza auseinandergerissen, einen Großteil des Streifens in ein Trümmerfeld verwandelt und 2 Millionen Belagerte, die Hälfte davon Kinder, zu einem lebenslangen physischen und psychosozialen Trauma verurteilt.

Die Hamas überlebt durch ihren bewaffneten Widerstand und ihre politischen Organe, aber sie hat schwere militärische Schläge einstecken müssen, nach den Massakern vom 7. Oktober viel internationale Legitimität verloren und ringt um Kontrolle und Unterstützung im Gazastreifen selbst. Die von der Fatah geführte Palästinensische Autonomiebehörde hat einmal mehr bewiesen, dass sie völlig unfähig ist, ihrem Volk zu helfen, da sie an ihrer Rolle als Polizeikräfte der Besatzung festhält und dabei schnell in den politischen und finanziellen Bankrott schlittert.

Doch die Palästinenser haben auch bewiesen, dass sie angesichts dieser kolossalen Hindernisse über eine überragende Macht verfügen - und sie müssen sie entsprechend ausüben. Während die oberste Priorität darin besteht, das Überleben der Palästinenser im Gazastreifen vor Raketen, Hunger und Krankheiten zu sichern, ist es auch von entscheidender Bedeutung, ihre politische Handlungsfähigkeit in einer Zeit zu behaupten, in der externe Akteure - von der israelischen Armee bis zu arabischen und westlichen Staaten - Pläne ausarbeiten, um ihr Schicksal zu diktieren.

Insofern ist die Einheitserklärung von Peking eine wichtige, wenn auch unvollkommene Initiative, um die es sich zu mobilisieren lohnt. Obwohl Präsident Mahmoud Abbas und seine Getreuen wahrscheinlich versuchen werden, die Versöhnungsbemühungen zu vereiteln, erkennen viele Mitglieder von Fatah und Hamas die dringende Notwendigkeit einer Zusammenarbeit, um ihre Legitimität wiederherzustellen und die palästinensische Eigenverantwortung für ihre Angelegenheiten zu bewahren. Die palästinensische Zivilgesellschaft wird Druck auf die Eliten ausüben müssen, damit diese ihren Erklärungen konkrete Taten folgen lassen und gleichzeitig darauf bestehen, dass Wege für die Beteiligung des Volkes und der Demokratie eröffnet werden.

Die Bemühungen um die Einrichtung eines Wiederaufbaurats für den Gazastreifen, der von Palästinensern geleitet wird und finanzielle und technische Unterstützung aus dem Ausland erhält, sollten verstärkt werden, um sicherzustellen, dass der Gazastreifen nicht zu einem Spielplatz für ausländische Einmischung wird, weder aus dem Westen noch aus dem Osten. Außerdem muss ein Plan für einen nationalen Sicherheitsapparat ausgearbeitet werden, der die Sicherheitskräfte der Fatah, die Polizei der Hamas und andere bewaffnete Gruppen einbindet, um die Fähigkeit und Glaubwürdigkeit zu haben, Ordnung und Sicherheit in der Bevölkerung wiederherzustellen.

Fragen der Staatlichkeit und der Friedensverhandlungen dürfen nicht die Priorität oder Voraussetzung für dieses nationale Programm sein: Überleben, Wiederaufbau und Reorganisation müssen Vorrang haben. Und die internationalen Akteure müssen dies respektieren.

All dies wird jedoch wenig bedeuten, wenn die Palästinenser in der geopolitischen Dynamik gefangen bleiben, die ihre Sache seit einem Jahrhundert vereitelt und die Region an den Rand einer Katastrophe gebracht hat. So sehr die westlichen Mächte das Problem auch umgehen mögen, ein Waffenstillstand im Gazastreifen bleibt der Grundstein für eine Deeskalation in der Region und die Befreiung der Palästinenser die Blaupause für regionale Hoffnung.

Palästina ist kaum das erste Epizentrum der regionalen Kämpfe im Nahen Osten, aber es könnte der letzte Riss sein, der jeden Anschein der internationalen Ordnung zerstört, die einen solchen Krieg nicht verhindern konnte. Was als Nächstes kommt, wird davon abhängen, was in Gaza geschieht - und die Palästinenser müssen die Mittel ergreifen, um es zu gestalten.

Amjad Iraqi ist leitender Redakteur bei +972 Magazine. Er ist außerdem Associate Fellow des MENA-Programms von Chatham House, Mitglied der Denkfabrik Al-Shabaka und war zuvor Advocacy-Koordinator beim Rechtszentrum Adalah. Zusätzlich zu +972 hat er unter anderem für die London Review of Books, die New York Review of Books, The Nation und The Guardian geschrieben. Er ist palästinensischer Staatsbürger Israels und lebt derzeit in London.

Quelle: +972magazine
Übersetzung [nicht authorisiert]: Thomas Trueten

Open air Kino: Erinnern an das SS-Massaker in Sant-Anna di Stazzema vor 80 Jahren

Das Plakat zum Film zeigt zwei schwere Vorhänge, zwischen denen sich Rauch in den Innenraum bewegt sowie Titel, Unterstützer:Innen des Films und Jürgen Weber: Autorenfilm
Plakat zum Film
In Verbindung mit den Gedenkfeiern in Italien, am 12. August, dem 80.Jahrestag des SS-Massakers an 560 Menschen in dem Bergdorf Sant’Anna di Stazzema wollen wir in Stuttgart an diesem Tag ein Gedenkzeichen setzen. Wir zeigen den Dokumentarfilm „Das zweite Trauma“ von Jürgen Weber auf dem Schillerplatz.

Dort fanden 2015 vor dem Gebäude des Justizministeriums nach der Einstellung des Verfahrens gegen die Täter durch Staatsanwalt Häusler Protestmahnwachen der Initiative Sant’Anna statt.

Der Film stellt die Ereignisse des 12. August 1944 zusammen. Es kommen überlebende Zeitzeug*innen der Associazione Martiri Sant’Anna di Stazzema 12 Agosto 1944 zu Wort. Es wird aber auch die gescheiterte juristische Aufarbeitung des Verbrechens durch die Staatsanwaltschaft in Deutschland vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart thematisiert.

Beginn der Veranstaltung: 19 Uhr

Ort: Schillerplatz, Stuttgart

Zu der Veranstaltung im Freien mit Filmvorführung bitte Sitzgelegenheiten, Kissen, Decken oder Klappstühle selbst mitbringen (Dauer des Films: 1 Stunde und 12 Minuten)

Quelle: Die Anstifter

Infos zum Film

"Wir haben alles verloren, und wofür?": Die Wut der Palästinenser auf die Hamas wächst, während sich der Krieg hinzieht

Die Palästinenser in Gaza sind bereit, einen Preis für ihre Befreiung zu zahlen, aber viele stellen die Gründe und die mangelnde Voraussicht hinter dem Angriff der Hamas am 7. Oktober in Frage.

Ein Junge sitzt weinend neben einer toten Person, die eingehüllt in ein Leichentuch neben im auf dem Boden liegt.
Im Nasser-Krankenhaus trauern Palästinenser um ihre Angehörigen, die zuvor bei einem israelischen Luftangriff in Khan Yunis getötet wurden

Khan Yunis, 9. November 2023
Foto: © / Mohammed Zaanoun / ActiveStills Collective
Zehn lange und zermürbende Monate lang wurden die Palästinenser im Gazastreifen mit einem Völkermord allein gelassen. Wir Bewohner des Gazastreifens mussten die Folgen von Entscheidungen ertragen, die wir nicht zu verantworten hatten, und haben schwere Entbehrungen auf uns genommen, an die sich die Welt gewöhnt hat und die sie weitgehend vergessen hat.

Zweifellos ist die Hauptursache für unser Elend Israel - ein Besatzer- und Apartheidstaat, dessen Soldaten mit brutaler Gleichgültigkeit töten und der seit 1948 versucht, die Palästinenser auszulöschen. Aber wir müssen auch die Rolle berücksichtigen, die palästinensische Gruppierungen bei unserem anhaltenden Leiden spielen.

In den letzten zehn Monaten ist deutlich geworden, dass die palästinensische Führung - sowohl die Fatah als auch die Hamas - die Bevölkerung ohne jegliche Voraussicht oder einen kohärenten Plan im Stich gelassen hat. Während die Bewohner des Gazastreifens unter unerbittlichem israelischem Bombardement stehen und keinen sicheren Ort haben, an den sie sich wenden können, entzieht sich die Hamas ihrer Verantwortung, die Bevölkerung zu schützen, und die Fatah ist nirgendwo zu finden.

Je länger sich der Krieg hinzieht, desto mehr Palästinenser in Gaza lehnen die Hamas öffentlich ab oder kritisieren sie. Viele werfen der Hamas vor, die Heftigkeit der israelischen Reaktion auf die Angriffe vom 7. Oktober nicht vorhergesehen zu haben, und machen die Gruppe mitverantwortlich für die schlimmen Folgen, die sie nun zu tragen hat.

Für den palästinensischen Journalisten Ahmed Hadi (dessen Name aus Sicherheitsgründen geändert wurde, ebenso wie der aller in diesem Artikel Befragten) war der 7. Oktober "eine verrückte Entscheidung für uns als Gazaner". Der Angriff und insbesondere "die Tötung und Gefangennahme von Israelis, von denen einige Zivilisten und keine Soldaten waren, hatte leider eine kontraproduktive Wirkung auf uns. Er verschaffte Israel weltweite Sympathie und lieferte ihm eine Rechtfertigung, einen brutalen Krieg gegen den Gazastreifen zu führen".

Die Hamas, so Hadi, "hat nicht bedacht, welche Auswirkungen Israels Reaktion auf die palästinensische Zivilbevölkerung haben würde. Sie trat in den Krieg ein, ohne Nahrung, Wasser oder das Lebensnotwendige zu sichern. Einen Monat nach Kriegsbeginn begannen wir bereits zu hungern und krank zu werden".

Trotz der weit verbreiteten Wut auf die Hamas-Führung machen die Menschen im Gazastreifen nicht die jungen Widerstandskämpfer selbst verantwortlich, sondern erkennen an, dass auch sie Teil der Bevölkerung sind, die in den Krieg gezwungen wurde. "Wir sind stolz auf den Widerstand und seine Opfer, aber für mich ist der Widerstand Teil des Volkes - sie sind die gleichen, die leiden und in diesen Krieg gezwungen wurden", sagte Hadi. "Wir können nicht schweigen [und müssen] unsere Führer wie Sinwar kritisieren, aber wir können auch nicht zulassen, dass die israelischen Streitkräfte uns einfach umbringen."

Kann denn niemand diesen Wahnsinn stoppen?

In der weit verbreiteten, aber schwindenden Medienberichterstattung über den israelischen Angriff wurden die Palästinenser im Gazastreifen oft auf zwei Arten dargestellt. In der ersten werden die Bewohner des Gazastreifens so dargestellt, als ob sie alle irgendwie mit der Hamas verbunden wären oder zumindest teilweise für die Angriffe vom 7. Oktober und den Ausbruch des derzeitigen Krieges verantwortlich gemacht würden. Dabei wird verkannt, dass die Palästinenser sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland nicht das Recht haben, ihre Regierung zu wählen, und dass die Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, von einer palästinensischen Führung diktiert werden, die von der Realität des Krieges in Gaza abgekoppelt ist, und von einer israelischen Regierung, die die palästinensische Existenz auslöschen will.

Die zweite Perspektive verurteilt Israel zu Recht für seine brutale Militärkampagne, stellt die Palästinenser jedoch als unerschöpflich widerstandsfähig dar. Auch diese Sichtweise verkennt unsere Menschlichkeit und stellt uns als Menschen dar, die unendliches Leid ertragen können und bereit sind, für die palästinensische Sache jedes erdenkliche Opfer zu bringen.

Adel Sultan ist 62 Jahre alt und stammt aus dem Viertel Sheikh Radwan in Gaza-Stadt. Mit dem Magazin +972 sprach er über seinen verzweifelten Wunsch nach einem Ende des Krieges. "Retten Sie diejenigen von uns, die noch leben, beenden Sie den Krieg und geben Sie uns eine Chance, uns zu erholen", rief er aus. "Wir erkennen uns selbst nicht mehr, unsere Gesichter haben sich durch den Krieg, der uns verzehrt, verändert."

Sultan brachte seine Frustration über die palästinensische Führung zum Ausdruck und forderte sie auf, mit der israelischen Regierung von Benjamin Netanjahu dringend einen Waffenstillstand zu vereinbaren. "Diejenigen, die ihn begonnen haben, sollten ihn beenden. Wo sind unsere Führer? Sie sollen sich mit der Besatzungsregierung zusammensetzen und den Krieg beenden, bevor er uns beendet, wie Netanjahu es will."

Anfang November wurde Sultan am Bein verletzt, als ein israelischer Luftangriff das Haus seines Nachbarn traf. Da er im Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt nicht behandelt werden konnte, das nach dem israelischen Angriff bereits seinen Betrieb einstellen musste, nutzte Sultan die Gelegenheit der einwöchigen Waffenruhe Ende des Monats, um in den Süden zu fliehen. Es gelang ihm, das Krankenhaus der Märtyrer von Al-Aqsa im Flüchtlingslager Al-Maghazi im Zentrum des Gazastreifens zu erreichen.

Sultan hoffte, dass die vorübergehende Waffenruhe zu einem vollständigen Waffenstillstand führen würde, so dass er wieder mit seiner Familie vereint werden könnte: Seine Frau und ein Sohn saßen in der Türkei fest, wohin sie vor dem Krieg zur medizinischen Behandlung gereist waren, während sein anderer Sohn mit seiner Familie im nördlichen Gazastreifen geblieben war. Doch Sultan ist immer noch von seiner Familie getrennt und zieht allein von einem Ort zum anderen, ständig bedroht vom Tod. Zurzeit lebt er in einem Zelt im Westen Rafahs.

"Ich bin erschöpft. Ich habe nichts mehr, woran ich mich festhalten kann, kein Zuhause, in das ich zurückkehren kann", sagte er +972 mit Tränen in den Augen. "Jede Nacht werde ich fast verrückt. Warum ist das passiert? Was war das Ergebnis der Hamas-Aktionen am 7. Oktober? Warum wurden wir allein gelassen? Wo sind die arabischen und muslimischen Nationen? Ist es logisch, unser Leben einer Evakuierungsaufforderung zu überlassen? Wohin sollen wir gehen, und an wen sollen wir uns wenden? Kann denn niemand diesen Wahnsinn stoppen?"

Ich habe das Recht zu sprechen. Oder sollen wir schweigend sterben?

Palästinenser eilen zur Rettung von Verletzten unmittelbar nach einem israelischen Luftangriff auf das Haus der Familie Salah im Gebiet Al-Batn Al-Thameen in Khan Yunis, südlicher Gazastreifen, 7. Dezember 2023.
Palästinenser eilen zur Rettung von Verletzten unmittelbar nach einem israelischen Luftangriff auf das Haus der Familie Salah im Gebiet Al-Batn Al-Thameen in Khan Yunis, südlicher Gazastreifen, 7. Dezember 2023.

Foto: © / Mohammed Zaanoun / ActiveStills Collective
Viele Palästinenser in Gaza verstehen den von der Hamas angeführten Angriff vom 7. Oktober als Ergebnis der jahrzehntelangen israelischen Besatzung und der anhaltenden Belagerung des Streifens. Sie haben volles Verständnis für das Konzept des persönlichen Opfers für das Ziel der nationalen Befreiung. Dennoch werfen sie der Hamas mangelnde Vorbereitung auf den Angriff vor und lehnen es ab, ohne erkennbaren Nutzen zu leiden.

Neben der mangelnden Vorbereitung auf die israelische Reaktion kritisieren die Gazaner die Hamas-Führung auch für das Fehlen einer klaren Nachkriegsvision für die Zukunft des Streifens. "Wir wollen, dass einer der palästinensischen Führer uns sagt, wohin wir gehen", sagte Dana Khalid, ein 19-jähriger Universitätsstudent, der in einem Zelt in Az-Zawayda in der Nähe der zentralen Stadt Deir el-Balah untergebracht ist, gegenüber +972. "Gibt es noch eine Zukunft für uns? Was will [der Führer der Hamas in Gaza, Yahya] Sinwar erreichen? Wo ist er?"

"Warum ist der 7. Oktober passiert?", fragte Mohammed Adnan, ein 27-jähriger Palästinenser, dessen Schreinerei im Februar zerstört wurde, als israelische Truppen in das Zeitoun-Viertel von Gaza-Stadt eindrangen. "Natürlich gibt es keine Rechtfertigung für das, was Israel tut, und wir sind alle gegen Israel. Wir alle unterstützen die Entscheidung, für Befreiung und Freiheit zu kämpfen, aber es muss eine gut durchdachte Entscheidung sein.

"Wenn ich meine Meinung äußere, halten mich die Leute für einen Verräter, dem die Opfer meines Volkes egal sind", so Adnan, der jetzt im Viertel Al-Rimal in Gaza-Stadt lebt. "Ich gehöre zu dem Volk, das leidet; ich gehöre zu den vielen Hungernden, die im Norden übrig geblieben sind. Ich habe das Recht zu sprechen. Oder sollen wir schweigend sterben?

"Wenn das Ergebnis des Krieges die vollständige Freiheit der Palästinenser ist, sind mir mein Leben und mein Zuhause egal. Aber wenn es weniger als das ist, dann ist die Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, absurd.

Diese Ansichten spiegeln sich in einer aktuellen Umfrage des Institute for Social and Economic Progress, einer unabhängigen palästinensischen Forschungsorganisation, wider. Der Studie zufolge wollen weniger als 5 Prozent der Palästinenser in Gaza, dass die Hamas in einer Übergangsregierung nach dem Krieg regiert, und eine Mehrheit erwartet, dass die von der Fatah kontrollierte Palästinensische Autonomiebehörde den Streifen übernimmt. Fast 85 Prozent der Bewohner des Gazastreifens sind gegen Sinwar, und nur etwas weniger sind gegen den politischen Führer der Hamas, Ismail Haniyeh, der letzte Woche in Teheran von Israel ermordet wurde.

Angesichts dieser wachsenden Unbeliebtheit hat die Hamas versucht, ihre Kritiker zum Schweigen zu bringen, wobei Berichte über Angriffe und Schläge die öffentliche Unzufriedenheit nur noch weiter angeheizt haben. Am 8. Juli griff eine Gruppe maskierter Männer, die behaupteten, zu den Sicherheitskräften der Hamas zu gehören, Amin Abed an, einen palästinensischen Aktivisten und bekannten Kritiker der Hamas, der die Anschläge vom 7. Oktober offen abgelehnt hat.

Abed berichtete den Medien, dass er aus seiner Wohnung in ein teilweise zerstörtes Gebäude gebracht und dort geschlagen wurde. Der Führer der Gruppe wies Abeds Angreifer an, ihm die Finger zu brechen, um ihn daran zu hindern, weiterhin öffentlich gegen die Hamas zu schreiben. Während die Fatah den "eklatanten Angriff" auf Abed verurteilte, hat die Hamas noch nicht auf diese Anschuldigungen reagiert.

Mangel an Optionen bedeutet nicht Unverwüstlichkeit

Die Hamas und ihre Anhänger haben lange Zeit behauptet, dass die Gruppe den Rückhalt der palästinensischen Bevölkerung im Kampf gegen Israel hat. Dies ist jedoch eine Verzerrung der Realität und eine Ausflucht vor ihrer moralischen und nationalen Verantwortung gegenüber ihrem Volk.

Das Foto zeigt eine weinende Frau, die die Hände vor das Gesicht  hält
Khan Yunis, 28. Juli 2024
Foto: © / Wahaj Bani Moufleh / ActiveStills Collective
Wie Adnan, der Schreiner, gegenüber +972 sagte: "Alle haben uns in Ruhe gelassen; alle wollen, dass wir als Helden erscheinen, die nicht müde werden und nicht hungern. Aber niemand weiß, dass ich Hunger habe, dass ich mich nach sauberem Wasser sehne. Echte Resilienz bedeutet, Menschen vor dem Tod zu bewahren, den Zusammenbruch der inneren Ordnung und der Institutionen zu verhindern und das Schlachtfeld nicht der kriminellen israelischen Armee zu überlassen.

Ende Juni postete Motaz Azaizeh, ein einflussreicher 24-jähriger palästinensischer Journalist, der den Gazastreifen nach 108 Tagen der Berichterstattung über den Krieg verlassen hat, auf Facebook: "Mangel an Optionen bedeutet nicht Widerstandsfähigkeit". Seine direkte Darstellung der harten Realität im Gazastreifen, ohne die Opfer und den Schmerz zu verherrlichen, rief bei einigen Kritik hervor - viele von ihnen waren außerhalb des Gazastreifens und haben nie das Leben in einem Zelt erlebt oder die Angst und Sorge einer Zwangsevakuierung und der Trennung von geliebten Menschen durchlebt. Aber Azaizeh hat Recht: Die Menschen im Gazastreifen sitzen in der Falle und ertragen das Elend, weil sie keine andere Wahl haben.

In einem weiteren Beitrag, der Ende Juli veröffentlicht wurde, kritisierte Azaizeh die palästinensische Führung. "Was ich bei jedem Politiker sehe, ist, dass er zuerst für sich selbst wirbt und dann über Gaza spricht", schrieb er. "Selbst nach der Vernichtung des Gazastreifens und seiner Bewohner wurden mehr als 40.000 Menschen getötet, und fast 100.000 Menschen verließen den Streifen während des Krieges und noch mehr davor! Sie stellen zuerst ihre Interessen dar, dann reden sie über uns, und damit meine ich nicht eine Partei oder eine Gruppe, sondern alle.

Jeder kümmert sich um die Regierungsführung und den "Tag danach" für Gaza, aber sie reden nicht viel über das Blut, das jetzt, gestern und morgen vergossen wird", so Azaizeh weiter. "Unsere Sache steht am Abgrund. Wir brauchen niemanden, der die Interessen seiner Partei und sich selbst an die erste Stelle setzt und dann an sein Volk denkt. Dies ist meine persönliche Meinung, es liegt an Ihnen, ihr zuzustimmen oder sie abzulehnen; alle, die jetzt vor Ort sind, können ihre Interessen nicht aufgeben, um das Blutvergießen zu beenden. Dieser Krieg ist kein Befreiungskrieg, wie manche glauben."

Selbst diejenigen, die dem Krieg entkommen sind, sind draußen nicht sicher. Mahmoud Nazmi, 38, gab sein gesamtes Geld aus , um mit seiner Familie aus dem Gazastreifen zu fliehen und so zu überleben. "Warum müssen wir immer lügen?", fragte er. "Warum müssen wir ein Bild präsentieren, das der palästinensischen Führung gefällt, und das auf Kosten unseres Todes und unseres monatelangen Leidens ohne Gnade? Es macht keinen Sinn zu sagen, wir seien widerstandsfähig, während wir unter dem erdrückenden Absatz der israelischen Hybris stehen. Wir haben alles verloren, und wozu?"

Ende Juli unterzeichneten die palästinensischen Fraktionen, darunter die Hamas und die Fatah, unter chinesischer Vermittlung ein Abkommen über die Bildung einer Regierung der "nationalen Einheit" für den Gazastreifen nach Beendigung des Krieges. Zuvor hatte es seit dem Bürgerkrieg im Gazastreifen 2007 mehrere Versuche gegeben, die Kluft zwischen Hamas und Fatah zu überbrücken, ohne dass eine Einigung erzielt werden konnte.

Doch selbst diese scheinbar positive Entwicklung hat die Frustration der Bewohner nur noch vergrößert. Viele Bewohner des Gazastreifens sehen in der Fokussierung auf die Regierungsführung nach dem Krieg eine Missachtung ihres unmittelbaren Leids und eine verpasste Gelegenheit, der Beendigung des Krieges Vorrang einzuräumen - womit einmal mehr die Interessen der Führer über die der Bevölkerung gestellt werden.

Wir Palästinenser müssen über all das nachdenken, was wir in den letzten 10 Monaten durchgemacht haben. Wir müssen uns ehrlich fragen: Was wollen die palästinensischen Führer wirklich? Und was sind wir bereit zu opfern?

Die Menschen im Gazastreifen verdienen es, in Würde und Sicherheit zu leben und eine strahlende Zukunft ohne Krieg und Zerstörung zu sehen. Wir brauchen klare Antworten von unseren palästinensischen Unterhändlern. Sie müssen der Beendigung des Krieges Vorrang vor allem anderen einräumen, um der Mütter, Väter und Kinder willen - einer ganzen Generation, die am Rande der Vernichtung steht.

+972 hat Taher al-Nono, einen Medienberater der Hamas, der sich derzeit in Katar aufhält, gebeten, auf die Kritik der Gaza-Bewohner an der Kriegsführung der Hamas und an der Entscheidung für den Angriff vom 7. Oktober zu reagieren, aber er hat auf unsere Anfrage nicht geantwortet.

Von Mahmoud Mushtaha 6. August 2024

Mahmoud Mushtaha ist ein freiberuflicher Journalist und Menschenrechtsaktivist aus Gaza, der derzeit in Kairo lebt.

Quelle: +972magazine

Übersetzung [nicht authorisiert]: Thomas Trueten

Willkommen in Pjöngjang an der Seine!

Das Foto zeigt eine Patrouille der Nationalpolizei in Paris, in der Nähe der Bar des "Team Ireland", die im Rahmen der Olympischen Spiele von Paris 2024 gesichert wird
Patrouille der Nationalpolizei in Paris, in der Nähe der Bar des "Team Ireland", die im Rahmen der Olympischen Spiele von Paris 2024 gesichert wird

Foto: Kyah117 CC BY 4.0, via Wikimedia Commons
Olympia 2024 zeigt, wie der Staat die neuen Erfahrungen und smartifizierten Werkzeuge aus der Coronazeit wie den "Green Pass" und App-Kontrollen, auch darüber hinaus zur Bevölkerungskontrolle und Repression einsetzt.

Dieser Artikel von 'Contre Attaque' schildert die dystopischen Zustände, die in einigen Zonen von Paris während der ziemlich exklusiven "Spiele" herrschen. Dort ist das Bewegen und Aufhalten im vormals öffentlich Raum für die meisten Menschen nur mit dem Vorweisen eines QR-Codes möglich. Menschen werden biometrisch überwacht, unter Hausarrest gestellt oder, wenn sie kein Zuhause haben, auch aus Paris heraus verschleppt.

"Sicherlich waren die von der chinesischen Diktatur 2008 organisierten Olympischen Spiele und die von Rio 2016, wo die Polizei in den Favelas tötete, kein Spaß. Aber es ist vielleicht das erste Mal in der Geschichte, dass eine Metropole über mehrere Kilometer und Tage im Voraus geleert wird und dass derart drastische, ausgeklügelte und systematische Systeme der Kontrolle, Überwachung und Einschränkung der Freiheiten eingesetzt werden."

Artikel auf französisch via @contreattaque

Eine deutschsprachige Übersetzung via @Sofie_unlabeled

Siehe auch: Kontroversen und Vorfälle, Eintrag bei WikiPedia

Text: Autonomie & Solidarität

cronjob