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Le nouvel avare

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

Lizenz: CC BY-SA 3.0

Es gibt zweierlei Arten von Geiz. Eine ist die archaische, die Leidenschaft, die sich und anderen nichts gönnt, deren physiognomischen Zug Molière verewigt, Freud als analen Charakter erklärt hat. Sie vollendet sich im miser, dem Bettler, der insgeheim über Millionen verfügt, gleichsam der puritanischen Maske des unerkannten Kalifen aus dem Märchen. Er ist dem Sammler, dem Manischen, schließlich dem großen Liebenden verwandt wie Gobseck der Esther. Man trifft ihn gerade noch als Kuriosität in den Lokalspalten der Tagesblätter. Zeitgemäß ist der Geizige, dem nichts für sich und alles für die andern zu teuer ist. Er denkt in Äquivalenten, und sein ganzes Privatleben steht unter dem Gesetz, weniger zu geben, als man zurückbekommt, aber doch stets genug, daß man etwas zurückbekomme. Jeder Freundlichkeit, die sie gewähren, ist die Überlegung: "ist das auch nötig?", "muß man das tun?" anzumerken. Ihr sicherstes Kennzeichen ist die Eile, für empfangene Aufmerksamkeiten sich zu "revanchieren", um nur ja in der Verkettung der Tauschakte, bei denen man auf seine Kosten kommt, keine Lücke entstehen zu lassen. Weil bei ihnen alles rational, mit rechten Dingen zugeht, sind sie, anders als Harpagon und Scrooge, nicht zu überführen und nicht zu bekehren. Ihre Liebenswürdigkeit ist ein Maß ihrer Unerbittlichkeit. Wenn es gilt, setzen sie unwiderleglich sich ins Recht und das Recht ins Unrecht, während der Wahnsinn der schäbigen Geizhälse das Versöhnliche hatte, daß der Tendenz nach das Gold in der Kassette den Dieb schon herbeizog, ja, daß erst in Opfer und Verlust ihre Leidenschaft sich stillte wie das erotische Besitzenwollen in der Selbstpreisgabe. Die neuen Geizigen aber betreiben die Askese nicht mehr als Ausschweifung sondern mit Vorsicht. Sie sind versichert.

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

Hinunter und immer weiter

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

Lizenz: CC BY-SA 3.0

Es scheinen die privaten Beziehungen zwischen den Menschen nach dem Modell des industriellen bottleneck sich zu formen. Noch in der kleinsten Gemeinschaft gehorcht das Niveau dem Subalternsten ihrer Mitglieder. Wer in der Konversation etwa über den Kopf auch nur eines einzigen hinwegredet, wird taktlos. Der Humanität zuliebe beschränkt das Gespräch sich aufs Nächste, Stumpfste und Banalste, wenn nur ein Inhumaner anwesend ist. Seitdem die Welt den Menschen die Rede verschlagen hat, behält der Unansprechbare recht. Er braucht bloß stur auf seinem Interesse und seiner Beschaffenheit zu beharren, um durchzudringen. Schon daß der andere, vergeblich um Kontakt bemüht, in plädierenden oder werbenden Tonfall gerät, macht ihn zum Schwächeren. Da das bottleneck keine Instanz kennt, die übers Tatsächliche sich erhöbe, während Gedanke und Rede notwendig auf eine solche Instanz verweisen, wird Intelligenz zur Naivetät, und das nehmen die Dummköpfe unwiderleglich wahr. Das Eingeschworensein aufs Positive wirkt als Schwerkraft, die alle hinunterzieht. Sie zeigt der opponierenden Regung sich überlegen, indem sie in die Verhandlung mit dieser gar nicht mehr eintritt. Der Differenziertere, der nicht untergehen will, bleibt zur Rücksicht auf alle Rücksichtslosen strikt verhalten. Von der Unruhe des Bewußtseins brauchen diese nicht länger sich plagen zu lassen. Geistige Schwäche, bestätigt als universales Prinzip, erscheint als Kraft zum Leben. Formalistisch-administratives Erledigen, schubfächerweise Trennung alles dem Sinne nach Untrennbaren, verbohrte Insistenz auf der zufälligen Meinung bei Abwesenheit jeglichen Grundes, kurz die Praktik, jeden Zug der mißlungenen Ichbildung zu verdinglichen, dem Prozeß der Erfahrung zu entziehen und als das letzte So bin ich nun einmal zu behaupten, genügt, unbezwingliche Positionen zu erobern. Man darf des Einverständnisses der anderen, ähnlich Deformierten, wie des eigenen Vorteils gewiß sein. Im zynischen Pochen auf den eigenen Defekt lebt die Ahnung, daß der objektive Geist auf der gegenwärtigen Stufe den subjektiven liquidiert. Sie sind down to earth wie die zoologischen Ahnen, ehe diese sich auf die Hinterbeine stellten.

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

Über die Drosselung des technischen Fortschritts

Herbert Marcuse in Newton, Massachusetts, 1955
Foto: © Marcuse family, represented by Harold Marcuse
"Es geht nicht darum, den technischen Fortschritt aufzuhalten oder zu drosseln, sondern darum, diejenigen seiner Züge zu beseitigen, welche die Unterwerfung des Menschen unter den Apparat und die Steigerung des Kampfes ums Dasein verewigen."

Herbert Marcuse

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