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"Tote laden nicht nach!" - Wolf Wetzel zum NSU-Prozess

Es gibt für dieses Interview zu elf Jahren NSU und fünf Jahren „Aufklärung“ kein bessere Einleitung, als das Plädoyer der Generalbundesanwaltschaft in München.

Bevor Bundesanwalt Dr. Diemer die Beweiserhebung im dortigen Prozess würdigt, geht er auf die Vorwürfe ein, die gegen diesen Prozess, gegen die Anklage und gegen die dort stattgefundene Beweiswürdigung erhoben wurden:

„Eine Beweisaufnahme, die das politische und mediale Interesse nicht immer befriedigen konnte, weil die Strafprozessordnung dem Grenzen setzte. Rechtsstaatliche Grenzen, die verlangen, das Wesentliche vom strafprozessual Unwesentlichem zu trennen. So ist es schlicht und einfach falsch, wenn kolportiert wird, der Prozess habe die Aufgabe nur teilweise erfüllt, denn mögliche Fehler staatlicher Behörden und Unterstützerkreise –“ welcher Art auch immer –“ seien nicht durchleuchtet worden. Mögliche Fehler staatlicher Behörden aufzuklären, ist eine Aufgabe politischer Gremien. Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verstrickung von Angehörigen staatlicher Stellen sind nicht aufgetreten.“ (Wortprotokoll der Nebenklage)

Bezeichnenderweise geht er nochmals besonders auf den Mordanschlag in Heilbronn 2007 ein, bei dem eine Polizistin ermordet und ein Polizeibeamter schwer verletzt wurde. Im Wissen darum, dass die Anklageversion ihr profundesten Widersacher in den ermittelnden Polizeibeamten hat, holt Bundesanwalt Dr. Diemer richtig aus:

„Der Anschlag auf die beiden Polizeibeamte war Angriff auf unseren Staat, seine Vertreter und Symbole. Die Auswahl der Personen selbst geschah auch hier willkürlich. Alle anderen Spekulationen selbsternannter Experten, die so tun, als habe es die Beweisaufnahme nicht gegeben, sind wie Irrlichter, sind wie Fliegengesumme in den Ohren.“ (Wortprotokoll der Nebenklage)

Zu den „selbsternannten Experten“ gehören zu aller erst die polizeilichen Ermittler. Auch diese zu „Irrlichtern“ zu erklären, ist ziemlich infam. Die Mehrzahl der Indizien und Beweismittel, die der offiziellen Version widersprechen, zu einem „Fliegengesumme“ zu machen, zeugt am wenigsten von Scharfsinn. Es läßt erahnen, wie dünn die Decke ist, unter der andere Tatumstände und Tatbeteiligte geschützt werden sollen.
Es ist zu wünschen, dass dieses „Fliegengesumme“ noch lange, nicht nur die Generalbundesanwaltschaft in München, verfolgen wird.

Das Interview ist 30 Minuten lang und konzentriert sich auf drei zentrale „Schauplätze“ im NSU-VS-Komplex:

  • Der Mord in Kassel 2006
  • Der Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007
  • Der „Selbstmord“ in Eisenach 2011

Festival der Grundrechtsverletzungen: Hamburg im Zustand polizeilicher Belagerung

Das Gegenteil des Mitte Mai vollmundig von Innensenator Grote angekündigten Festivals der Demokratie haben wir in der letzten Woche erlebt. Niemand sollte daran gehindert werden, seine Grundrechte wahrzunehmen. Nun ist es geschehen. Hamburg befand sich im polizeilichen Belagerungszustand, massenhaft wurde das Recht auf kollektive Meinungsäußerungsfreiheit, auf Versammlungsfreiheit, auf körperliche Unversehrtheit und auf Achtung der Menschenwürde beschränkt.

Die Allgemeinverfügung über eine 38 Quadratkilometer große Versammlungsverbotszone setzte bereits ein Zeichen gegen jedes wirksame plebiszitäre Mitwirkungsrecht der Bevölkerung, gegen die Versammlungsfreiheit als eines –“ so das Bundesverfassungsgericht - „grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes“ einer Demokratie.

Bis zum Bundesverfassungsgericht musste der Anmelder des Antikapitalistischen Camps gehen um bestätigt zu bekommen, dass ein politisches Camp eine Versammlung sein kann und nach den Regeln des Artikel 8 GG zu behandeln ist. Es folgte die rechtswidrige und polizeilich gewalttätige Verweigerung des Aufbaus der Antikapitalistischen Camps in Entenwerder trotz eines positiven Gerichtsbeschlusses, begleitet von den markigen Worten des Gesamteinsatzleiters Dudde, er werde persönlich dafür Sorge tragen, dass auf der Halbinsel kein Protestcamp stattfinden werde. Zwar bestätigte das Oberverwaltungsgericht, dass Dudde den Versammlungsteilnehmern Unrecht getan hatte, doch die völlig entnervten Organisatoren des Camps gaben die Umsetzung auf.

Die Auseinandersetzungen anlässlich der Demonstration „Welcome to Hell“ am 6. Juli begannen durch ein rechtswidriges Eingreifen der Polizei. VertreterInnen des Anwaltlichen Notdienstes G20 haben das Geschehen und den Beginn der Auseinandersetzungen selbst verfolgen und sich davon überzeugen können, dass die Polizei trotz des Ablegens der Vermummung bei zahlreichen Demonstrationsteilnehmern die zu diesem Zeitpunkt völlig friedliche Demonstration gewalttätig und mit Wasserwerfern angriff.

Auch wenn es im Versammlungsgesetz ein grundsätzliches Vermummungsverbot gibt, ist dieses Gesetz versammlungsfreundlich auszulegen. Es ist eine Verletzung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit, eine friedliche Demonstration anzugreifen.

Am 7. Juli haben sich Menschen immer wieder an verschiedenen Orten der Stadt friedlich versammelt, so auch an den Landungsbrücken und am Baumwall. Ohne Abwägung, ohne Respektierung der Freiheitsrechte wurden diese Versammlungen als verboten betrachtet und von der Polizei aufgelöst.

Und auch wenn am gestrigen 8. Juli viele tausend Menschen auf die Straße gegangen sind, ist festzustellen, dass die Route weitab des Geschehens des G20, weder in Hör- noch in Sichtweite des Treffens der VertreterInnen der reichsten Länder dieser Erde war.

Hunderte von VersammlungsteilnehmerInnen wurden durch die harten Maßnahmen der Polizei verletzt, hunderte wurden festgenommen und in die extra für den G20 aus dem Boden gestampfte Gefangenensammelstelle in Hamburg-Neuland verbracht, wo eine oft äußerst zögerliche Vorführung zu dem Gericht erfolgte und die Festgenommenen an dem Zugang zu anwaltlichen Beistand dadurch gehindert wurden, dass nicht die Telefonnummer des Anwaltlichen Notdienstes, sondern ein Hamburger Telefonbuch mit über 10.000 Anwältinnen und Anwälten vorgelegt wurde und aufgefordert wurde, sich daraus einen Anwalt herauszusuchen.

Rechtsanwältin Gabriele Heinecke vom Anwaltlichen Notdienst G20 erklärt zu den Vorgängen der letzten Woche:

„Wem an dem Erhalt der Demokratie liegt, sollte durch die Erfahrungen der letzten Tage gewarnt sein. Es herrschte ein Ausnahmezustand mit einer flächendeckenden Aushebelung des Versammlungsrechts und mit einer erschreckenden Rücksichtslosigkeit von Seiten der Polizei gegenüber Leib und Leben der Demonstranten. Es kann nicht richtig sein, unter Hinweis auf Straftaten am Rande von Demonstrationen oder auf Krawalle im Schanzenviertel, die Unverbrüchlichkeit von Grundrechten in Frage zu stellen. Und es kann nicht richtig sein, jetzt unter dem Ruf nach hohen Strafen für Gewalttäter von den massiven Fehlern und Rechtsbrüchen der Polizei abzulenken.Wenn die Jugend massenhaft wütend ist, muss man sich über die Ursachen Gedanken machen. Der Ruf nach dem harten Staat hat bisher nur zu weniger Demokratie, nicht aber zu einer Lösung geführt.“

Pressemitteilung via Pressegruppe des Anwaltlichen Notdienstes beim RAV e.V.
Hamburg, den 09.07.2017

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