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Das einsame Sterben des Herrn P.

Ein Krankenzimmer, in irgendeinem Krankenhaus
Foto: Tomasz Sienick
Lizenz: [Public domain], via Wikimedia Commons
Kürzlich war ich im Krankenhaus. Wegen einer Untersuchung sollte ich über Nacht bleiben. AOK Patient, der ich nun mal bin, fand ich mich mit zwei Leidensgenossen in einem Dreibettzimmer wieder: Mit Herrn H. und Herrn P.

Herr P. liegt in dem Bett neben meinem, Herr H. gegenüber von Herrn P. Meinem Bett entgegengesetzt ist die Toilette. Behindertengerecht.

Während Herr H. seinen Umständen entsprechend einigermaßen fidel ist, geht es Herrn P. offenkundig nicht gut. Er liegt mit halb geöffneten Augen teilnahmslos in seinem Bett und röchelt mit zahnlosem, offenen Mund gleichmäßig in dem muffig riechenden Zimmer vor sich hin. Auf meinen freundlichen Gruß und die Frage, ob es ihm etwas ausmacht, wenn ich mal etwas lüfte (ich bin Frischluftfanatiker) reagiert er nicht.

Von unserem Fenster aus kann man in einen Teil des Parks des Krankenhauses sehen. Den Park nimmt Herr P. nicht mehr wahr.

Ebenso wenig wie eine kurze Begutachtung eines Krankenhausbeschäftigten, der sich nicht näher vorstellt und den ich wegen seines Umgangs mit Herrn P. zuerst für einen überforderten Pfleger halte. "Oje" und "Hm..." und die Ansprache: "Herr P. hören Sie mich? Können Sie mich verstehen?" ist alles, was er sagt.

Herr P. reagiert darauf nicht. Er röchelt weiter.

Ein paar Stunden später am Nachmittag kommt dann eine Pflegekraft, die feststellt, dass Herr P. immer noch Tablettenreste vom der morgendlichen Medikation im Mund hat. Den Versuch, ihn etwas zur Seite zu bewegen, quittiert P. mit lautem Stöhnen, woraufhin die Pflegerin von ihm ablässt und sich Verstärkung holt. Mit vereinten Kräften klappt es dann wohl. Herr H. und ich werden vorher aus dem Zimmer komplimentiert. Danach liegt P. ein wenig anders

H., der eigentlich auch eher ins Bett gehört, meinte auf dem Gang zu mir, daß er seit zwei Wochen auf der Station ist und in diesen zwei Wochen P. eigentlich nicht anders erlebt hätte als am Tropf hängend und recht reaktionslos auf das Füttern und die Pflege reagierend.

Immerhin: Nachmittags kommen Angehörige von Herrn P. zu Besuch, offenbar Ehefrau und Tochter. Obwohl P. auch auf sie nicht reagiert, sprechen sie ihm über eine Stunde zu. Dann kommt eine Assistenzärztin hinzu und bittet mich und meine Frau aus dem Zimmer. Herr H., der inzwischen ebenfalls von seiner Frau Besuch bekommen hat, kann wegen seiner Bettlägrigkeit im Zimmer bleiben. Nach einer halben Stunde kann ich mit meiner Frau wieder ins Zimmer.

Nach einer Weile verabschieden sich dann Frau P. und Tochter von Herrn P., wünschen Herrn H. und mir gute Besserung und verlassen den Raum. Inzwischen ist die Zeit für das Abendessen und die Vorbereitung meiner Untersuchung am nächsten Tag gekommen, woraufhin sich meine Frau ebenfalls verabschiedet.

Allein mit Herrn H. und Herrn P. der immer noch vor sich hin röchelt, dafür jetzt aber in Richtung meines Bettes, überlege ich, was ich machen soll, wenn es ihm noch schlechter geht. Mit dem beruhigendem Gefühl, dass über den Notfallknopf sicher sogleich kompetente Hilfe herbeieilen wird, verdränge ich die zunehmenden Zweifel, daß mit Herrn P. etwas falsch läuft. Zudem ist dem Personal, so jedenfalls mein Eindruck, der Zustand von P. klar. Sage ich mir.

Ich habe ja auch zu tun: Obwohl ich bei der Aufnahme meine vegetarische Ernährungsweise angegeben hatte, wird mir zum Abendessen ordentlich Bierschinken und Teewurst serviert. Nach Protest und einiger Zeit bekomme ich dann immerhin etwas vegane Margarine, Marmelade und Honig serviert. (Bislang scheitere ich immer noch am Käse, kämpfe jedoch einigermaßen, vermeide aber Sachen wie Honig etc.). Die auf meine Beschwerde hin hinzugezogene, für die Ernährung der PatientInnen zuständige Stationsschwester zeigt sich denn auch bass erstaunt über meine Wünsche: Das wäre nicht zu ihr durchgedrungen, obwohl ich ihr glaubhaft darlegen kann, dass diese persönliche Eigenheit bei meiner Aufnahme schriftlich und rot umkringelt in den Aufnahmedokumenten festgehalten und auch der Aufnahmestation bestätigt wurde.

Über diese Umstände gerät mir Herr P. dann auch etwas aus den Gedanken, ich nutze die Zeit zum Twittern, Beantworten von Emails und Lesen, hänge in meinen Gedanken über mögliche Ergebnisse bei meiner Untersuchung nach. Sachen, die man halt so als Kassenpatient macht, der kein unnötiges Geld ausgeben will für ein kostenpflichtiges Terminal mit Fernsehen. Zudem habe ich inzwischen selber zu kämpfen mit meinem eigenen Zustand, der sich wegen der Einnahme der Untersuchungsmedikamente auch unangenehm für mich und meine Mitpatienten verändert hat.

Gegen 23 Uhr lege ich dann mein Lesegerät beiseite, versiegele gewohnheitsmäßig meine den Schlafgeräuschen mir persönlich unbekannter Mitschläfer gegenüber empfindlichen Ohren mit Ohrstöpseln und falle in einen unruhigen Schlaf. Herr P. röchelt weiter und Herr H. schaut in seinem Terminal Fernsehen.

Um 5 Uhr weckt mich die zuständige Pflegekraft mit einer weiteren Dosis meiner Medikamente. Nachdem ich beruhigt Herrn P.'s gleichmäßiges, flaches Röcheln vernehme, schlafe ich dann bis 7 Uhr weiter, als bei mir die erwartete, deutliche Reaktion auf die Medikamente erfolgt. Da die Untersuchung bei mir auf nüchternen Magen stattfindet, fällt das Frühstück für mich flach. Da ich nur ungern ungewaschen zu Untersuchungen gehe, benutzte ich die Gemeinschaftsdusche für KassenpatientInnen draußen auf dem Gang.

Inzwischen ist die Frühstückszeit vorbei, während meiner Dusche fand wohl auch die Visite statt, was mich kaum tangiert, da ich einen Teil meiner Untersuchungen bereits am Vortag absolviert habe und über die Ergebnisse informiert wurde. Nachgefragt hat offenbar auch niemand. So bekomme ich nur noch mit, dass bei meinen Kollegen der Blutdruck und das Blut abgenommen wird.

Herr H. freut sich wie Bolle, dass er bei entsprechendem Befund entlassen werden könnte.

Verständlich bei jemandem, der dieses Jahr bereits mehrfach und zum Teil wochenlang im Krankenhaus verbracht hat. Herr P. seinerseits atmet für meine Begriffe inzwischen noch flacher. Die Pflegerin findet keinen geeigneten Zugang bei P., zudem ist er noch verkrampfter wie am vorigen Tag. Deshalb stellt sie den Tropf ab und entnimmt eine halbe Stunde später aus dem gelegten Zugang das Blut. Danach wird der Tropf wieder in Gang gesetzt.

Während mir das Warten auf meine Untersuchung immer länger vorkommt, denke ich mir in meinem Bett neben dem von Herrn P. liegend, dass er jetzt leichter atmet. Jedenfalls hat das Geröchel aufgehört. Inzwischen hat Herr H. von seiner Therapeutin Besuch und in dem Zusammenhang ist einiges los in unserem Dreibettzimmer.

Gegen 9 Uhr kommt dann wieder der scheinbar überforderte Pfleger und sieht mit der Pflegerin, die bei Herrn P. inzwischen das Blut abgenommen hat, nach dem Patienten. Nach einigen Umrundungen des Bettes von P. meint er zu mir und Herrn H. und dessen Therapeutin, dass wir umgehend das Zimmer verlassen sollen. Herr P. indessen ist inzwischen still.

Der eigentlich bettlägerige Herr H. wird per Rollator auf einen Stuhl im Wartebereich der Station verfrachtet, was ihm im Gegensatz zu mir schon schwer fällt. Seine Therapeutin regt sich über den Umgang mit Herrn P. auf, muss aber schon wieder zum nächsten Patienten und fragt so nur noch, ob H. noch etwas braucht, was er verneint. Die in einigermaßen Aufregung versetzten Pflegekräfte bedeuteten uns, dass wir erst in ungefähr zwei Stunden wieder in das Zimmer könnten. Bis heute erschließt sich mir der Sinn dieser Ansage nicht.

So sitzen wir dann uns überlassen im Wartebereich herum. H. und ich hatten seitdem ich auf die Station kam, kaum einen Satz gewechselt. Der Austausch von Krankengeschichten liegt mir nicht so sehr.

Nach einer Weile spreche ich Herr H. an, ob ich ihm nicht lieber sein Bett organisieren soll, da er wegen seiner Erkrankung kaum sitzen kann. Er stimmt zu und so mache ich mich auf den Weg. Nach kurzer Suche werde ich fündig und so kann Herr H. wieder liegen. Im Wartebereich. Er beginnt zu erzählen, dass Herr P. offenbar gestorben sein muss, zumindest hat er so beim Verlassen unseres Zimmers ein Gespräch der Pflegerin mit dem vermeintlichen Pfleger, der wie Herr H. mich jetzt aufklärte, tatsächlich der Stationsarzt ist, verstanden. Laut H. sind die Angehörigen gestern, als ich aus dem Zimmer geschickt wurde, gefragt worden, ob Herr P. mit einer Sonde ernährt werden soll, weil es anders nicht ginge. P.'s Frau hatte das abgelehnt.

Nach einer Stunde kommen die Assistenzärtzinnen, um "die Situation mit uns zu besprechen". Leider sei das Krankenhaus hoffnungslos überbelegt. Kein Wort dazu, dass P. gestorben ist. Geschweige denn die Frage, ob und was es einem etwas ausmacht, wenn jemand einen Meter nebenan stirbt. Abgesehen davon, was es P. selber ausgemacht haben muss. Wenn er denn noch etwas mitbekommen hat. Obwohl eigentlich offensichtlich ist, dass zumindest Herr H. nach dem miterlebten Gespräch des Personals mit P.'s Angehörigen klar sein muss, dass es mit P. zu Ende geht. Und damit wohl auch mir.

Weitere zwei Stunden später kommt dann die für Herr H. frohe Botschaft, daß er entlassen wird. Obwohl ich persönlich in seinem Zustand nicht nach Hause wollte, freue ich mich für ihn und seine inzwischen eingetroffene Frau. Kurz vor Mittag wird mir dann auch mitgeteilt, dass mein Warten nun auch zu Ende ist, meine Untersuchung unmittelbar bevorsteht und ich mich dazu in mein Bett zwecks Fahrt in die Untersuchungsabteilung begeben soll. Das fehlende Bett wirde dann noch aus unserem Zimmer besorgt, wohin mir und Herr H. der Zutritt jedoch immer noch verweigert wird. Offenbar ist Herr P. noch immer im Zimmer.

Endlich auf der Untersuchungsstation angelangt, meint eine Krankenschwester, die lange Wartezeit entschuldigend, zu mir: "Tut mir sehr leid für das lange Warten, wir sind leider völlig überbelegt, alle wollen in unser Krankenhaus..." Ich eher nicht mehr. Das liegt aber nicht an diesem Krankenhaus oder den Menschen, die dort arbeiten. Nein.

This is, what Capitalism looks like...

Auf Teufel komm raus: Der stille Schrei nach Zensur. Ein Interview mit dem Journalisten Thomas Moser

Die Dokumentation „Tod einer Polizistin -“ Das kurze Leben der Michèle Kiesewetter“ von Katja und Clemens Riha, die in der ARD am 24. April 2017 ausgestrahlt wurde, schlägt Wellen.
Es geht um den Mordanschlag in Heilbronn 2007, bei dem die Polizistin Michèle Kiesewetter getötet und ihr Kollege Martin Arnold schwer verletzt wurden.
Nachdem die Redakteurin der Süddeutschen Zeitung die Dokumentation als „krude“ bezeichnet hatte, um die Programmdirektoren dazu aufzufordern, uns so etwas nicht länger „vorzusetzen“, betritt nun auch der Vorsitzende des parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Baden-Württemberg, Wolfgang Drexler (SPD) die Arena, um der Redakteurin zu sekundieren. Dabei fällt kein einziges Mal das Wort Zensur. Beide können sich darauf verlassen, dass sie genau so verstanden werden.

Die polizeilichen Ermittlungen zum Mordanschlag in Heilbronn 2007 führten zu dem Ergebnis, dass „vier bis sechs“ Täter daran beteiligt gewesen sein müssen. Nachdem sich die neonazistische Terrorgruppe „NSU“ Ende 2011 selbst bekannt gemacht hatte und man die entwendeten Dienstwaffen in dem Campingwagen fand, in dem die beiden NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt tot aufgefunden wurden, machte man den NSU dafür verantwortlich. Auch eine Jogginghose dient als Beweis für diese Zwei-Täter-These. „In der ausgebrannten Wohnung des NSU-Trios in Zwickau wurde eine Jogginghose mit Taschentüchern von Mundlos entdeckt. Darauf fanden sich Blutspritzer von Kiesewetter. Der Träger muss laut einem Gutachter bei der Tat in Heilbronn dabei gewesen sein.“ (Die neun größten Rätsel, swr.de 9.12.2015)

Zu dieser These gibt es zahlreiche Widersprüche. Unter anderem äußerte sich der damalige SOKO-Chef Alex Mögelin auf die Frage: "Was haben Sie gefunden, was darauf deutet, dass Mundlos und Böhnhardt in Heilbronn waren?" vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg wie folgt: „Bei den objektiven Spuren: nichts.“ (Südwest Presse vom 29.5.2015)
Vor allem das Motiv dieser Mordtat ist völlig freischwebend und begründungsfrei: Die NSU-Mitglieder wollten in den Besitz von Polizeiwaffen kommen. Bis heute gibt es auf die Frage des jetzigen PUA-Vorsitzenden Binninger in Berlin keine plausible Antwort: Warum sollten bereits schwerbewaffnete NSU-Mitglieder 450 Kilometer fahren, um an zwei Dienstwaffen zu gelangen? Nicht minder unbeantwortet bleibt die Frage, warum man dafür Polizisten ermordet und das an einem Ort, wo Dutzende Aussteller für ein bevorstehendes Volksfest Zeugen sein könnten?

Es war also nicht nur sinnvoll, sondern geradezu notwendig, der Frage nachzugehen, ob die vorhandenen Beweismittel auch einen anderen Geschehensablauf zulassen und ein anderes Motiv glaubhaft machen können. Dies unternimmt diese Dokumentation.
Schon am Tag der Ausstrahlung veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Filmverriss: Man warf den Filmemachern vor, sich im „Dschungel von Verschwörungstheorien“ zu bewegen. Was sie der offiziellen Version entgegenhalten, sei „krude“.

Kurz danach folgte diesem Aufruf auch der PUA-Vorsitzende in Baden-Württemberg Wolfgang Drexler mit einer Pressemitteilung vom 26. April 2017. Über diese Verlautbarung und deren Wahrheitsgehalt spreche ich mit dem Journalisten Thomas Moser. Er hat über Jahre die PUA in Stuttgart und Berlin verfolgt, hat gerade auch in Baden-Württemberg eigene Recherchen unternommen und zahlreiche Radiobeiträge verfaßt und sich an der hier zu Rede stehenden Dokumentation beteiligt.



Wetzel: Gehen wir die Pressemitteilung des PUA-Vorsitzenden Drexel von oben nach unten durch. Eingangs betont er, dass er sich „ansonsten stets bewusst überaus zurück(halte) bei der Bewertung auch bisweilen weniger sachlicher Medienbeiträge.“ Stimmt das?

Moser:
Der Satz geht ja noch weiter. Drexler schreibt, dass er die Intendanten der ARD angeschrieben habe und die Einhaltung journalistischer Grundsätze nach dem Rundfunkstaatsvertrag angemahnt habe. Er wendet sich nicht etwa an die verantwortlichen Redaktionen, sondern geht auf die politische Ebene. Das ist Denunziation. Und das geschieht bei Drexler nicht das erste Mal. Vor knapp zwei Jahren haben Clemens und Katja Riha eine erste große NSU-Dokumentation gedreht. Damals für 3sat mit dem Titel: „NSU -“ Der Kampf um die Wahrheit“. Sie haben auch damals im Untersuchungsausschuss in Stuttgart gedreht. Schon über diesen Film hat sich Drexler beschwert, schon damals nicht etwa bei der Redaktion, sondern beim Intendanten des ZDF. Kurz danach hat der Sender den Film aus dem Programm genommen. Er wurde nie wieder ausgestrahlt.

Wetzel: Wolfgang Drexel hält es für „perfide“, wenn die Dokumentation den Versuch mache, „unmittelbare Kontakte von Michèle K. zu Rechtsextremen zu unterstellen.“

Moser:
Da bin ich vielleicht der falsche Adressat, weil ich den Film nicht zu verantworten habe. Aber wenn ich als Beobachter gefragt werde, muss ich sagen: Dieser Anwurf ist komplett daneben. Der Film dokumentiert, wie vor Jahren, zum Beispiel durch eine Reporterin des SWR, die Familie Kiesewetter in die rechte Nähe gerückt wurde. Der Film zeigt das auf und behauptet das nicht. Clemens Riha lässt ja den Bürgermeister von Oberweißbach, dem Heimatort Kieswetters, zu Wort kommen, der diesen Vorwurf kontert. Drexler hat das offensichtlich schlicht nicht verstanden -“ oder nicht verstehen wollen, weil es ihm möglicherweise darum ging, irgend etwas gegen den Film zu finden und wenn man es an den Haaren herbeizieht. Das zeigt sich auch an seiner Wortwahl „perfide“. Wenn, dann müsste Drexler den SWR dafür attackieren, aber nicht die Rihas.

Wetzel: Wolfgang Drexel führt für die unumstößliche „Zwei-Täter-Theorie“ eine Teileinlassung von Beate Zschäpe im Prozess aus, die die Dokumentation „gänzlich ignoriert“ habe. Dort habe das NSU-Mitglied die „Täterschaft von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos (auch) an der Tat von Heilbronn einräumt“. Wie wichtig ist diese Einlassung?

Moser:
Wenn es Zweifel an der (Allein-)Täterschaft der zwei Uwes gibt, - und die sind mehr als berechtigt - warum soll dann Zschäpe, die Komplizin der zwei, die Kronzeugin sein? Die Kronzeugen für eine andere Version sind die Ermittler der SoKo Parkplatz, die -“ vor November 2011 -“ auf mindestens vier bis sechs Täter kamen. Dass Zschäpe die offizielle Zwei-Täter-Theorie stützt, ist in der Tat auffällig, fügt den tausenden Ungereimtheiten im NSU-Komplex aber nur eine weitere hinzu.

Wetzel: Im weiteren Verlauf seiner Mitteilung kommt Wolfgang Drexler auf die zahlreichen Todesfälle in Baden-Württemberg zu sprechen, die die Frage aufgeworfen hatten: Warum sterben potenzielle Zeuge so jung und auf so ungewöhnliche Weise? Drexler sagt dazu klipp und klar, dass die „Todesfälle im Komplex Florian H.“ aufgearbeitet wurden, sprich: „der Verdacht von Fremdverschulden jeweils plausibel ausgeräumt“ seien. Wie plausibel ist das?

Moser:
Tut mir leid, aber hier sagt dieser Mann, immerhin Landtagsabgeordneter, Sozialdemokrat, die Unwahrheit, meiner Meinung nach bewusst. Die Untersuchung des Todesfalles Florian H. hat dieser Ausschuss mittendrin abgebrochen und nicht zu Ende geführt. Anlass war die Weigerung der Familie H., dem Ausschuss Geräte Florians zu übergeben, weil sie das Vertrauen in den Ausschuss verloren hatte. Daraufhin hat Drexler eine Hausdurchsuchung bei den H.s durchführen lassen. Anschließend hat der Ausschuss seine Nachforschungen zum Tod von Florian demonstrativ eingestellt. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart erklärt zwar, Florian H. habe Suizid begangen, restlos belegt ist das aber nicht. Ein Gutachter stellte fest, dass der junge Mann einen tödlichen Medikamentenmix intus hatte und handlungsunfähig war, als der Wagen explodierte. Florian H. ist in seinem Auto verbrannt. Dann folgte der zweite Todesfall, der die Ex-Freundin von Florian H. betraf, Melisa M. Sie starb an einer Lungenembolie. Das ist zweifelsfrei. Wie aber das Blutgerinnsel zustande kam, das die Lungenembolie ausgelöst hat, können die Gerichtsmediziner nicht sagen. Der Ausschuss hat sich mit diesem Todesfall überhaupt nicht beschäftigt. Drexler hat das damit begründet, dass das ja gar nicht durch den Untersuchungsauftrag gedeckt sei. Etwas Befremdlicheres habe ich selten gehört. Nach der Drexlerschen Logik hätte man bei der Beschlussfassung des U-Auftrages ja geradezu davon ausgehen müssen, dass eine Zeugin, dass Melisa stirbt, um ihren Tod untersuchen zu können. Als drittes starb dann der neue Freund von Melisa, Sascha W. Er soll sich erhängt haben. Aber er war in einer neuen Beziehung und seine Frau erwartete ein Kind. Auch diesen Todesfall hat der Ausschuss nicht untersucht. Wir sind bei unseren Recherchen an den Nachbar geraten, der beide -“ Melisa und Sascha -“ gut kannte. Von Beruf ist der Mann übrigens Polizist. Er hat uns erzählt, dass Melisa nach ihrer Vernehmung im Ausschuss Bedrohungen erhalten habe -“ „um ihr Leben“, sagte er wörtlich. Die Szene findet sich im Film. Doch was macht der NSU-Ausschuss und sein Vorsitzender in Stuttgart? Statt sich für diesen Zeugen zu interessieren und ihn zu laden, wird alles als „ausgeräumt“ erklärt. Dieser Ausschuss leistet einen Offenbarungseid. Tatsächlich will er nicht aufklären, sondern so tun als ob. Ich finde das unerträglich.

Wetzel: Am Ende seiner Pressemittelung greift Drexler das „Urteil einer profunden Journalistin“ auf. Es handelt sich dabei um eine Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, der er sich nur anschließen könne, „die schreibt, dass es -šum so ärgerlicher sei, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine krude Story vorgesetzt zu bekommen, die nicht zur Erkenntnis, sondern geradewegs hinein in den Dschungel der Verschwörungstheorien-™ führe.“ Diese fordert ziemlich direkt die Programmdirektoren dazu auf, uns nicht länger solche „kruden Stories“ vorzusetzen. Kann man so etwas als Repressionsdrohung verstehen?

Moser:
Wenn uns diese Story nicht vorgesetzt werden soll, heißt das, sie muss verschwinden. Das ist Zensur. Mit dem ersten Riha-Film ist das ja passiert. Mit dem zweiten soll, wenn es nach Anette Ramelsberger und Wolfgang Drexler geht -“ und er zitiert sie ja wahrscheinlich nicht aus Versehen -“ dasselbe geschehen. Das ist bedenklich. Es ist aber mehr. Es ist die Demonstration des Misstrauens in Redaktionen und ihre Arbeit, ein Angriff auf die innere Pressefreiheit könnte man sagen. Der Film wurde vorgeschlagen und angenommen. Er wurde von verantwortlichen Redakteuren und Redakteurinnen betreut. Er wurde redaktionell abgenommen und produziert. Das alles soll nicht mehr gelten. Wenn so ein Film kassiert wird, -“ und der erste wurde ja kassiert -“ wird zugleich eine Redaktion entmündigt und zerstört.

Wetzel: Wissen Sie, wie die Filmemacher auf diese Pressemitteilung reagieren werden bzw. wie sie diese Art der „Diskussion“ erleben?

Moser: Ich weiß ein bisschen etwas. Aber hier möchte ich bewusst nicht für Katja und Clemens Riha antworten. Das sollen sie selber können. Sie haben das Recht dazu. Leider muss man nämlich feststellen, dass ihnen dieses Recht nicht von allen Medien gewährt wird. Medien haben die Pressemitteilung von Drexler veröffentlicht, ohne eine Stellungnahme der Rihas einzuholen. Die so hochgehaltene Sorgfaltspflicht als Standard, alle Seiten zu Wort kommen zu lassen, scheint manchmal nicht opportun zu sein.

Wolf Wetzel: Ich danke sehr für das Gespräch.

Der Umstand, dass seit 1994 am 3. Mai der „Internationale Tag der Pressefreiheit“ gefeiert wird, um auf Verletzungen der Pressefreiheit sowie auf die grundlegende Bedeutung freier Berichterstattung aufmerksam zu machen, ist bestimmt auch ziemlich „perfide“, Herr Drexler?

Zuerst publiziert auf Rubikon am 3.5.2017

nachschLAg: Ein unvollständiger Wochenrückblick

BRASILIEN
Es war ein schwarzer Freitag für Brasiliens Machthaber: Gewerkschaften, Oppositionsparteien und soziale Bewegungen machten ihr Vorhaben wahr, das Land für 24 Stunden stillstehen zu lassen. Der erste nach 21 Jahren wurde der wahrscheinlich größte Generalstreik in der brasilianischen Geschichte.

Seit Wochen nehmen im Kampf um Land und Anbauflächen die Attacken auf indigene Gemeinden in Brasilien zu: Im Nordosten des Landes wurden im Bundesstaat Maranhao 13 Mitglieder des Gamela-Volkes zum Teil schwer verletzt, wie lokale Medien am Montag (Ortszeit) berichteten.

Der in weltweite Bestechungsskandale verwickelte brasilianische Konzern Odebrecht hat 2015 eine halbe Million US-Dollar zum Wahlkampf des argentinischen Präsidenten Mauricio Macri beigesteuert.

KOLUMBIEN
Parlamentarier der Grünen und des linken Polo Democrático (PD) hegen den Verdacht, dass der militärische Nachrichtendienst Kolumbiens in die aktuelle Mordwelle an Anführern der sozialen Bewegungen verwickelt ist.

KUBA
Der Internetriese Google hat erstmals eigene Server auf Kuba in Betrieb genommen. „Der Google Global Cache ist aktiv und verfügbar“, schrieb das Onlinemedium Cubadebate am Mittwoch unter Berufung auf die Internet-Analysefirma Dyn Research.

VENEZUELA
Venezuelas Präsident Nicolás Maduro hat eine Forderung der Opposition aufgegriffen -“ und sich damit deren Zorn zugezogen. Während seiner Rede vor Hunderttausenden Anhängern, die sich am 1. Mai auf der Avenida Bolívar im Zentrum der Hauptstadt Caracas versammelt hatten, kündigte der Staatschef die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung an.

US-Autokonzern feuert gesamte Belegschaft in Venezuela. Die Arbeiter reagieren mit Betriebsbesetzung.

Ein Gemeinschaftsprojekt von Einfach Übel und redblog, Ausgabe vom 05. Mai 2017

Themenabend in Esslingen: Die Ungerührte - Die Auferstehung der Gisela Elsner

Veranstaltungsflyer
Grafik: © Oliver Grajewski
Gisela Elsner, geboren am 2. Mai 1937, galt in den 1960er Jahren als Star der bundesdeutschen Literaturszene. Für ihren Debütroman „Die Riesenzwerge“ erhielt sie internationale Anerkennung und viele Auszeichnungen. In ihren grotesk-satirischen Romanen und Erzählungen thematisierte die Autorin ökonomische, familiäre und gesellschaftliche Machtverhältnisse.

Einen besonderen Stellenwert in Gisela Elsners Werk nimmt die Aufarbeitung des Faschismus ein. Viele ihrer Bücher wurden zum Skandal.

Ab Anfang der 1980er Jahre geriet „die große böse Schwester der Jelinek“ zunehmend ins literarische Abseits.

Von Kritikern wurde sie oft auf ihre schrille, aber bewusst angelegte Selbstinszenierung mit teuren Kleidern und schwarzen Perücken reduziert; ihre Bücher wurden verrissen.

Im Mai 1992 nahm sich Gisela Elsner das Leben und geriet zunächst in Vergessenheit. Interesse an ihrer Person weckte erst wieder der Film „Die Unberührbare“, in dem ihr Sohn Oskar Roehler die letzten Monate im Leben seiner Mutter nachzeichnet. In den letzten Jahren wurde durch die Werkausgabe im Verbrecher Verlag auch wieder das Werk der Autorin bekannter.

Zum 80. Geburtstag und zum 25. Todestag von Gisela Elsner erinnert die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes -“ Bund der AntifaschistInnen Kreisvereinigung Esslingen in Zusammenarbeit mit dem Buchladen Die Zeitgenossen an diese bedeutende antifaschistische Autorin. In einem Themenabend stellt Jens David Leben und Werk Gisela Elsners von ihren ersten Erfolgen über ihr „Verschwinden“ bis zu ihrer „Auferstehung“ vor.

Die Veranstaltung findet am Donnerstag, 18. Mai, um 20 Uhr im Buchladen DieZeitgenossen, Strohstraße 28 in Esslingen statt. Der Eintritt ist frei.

Antifa-Café: KZ Oberer Kuhberg in Ulm

KZ Oberer Kuhberg, Innenhof
Foto: Speifensender (Eigenes Werk)
Lizenz: [CC BY-SA 3.0 ]
via Wikimedia Commons
Am 07. 05.2017 findet ab 16:30 Uhr das nächste Antifa-Café im KOMMA (Maille 5, 73728 Esslingen am Neckar) im kleinen Saal mit Zugang über den Hof statt.

Als Vorbereitung zu einer Besichtigung des ehemaligen KZ Oberer Kuhberg wollen wir uns dieses Mal mit der Geschichte dieses Ortes beschäftigen und sie in den größeren Zusammenhang stellen. Von November 1933 bis Juli 1935 befand sich im Fort Oberer Kuhberg am Ulmer Stadtrand ein Konzentrationslager des Landes Württemberg. Hier waren mehr als 600 politische und weltanschauliche Gegner des NS-Regimes inhaftiert. Unter den ca. 80 frühen Konzentrationslagern ist es das einzige in Süddeutschland, dessen Gebäude und Gelände weitgehend unverändert erhalten und zugänglich sind.

Wie immer gibt es Kaffee, Kaltgetränke und Kuchen zur Verpflegung.
Wir freuen uns auf euch.

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