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Auf Teufel komm raus. Bei den NSU-Ermittlungen wird vertuscht und gelogen, dass sich die Balken biegen

Selbstverständlich sind Zweifel erlaubt. Zweifel, die jede/r haben darf und kann, solange damit die offizielle Version nicht in Frage gestellt wird.

Wer hingegen von den zehntausend Zweifeln und fünftausend Zufällen genug hat, und anhand der vorliegenden Beweismittel die offizielle Version für die unwahrscheinliche hält, also einen anderen Geschehensablauf mit mehr Plausibilität nachstellen kann, der bekommt es mit dem medialen Escortservice der offiziellen Version zu tun. Sie diskutieren nicht, schon gar nicht in ihrer Zeitung, sondern schleudern den Bannstrahl auf die Abweichler. Früher nannte man sie Ketzer, Ungläubige, heute nennt man sie Verschwörungstheoretiker, kurz Spinner. Eine moderne Form des Scheiterhaufens: Das muss weg, das muss zum Schweigen gebracht werden. Seht her, was euch auch blühen kann ... haltet euch fern, haltet euch an unsere Offenbarungen. Amen. Schluss aus.

Das macht die SZ, die sich für ganz besonders investigativ und kritisch hält, nicht aufgrund fehlenden Wissens, sondern im Wissen um die Fakten.

Als kurz nach der Selbstbekanntmachung der neonazistischen Terrorgruppe NSU im Bundesamt für Verfassungsschutz zahlreiche V-Mann-Akten mit Bezug auf den NSU-Komplex vernichtet wurden, war der mediale Escortservice sofort zur Stelle und sprach von einem bedauerlichen Fehler, einem unglücklichen Versehen. Wer hingegen von einer Vertuschungstat sprach, von einer vorsätzlichen Sabotage der Aufklärung, der hatte nicht alle Tassen im Schrank.

Es war kein Spinner mit blutunterlaufenen Augen, sondern der Referatsleiter mit dem Decknamen Lothar Lingen, der am 24. Oktober 2014 von BKA-Beamte befragt wurde. Dort gab er Folgendes zu Protokoll:

„Die bloße Bezifferung der seinerzeit in Thüringen vom BfV geführten Quellen mit acht, neun oder zehn Fällen hätte zu der Frage geführt, aus welchem Grunde die Verfassungsschutzbehörden über die terroristischen Aktivitäten der Drei eigentlich nicht informiert worden sind. Die nackten Zahlen sprachen ja dafür, dass wir wussten, was da läuft, was aber nicht der Fall war. Und da habe ich mir gedacht, wenn der quantitative Aspekt also die Anzahl unser Quellen im Bereich des "Thüringer Heimatschutz" und Thüringen nicht bekannt wird, dass dann die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht." (spiegel.de vom 10.11.2016)

Als beim Mord an den Besitzer des Internet-Cafés Halit Yozgat in Kassel 2006 die Anwesenheit des hessischen Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme nicht mehr zu verheimlichen war, war man kurz schockiert und interessiert: Alleine die Tatsache, dass zur Tatzeit ein VS-Mitarbeiter und praktizierender Rassist in einem türkischen Internet-Cafe war, der einen Neonazi als V-Mann führte, mit diesem vor und nach der Mordtat telefonierte, würde man normalerweise für den feuchten Traum eines Spinners halten. Tatsächlich war es polizeiliche Ermittler, die ihn ausfindig gemacht hatten und als möglichen Tatverdächtigen wochenlang abhörten und observierten.
Doch sehr geschwind erlosch das Interesse der Medien daran, Hintergründe und Zusammenhänge aufzudecken. Denn sehr schnell wurde klar und belegbar, dass es sich nicht nur um einen merkwürdigen VS-Mitarbeiter handelte, der in seiner Jugend „Klein-Adolf“ gerufen wurde und bis heute seine rassistische Gesinnung in seinen Beruf einbringt. Die von der Polizei abgehörten Telefonate konnten einen geradezu lückenlosen Schutz durch all seine Vorgesetzten belegen.

Dass man das alles als Mißverständnis deuten kann, hat ein Mann recht früh zurückgewiesen und zurechtgerückt. Wieder war es kein Spinner, sondern der Leiter der -ºSOKO Café-¹, Gerhard Hoffmann, der im Juni 2012 als Zeuge vor dem NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss in Berlin geladen worden war. Aus dem Gedächtnis gibt Mely Kiyak folgenden Dialog zwischen Mitgliedern des Untersuchungsausschusses (UA) und dem SOKO-Chef Gerhard Hoffmann (GH) wieder:

"GH: Innenminister Bouffier hat damals entschieden: Die Quellen von Herrn T. können nicht vernommen werden. Als Minister war er für den Verfassungsschutz verantwortlich.

UA: Er war doch auch Ihr Minister! Ist Ihnen das nicht komisch vorgekommen? Jedes Mal, wenn gegen V-Männer ermittelt wurde, kam einer vom Landesamt für Verfassungsschutz vorbei, stoppt die Ermittlung mit der Begründung, der Schutz des Landes Hessen ist in Gefahr. Aus den Akten geht eine Bemerkung hervor, die meint, dass man erst eine Leiche neben einem Verfassungsschützer finden müsse, damit man Auskunft bekommt. Richtig?

GH: Selbst dann nicht...

UA: Bitte?

GH: Es heißt, selbst wenn man eine Leiche neben einem Verfassungsschützer findet, bekommt man keine Auskunft." (FR vom 30.6.2012)"

Man hätte ein Sturm der Empörung vermuten dürfen, als Reaktion auf diese unmißverständliche Aussage, dass der Geheimdienst die Aufklärung in diesem Fall sabotieren wird. In Wirklichkeit trat genau das Gegenteil ein. Allen voran die Süddeutsche Zeitung warf sich mit Leib und Seele vor den VS-Mitarbeiter Temme. In einer langen Homestory für -šPanorama-™ ließen sie Andreas Temme und seine Frau zu Wort kommen -“ ohne eine Widerrede, ohne einen Widerspruch. Das Fazit war ganz schlicht und haltlos: Andreas Temme war „zur falschen Zeit am falschen Ort“. (-ºPleiten, Pech und Pannen-¹, Panorama-Beitrag vom 5.7.2012)

Das dieser journalistische Freispruch nichts mit den Fakten zu tun hat, dass wenig Fakten eine Täterschaft der beiden NSU-Mitglieder belegen können, eine Vielzahl von Fakten jedoch Andreas Temme als Tatwissender bzw. Tatbeteiligten belasten, war wohl der Grund, warum sich der SZ-Redakteur Hans Leyendecker bereits im April 2013 auf geradezu panische Weise schwindlig redete:

„Das is ausermittelt. Das ist nun wirklich damals ausermittelt, das ist jetzt noch mal ausermittelt. Der saß da, das is auch ne Figur wie eigentlich aus 'nem Roman, hat früher Mein Kampf intensiv gelesen. Es passte scheinbar alles. Aber es ist ausermittelt, er hat mit dieser Tat, wenn Sie gucken, die Mörder kamen aus Dortmund, es wäre möglich gewesen, dass sie in Münster gemordet hätten, dass sie woanders, er hat mit dieser Tat nicht zu tun gehabt. (...) Was ausermittelt ist und das ist ausermittelt. Und dann kann ich nicht mit 'ner Verschwörungstheorie noch mal um die Ecke kommen." (ARD-Sendung Bericht aus Berlin vom 14.4.2013)

Nun nimmt die Redakteurin Annette Ramelsberger von der Süddeutsche Zeitung die Dokumentation „Tod einer Polizistin. Das kurze Leben der Michele Kiesewetter“ von Katja und Clemenz Riha, im ARD am 24. April 2017 ausgestrahlt, zum Anlaß, nochmals den zeitungseigenen „Dschungel der Verschwörung“ zu bewässern. Ein selbst angelegter Dschungel, den sie mit viel Engagement und noch mehr Fabelwesen ausschmücken. Es geht um den Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007, bei dem Michele Kiesewetter getötet und ihr Kollege Martin Arnold schwer verletzt worden waren.

Dass genau das, was sie mit „Verschwörungstheorie“ zu brandmarken versucht - einen Fakten leugnenden und fakten-freien Raum mit freischwebenden Kontexten - ihr eigenes Kopf- und Handwerk ist, belegt dieser Verriß: „NSU-Opfer Kiesewetter. Wenn das Böse zu banal ist“ vom 24. April 2017.

Dabei greift die Redakteurin zuerst auf den Dreiteiler „Mitten in Deutschland: NSU“ zurück, der aus verschiedenen Perspektiven den NSU-Komplex nachstellt, in einer Spielfilmversion.

Im letzten Teil „Die Ermittler -“ Nur für den Dienstgebrauch“ geht es um die Rolle der V-Leute, beim Zustandekommen des NSU, bei der Verhinderung möglicher Festnahmen, bei der Sabotage der Aufklärung:

„Da tauchte im Film plötzlich ein V-Mann auf, der genau wusste, wie der Staat in der Mordserie mit drinhing, und dann, als er endlich auspacken wollte, mit seinem Auto explodierte. Diese Szene war der Schluss der Trilogie und sie suggerierte, dass die NSU-Täter Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und die nun vor Gericht stehende Beate Zschäpe nur Marionetten eines dunklen Netzwerks waren.“

Schön, das man der Redakteurin Annette Ramelsberger beim Eigenbau eines Verschwörungsgespenstes zuschauen kann: Diese Szene sollte zeigen, dass nachweislich Dutzende von Neonazis als V-Leute im Nahbereich des NSU-Netzwerkes aktiv waren. Sie soll andeuten, dass zahlreiche V-Leute den neonazistischen Untergrund mit angelegt haben, dass sie mit ihnen in Kontakt standen, dass sie den NSU im Untergrund unterstützt haben. Und dass Menschen in Lebensgefahr geraten, wenn sie der offiziellen Version (Terrortrio, keine staatliche Verwicklungen) widersprechen. Keine cineastische, künstlerische Übertreibung, sondern bittere Realität.

Genau diese Nahtstelle wollte der Spielfilm ganz vorsichtig sichtbar machen. Dass er nicht konkreter, deutlicher wurde, liegt nicht an fehlenden Fakten, sondern an der Vorsicht der Filmemacher.

Dass das „dunkle Netzwerk“, das die NSU-Mitgliedern zu „Marionetten“ macht eine Suggestion der SZ-Redakteurin ist, die sie dann den Filmemachern unterschiebt, ist mehr als durchsichtig. Sie trivialisiert eine Filmszene, um genau das aus dem Blick zu schaffen, was diese Spielfilmszene an Geschehnissen verarbeitet wollte: Das Faktum, dass an keinem NSU-Tatort so viele potenzielle Zeuginnen und Zeugen, so jung und unter so ungewöhnlichen Umständen starben:

25. Januar 2009

Arthur Christ, 18 Jahre, wurde am 25. Januar 2009 auf einem Waldparkplatz nördlich von Heilbronn gefunden -“ verbrannt aufgefunden:

„Der 18-Jährige hatte am 25. Januar 2009, kurz nach 1 Uhr, einen Freund abgesetzt und wollte ein Feuerwehrfest in Eberstadt besuchen. Gegen zwei Uhr entdeckten Autofahrer den brennenden Wagen auf einem Waldparkplatz. C. verbrannte. Im Wrack fanden Ermittler Spuren eines Benzin-Diesel-Gemisches. Ungeklärt ist, ob es Suizid oder Mord war. Arthur C. hatte wie Florian H. keinen Abschiedsbrief hinterlassen.“ (Südwest Presse/Haller Tagblatt vom 12.2.2015)

Was als rätselhaftes persönliches Drama geschildert wurde, hat einen politischen Hintergrund: „Der Name Arthur Christ taucht in den Ermittlungsakten der Sonderkommission Parkplatz zum Heilbronner Polizistenmord auf. Er soll eine Ähnlichkeit mit einem der Phantombilder haben. Und er befindet sich u.a. auf einer Liste von etwa 20 Personen in den Ermittlungsakten. Was es mit diesen Personen auf sich hat, ist unklar.“ (Thomas Moser, Nächster Todesfall im NSU-Komplex, telepolis vom 15.2.2016)

16. September 2013

Traueranzeige der Familie Heilig
Florian Heilig, 21 Jahre, starb am 16. September 2013 -“ auf dem Weg, seine im Jahr 2011 gemachten Aussagen zum NSU, zur NeoSchutzStaffel/NSS und zum Mordanschlag in Heilbronn 2007 zu wiederholen bzw. präzisieren. Angeblich soll er sich am Morgen des 16. September in seinem Auto aus „Liebeskummer“ selbst verbrannt haben. Das behauptete Motiv stellte sich als frei erfunden heraus. Die Selbstmordabsichten wurden bestritten, sowohl von Seiten seiner Freundinnen und Freunde, als auch von seiner Schwester und seinen Eltern. Nachdem er sich zum Ausstieg aus der Neonaziszene entschieden hatte und sich im Aussteigerprogramm des LKA Stuttgart befand, wurde er von seinen ehemaligen „Kameraden“ bedroht, erpreßt und durch einen Messerstich verletzt. All das wußte das LKA.

7. April 2014

Thomas Richter, 38 Jahre, besser bekannt unter seinem Decknamen -ºCorelli-¹ sollte im April 2014 als Zeuge im NSU-Prozess in München gehört werden. Dazu kam es nicht. Laut Polizeiangaben wurde er am 7. April tot in seiner Wohnung nahe Bielefeld gefunden. -ºCorelli-¹ starb an einer äußerst seltenen Krankheit -“ wenn man dem Obduktionsbericht noch Glauben schenken will: "an einer nicht erkannten Zuckererkrankung".

Auf jeden Fall starb er rechtzeitig, denn er hätte mit seinem Wissen die komplette Anklageschrift für den Prozess in München zerlegen können:

Thomas Richter war einflussreicher Neonaziaktivist aus Sachsen-Anhalt. Unter dem Decknamen -ºCorelli-¹ lieferte er -“nach offiziellen Angaben -“ von 1997 bis 2007 dem Bundesamt für Verfassungsschutz Informationen, unter anderem aus einem deutschen Ableger des rassistischen Ku-Klux-Klans. "Thomas R. engagierte sich (...) bei dem rechten Fanzine -ºDer Weiße Wolf-¹ in dessen Ausgabe Nummer 18 im Jahr 2002 ein interessantes Vorwort erschienen ist. Fett gedruckt, ohne nähere Erläuterung, heißt es da: -ºVielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen. Der Kampf geht weiter ...-¹. (spiegel-online vom 18.9.2012)

Dass ein V-Mann als Verbindungsglied zwischen der neonazistischen Kameradschaft THS, dem KKK-Ableger in Baden-Württemberg und dem NSU im Untergrund agierte, hätte die bis heute aufrechterhalte Legende zerstören können, staatliche Behörden hätten dreizehn Jahre nichts gewusst.

28. März 2015

Am 28. März 2015 wurde Melisa Marijanovic, "eine 20-jährige Zeugin im Prozess um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) tot in ihrer Wohnung aufgefunden." Laut Polizeiangaben wurde sie von ihrem Verlobten, Sascha Winter, mit Krampfanfällen in der Wohnung gefunden. Die herbeigerufenen Ärzte konnten ihr Leben nicht retten. Einem Obduktionsbericht zufolge sei sie an einer Lungenembolie gestorben.

Zwei Wochen zuvor, am 13. März 2015, wurde sie als Zeugin im PUA in Baden-Württemberg gehört. Sie war kurze Zeit mit Florian Heilig liiert. Fest steht, dass sie der Selbstmordthese widersprochen und dass sie sich selbst bedroht gefühlt hatte.

8. Februar 2016

Sascha Winter, 31 Jahre, Verlobte der verstorbenen Zeugin Melisa Marijanovic wird laut Polizeiangaben mittags tot in seiner Wohnung gefunden. Nach Auskunft von Behördensprecher Tobias Wagner habe man "bislang keine Anhaltspunkte für Fremdverschulden" gefunden. Man gehe von einem Suizid aus. Man habe einen „Abschiedsbrief“ von ihm gefunden, den er elektronisch verfasst und verschickt haben soll. Bis heute weigert sich die Staatsanwaltschaft Auskunft darüber zu geben, wer Sascha Winter gefunden hat, woran er gestorben ist, wer den „Abschiedsbrief“ bekommen haben, was in diesem elektronisch verfassten Abschiedsbrief stehen soll.

Dass der Tod eines aussagewilligen Ex-Neonazis, der Tod einer Freundin, die ihre Angst klar formulierte, der Tod eines V-Mannes kurz bevor er als Zeuge geladen werden sollte, mehr Nachfragen verlangt, als von „Unfällen“ zu reden, wäre bei einer „mysteriösen“ Todesserie unter Konzernmanagern eine Selbstverständlichkeit -“ und kein Raunen im selbstgebauten Dschungelcamp.

Dass die Dokumentation keine weiteren Zeugen fand, die etwas zum Mordgeschehen in Heilbronn sagen wollten, liegt auf der Hand. Bei mir hatte sich nach dem Tod von Sascha Winter eine recht enge Freundin von ihm gemeldet. Sie hatte keinen „elektronischen Abschiedbrief“ erhalten und widersprach entschieden irgendwelchen Selbstmordgedanken. Sie hatte noch mit ihm neue Motocrossrouten ausfindig gemacht, da dies sein großes Hobby war. Nach mehreren E-Mail-Wechsel löschte sie ihre Spur und war nicht mehr erreichbar.

Was der Film also zusammentrug, war denen, die sich damit beschäftigen, weitgehend bekannt. Dazu zählt die Tatsache, dass es noch nie so viele ZeugInnen und Zeugen an einem NSU-Tatort gab wie im Fall Heilbronn. Mit deren Hilfe wurden 14 Phantombilder möglicher Täter angefertigt. Mit diesen wurde -“ auf Anweisung der Staatsanwaltschaft - nicht gefahndet. Dazu gehört die Tatsache, dass es keinen einzigen Zeugen gibt, der die beiden NSU-Mitglieder am Tatort oder in Tatortnähe beschrieben hatte.

Das Trafohäuschen an der Theresienwiese
Foto: Wolf Wetzel
Von der Einfahrt zur Theresienwiese konnte man den Streifenwagen, an der Seite des Trafohäuschens geparkt, nicht sehen. Dafür war man mit Dutzenden von Ausstellern konfrontiert, die dort das Volksfest vorbereiteten.

Auch die polizeilichen Ermittlungsergebnisse können nicht mehr aus der Welt gestikuliert werden. Es gibt keine Spuren (DNA, Fingerabdrücke etc.), die eine Täterschaft der beiden NSU-Mitglieder nahelegen könnte, dafür jedoch unzählige Spuren, die man bis heute nicht zuordnen kann. Und nicht minder relevant ist das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen, die von „vier bis sechs“ Tätern bzw. Tatbeteiligten ausgehen.

Dieses und einiges mehr steht massiv der später vorgenommenen Täterzuweisung entgegen. Denn selbst das Motiv, das den beiden NSU-Mitgliedern unterstellt wurde, hat die Kraft einer ausgerupften Feder: Der bis an die Zähne bewaffnete NSU wollte an die Dienstwaffen der beiden Polizisten gelangen, was der ehemalige Polizist und jetzige Vorsitzende des parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Berlin, Clemens Binninger (CDU) sinngemäß so kommentierte:

Warum sollen Neonazis 450 Kilometer weit fahren, um an Waffen von Polizisten zu gelangen?

Die offizielle Tathypothese kommt einem Sieb gleich, in dem das Wasser steht

Zeugenbefragung im parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg. Jürgen Filius (Grüne): "Was haben Sie gefunden, was darauf deutet, dass Mundlos und Böhnhardt in Heilbronn waren?" Chef-Ermittler Alex Mögelin antwortete knapp: "Bei den objektiven Spuren: nichts." (Südwest Presse vom 29.5.2015)

All das tut die SZ-Redakteurin als „Raunen“ ab und finalisiert sich selbst: „Auf Teufel komm raus wird versucht, das Bild einer Verschwörung zu zeichnen.“

Die einzige, die unentwegt eine Verschwörung herbeiraunt, ist die Redakteurin selbst. Eine Redakteurin, die genau das beherrscht, was sie für „krude“ hält.

Den Umstand, dass der NSU keine Waffen mehr brauchte, dass das Motiv an Schwachsinn nicht zu überbieten ist, kontert die SZ-Redakteurin mit der Einlassung von Beate Zschäpe, dass „ihre Freunde an jenem Tag über die Polizistin Kiesewetter und ihren Kollegen Martin A. hergefallen waren, weil sie eine gute Polizeipistole haben wollten.“

Das ist schon ganz besonders: Beate Zschäpes Einlassungen vor Gericht werden unisono für unglaubwürdig eingeschätzt. Ausgerechnet diese genießt ihr Vertrauen.
Wie schwach muss doch das ausgegebene Motiv sein.

Die Dokumentation geht also aus gutem Grund den Spuren nach, die einen anderen Geschehensablauf plausibel machen und fragt nach Motiven, die nicht ganz so hirnrissig sind wie die offizielle.

Dass dies für den Tatort Heilbronn wirklich schwer ist, ist unbestritten. Zu viele Spuren wurden kontaminiert, zu vielen Spuren wurde nicht nachgegangen, zu viele Varianten (wie die im Protokoll des US-Militär-Geheimdienstes DIA) sind nicht überprüfbar, zu viele Trugspuren (wie die Wattestäbchen) tragen zur Verwirrung bei.

Dass den vielen anderen Möglichkeiten nicht nachgegangen wird, dass genau dies von behördlicher Seite aus torpediert wird, um die unplausibelste Tatversion zu decken, ist der eigentliche Skandal. Dafür muss man keine Verschwörung bemühen oder gründen. Es reicht die Absicht, damit (Mit-)Täter zu decken, die heute noch leben ... und das sehr virulente Wissen, das der Kriminologe Thomas Feltes laut ausspricht und andere zum Schweigen bringt: "Wenn Heilbronn kippt, kippt das ganze NSU-Verfahren".

Über all das legt die SZ-Redakteurin ihr Raunen, um mit einer nicht wirklich versteckten Denunziation abzuschließen: „Es gibt noch offene Fragen im Fall NSU, man hätte sie gerne geklärt. Um so ärgerlicher ist es, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine krude Story vorgesetzt zu bekommen, die nicht zur Erkenntnis, sondern geradewegs hinein in den Dschungel der Verschwörungstheorien führt.“ (SZ vom 24.4.2017)

Dass ihre Zeitung, ihre Kollegen an einer Homestory für Andreas Temme beteiligt waren, die man ebenfalls im öffentlich-rechtlichen Fernsehen „vorgesetzt“ bekommen hat, verschweigt sie. Eine Homestory, die nichts weiter war als ein öffentlich-rechtlich finanzierter 45-minütiger Werbeblock.

Anmerkung des Autors:

Auf der Internet-Plattform „NachDenkSeiten“ habe ich meine Recherchen in bisher fünf Beiträgen zusammenfasst:

Weitere Informationen:

Wolf Wetzel: "Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf?", 3. Auflage, Unrast Verlag 2015

ARD-Dokumentation "Tod einer Polizistin" vom 24.04.2017

Erstveröffentlichung auf Rubikon, 28. April 2017

Theodor W. Adorno: Bekämpfung des Antisemitismus heute

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

"... wenn etwa von Antisemiten gesagt wird, die Juden entzögen sich der harten körperlichen Arbeit, so wäre es nicht der Weisheit letzter Schluß, zu erwidern, es habe doch im Osten so viele jüdische Schuster und Schneider gegeben, und es gebe heute in New York so viele jüdische Taxichauffeure.
Indem man so spricht, gibt man den Antiintellektualismus bereits vor und begibt sich auf die Ebene des Gegners, auf der man stets im Nachteil ist.
Man müsste stattdessen aussprechen, daß diese ganze Argumentation eine Rancune-Argumentation [Gehässigkeit, heimliche Feindschaft, Groll. Ressentiment... ] ist: weil man selber glaubt, hart arbeiten zu müssen oder es wirklich muß; und weil man im tiefsten weiß, daß harte physische Arbeit heute eigentlich bereits überflüssig ist, denunziert man dann die, von denen zu Recht oder Unrecht behauptet wird, sie hätten es leichter.
Eine wahre Entgegnung wäre, daß Handarbeit alten Stils heute überhaupt überflüssig, daß sie durch die Technik überholt ist und daß es etwas tief Verlogenes hat einer bestimmten Gruppe Vorwürfe zu machen, daß sie nicht hart genug physisch arbeitet.
Es ist Menschenrecht, sich nicht physisch abzuquälen, sondern sich lieber geistig zu entfalten."

Theodor W. Adorno: Bekämpfung des Antisemitismus heute, in Das Argument 29, Jg.6 1964

Trotz Klima der Angst - Blockaden und Großdemonstration setzt eindrucksvolles Zeichen gegen AfD-Rechtsruck und Einschüchterung der Polizei

Über 10.000 Teilnehmende ziehen als Großdemonstration von "Solidarität statt Hetze" durch die Kölner Innenstadt und feiern die erfolgreiche Verzögerung des Auftaktes des AfD-Bundesparteitages im Kölner Maritim Hotel. Am frühen Morgen haben bereits 3.000 Menschen den Zugang zum Tagungsort deutlich erschwert, mit Blockaden an neuralgischen Punkten. Es wurde ein eindrucksvolles Zeichen gegen den Rechtsruck in Deutschland und Europa gesetzt. Tom Wohlfarth von "Solidarität statt Hetze" sagt: „Wir haben gezeigt: Rechte Hetze und Menschenverachtung hat in unserer Gesellschaft keinen Platz. Dagegen haben wir, mit verschiedenen Protestsformen, ein deutliches Zeichen gesetzt.“ Kritik äußert die Kampagne Solidarität statt Hetze am Kölner Polizeipräsidenten. Reiner Schmidt von Köln gegen Rechts und Anmelder der Großdemonstration sagt: „Wir haben unser Wort gehalten: Von uns ging keine Eskalation aus. Jürgen Mathies blieb ungeachtet dessen leider auch bei seinem Wort und führte einen unverhältnismäßig harten Polizeieinsatz durch.“ Als in den Morgenstunden Demonstrierende aus dem gesamten Bundesgebiet in Köln ankamen, lernten sie das Demonstrationsrecht in der Lesart von Polizeipräsident Jürgen Mathies kennen. Vier vollbesetzte Busse erhielten noch vor dem Aussteigen am Kölner Stadtrand einen Platzverweis und mussten umkehren. Auch vielen Demonstrierenden aus Köln erging es ähnlich: Ihnen wurden der Zugang zu den angemeldeten Kundgebungen von der Polizei verwehrt. Trotz dieser Schikane gelangten 3000 Demonstrant*innen zu den Blockadepunkten. Jan Sperling, Pressesprecher von Solidarität statt Hetze berichtet: „Obwohl von den Blockadepunkten keine Eskalation ausging gab es immer wieder Schlagstockeinsätze der Polizei. Dies zeigt die unbedingte Eskalationswilligkeit, die der Polizeipräsident ja schon im Vorfeld ganz unverhohlen angekündigt hatte."

Quelle: Presseerklärung, Köln, 22.04.2017

DIDF: Wir unterstützen den Widerstand gegen die Ein-Mann-Diktatur weiter

Logo der DIDF
Der Bundesvorstand der DIDF (Föderation demokratischer Arbeitervereine e.V.), eine 1980 als Dachverband von Vereinen aus der Türkei gegründete Migrantenselbstorgansation mit mehr als mehr als 35 Mitgliedsvereinen und -gruppen hat gestern eine Erklärung zu den Ergebnissen des Referendums zu Einführung des Präsidialsystems in der Türkei veröffentlicht:

Nach nichtamtlichen Ergebnissen haben die Wähler in der Türkei beim gestrigen von Betrug und Manipulation überschatteten begleiteten Referendum äußerst knapp der Einführung des Präsidialsystems zugestimmt. Obwohl sich die Hälfte der Bevölkerung gegen dieses neue, undemokratische System ausgesprochen hat, feiern die von Erdogan und seiner AKP angeführten Befürworter der Verfassungsänderung einen vermeintlichen Sieg, mit dem sie den Weg zu einer Ein-Mann-Diktatur freigeräumt sehen.

Dabei konnten sie trotz der Verhaftungswelle gegen kurdische Politiker und die gesamte Opposition, der Mobilisierung sämtlicher staatlicher Möglichkeiten im Wahlkampf unter den ungleichen Bedingungen des Ausnahmezustands und trotz der Manipulationen beim Referendum ihr Ziel von 60 Prozent Zustimmung nicht erreichen. Insbesondere in großen Industriestädten sprachen sich die Wahlberechtigten mit großer Mehrheit gegen die Verfassungsänderung aus. Ohne die fragwürdige Entscheidung der Obersten Wahlkommission, trotz der anderslautenden Gesetzeslage nicht verifizierte Stimmzettel für gültig zu erklären, hätten Erdogan & Co. das vorliegende Ergebnis nicht erreicht.

Die Gegner der Verfassungsänderung wollen das Ergebnis anfechten und sehen sich ermutigt, den Kampf für Demokratie in der Türkei verstärkt fortzusetzen. Den gestrigen Tag sehen sie nicht als einen Tag der Niederlage, sondern als Anlass für einen stärkeren Kampf gegen die Einführung einer Präsidialdiktatur. Bereits am Abend des Referendums gingen Zehntausende landesweit auf die Straßen, um gegen den Wahlbetrug zu protestieren.

Auch die Wahlbeteiligung der stimmberechtigten Türkei-Stämmigen in Deutschland blieb mit unter 50 Prozent hinter den Erwartungen von Erdogan und AKP zurück. Alle Versuche, die Polarisierung des türkischen Wahlkampfes nach Deutschland zu tragen, die hinaufbeschworenen diplomatischen Krisen mit Deutschland und anderen EU-Ländern nutzten nur wenig. Die Zustimmung zur Verfassungsänderung in Deutschland liegt zwar bei 63 Prozent. Allerdings relativiert sich dieses Ergebnis angesichts der Tatsache, dass knapp eine Million der 1,4 Mio. Wahlberechtigten in Deutschland dem Präsidialsystem nicht zugestimmt haben.

Trotzdem sollte niemand über die tiefen gesellschaftlichen Gräben hinwegsehen, die im Wahlkampf in der Türkei wie in Deutschland entstanden sind. Das Ergebnis sehen wir als einen Ansporn, um uns für die Stärkung des Zusammenlebens hier in Deutschland einzusetzen. Wir werden stärker denn je unsere Stimme für ein gleichberechtigtes Zusammenleben und gegen alle Spaltungsversuche hierzulande erheben. Wenn die demokratische Öffentlichkeit, Gewerkschaften, antirassistische Kräfte in Deutschland für eine Stärkung des gleichberechtigten Zusammenlebens eintreten, kann die Hetze und Einfluss Erdogans zurückgedrängt werden.

Ebenso brauchen die demokratischen Kräfte in der Türkei mehr denn unsere Unterstützung und Solidarität. Lassen wir sie bei ihrem Kampf gegen die Ein-Mann-Diktatur nicht allein. Setzen wir uns gemeinsam dafür ein, dass Erdogan und seine AKP keine politische und wirtschaftliche Unterstützung mehr von der Bundesregierung erhalten. Denn eine demokratische Türkei ist in unser aller Interesse! Deshalb sagen wir: Internationale Solidarität tut Not -“ jetzt erst recht!

DIDF Bundesvorstand

Internationale Liga für Menschenrechte befürchtet autokratisches Herrschafts­system in der Türkei mit katastrophalen Folgen für die Menschenrechte

Verfassungsreferendum für Präsidialsystem während Ausnahmezustand in der Türkei

Internationale Liga für Menschenrechte befürchtet autokratisches Herrschafts­system in der Türkei mit katastrophalen Folgen für die Menschenrechte

Liga sieht Europarat, EU und Bundesregierung in der Pflicht und fordert u.a. Einstellung aller Waffenlieferungen,
Beendigung jeder militärischen und geheimdienstlichen Zusammenarbeit und Aufkündigung des Flüchtlingsdeals.

Liga unterstützt zudem die Forderung von Oppositionsparteien nach Anfechtung des Referendums.

Am 16. April 2017 ist in einem Verfassungsreferendum in der Türkei über ein Präsidialsy­stem abgestimmt worden, das die geltende parlamentarische Republikform ablöst. Eine Mehrheit von 51,4 Prozent hat nach Angaben der Wahlkommission für das Präsidialsystem votiert -“ gegen alle Kritik von Bürger- und Menschenrechtsgruppen in der Türkei und aus dem Ausland. Die damit beschlossenen Änderungen der Verfassung führen zu einer Staatsform, die nicht mehr den Anforderungen an ein demokratisch verfasstes Staatswesen entspricht. Die Internationale Liga für Menschenrechte verurteilt zum einen die menschenrechtswidrigen Umstände, unter denen die Volksabstimmung stattgefunden hat, zum anderen die nun beschlossene Demontage der Demokratie durch ein autokratisches Herrschaftssystem und durch eine weitgehende Aufhebung der Gewaltenteilung.

Das Verfassungsreferendum fand während eines fast zehn monatigen Ausnahmezustands statt, der nach dem Putsch-Versuch eines Teils des Militärs verhängt worden ist -“ also unter repressiven Bedingungen, die demokratischen und menschenrechtlichen Prinzipien widersprechen: Die freie Berichterstattung ist eingeschränkt, kritische Medien werden unter Staatsaufsicht gestellt oder geschlossen, Journalisten bedroht, verfolgt und inhaftiert. Auch Richter und Staatsanwälte, Lehrer, Wissenschaftler und Oppositionelle sind von willkürlichen Entlassungen und Massenverhaftungen betroffen und werden massiv eingeschüchtert. Anwalts- und Verteidigungsrechte wurden seit Juli 2016 eingeschränkt, im November 2016 gleich drei Anwaltskammern verboten. Zunächst „pseudolegalisiert“ durch Notstandsdekrete und künftig legalisiert durch die Verfassungsänderung wird die Instrumentalisierung der Justiz für rein machtpolitische Interessen der türkischen Regierung ermöglicht. Inhaftierte sind unmenschlichen Haftbedingungen unterworfen, nicht selten auch Isolationshaft und Folter. Deshalb beklagten Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen und die oppositionelle HDP wie auch die Verfassungsexperten des Europarates der „Venedig-Kommis­sion“ schon vor Wochen "tief gehende Einschränkungen" politischer Freiheiten und forderten, das Referendum erst nach Ende des Ausnahmezustands durchzuführen und die drastischen Einschränkungen der politischen Freiheiten endlich aufzuheben. Denn unter solchen Bedingungen kann keineswegs von einer freien Abstimmung gesprochen werden.

Durch die jetzt beschlossene Verfassungsänderung werden fast alle demokratischen Kontrollmöglichkeiten eingeschränkt oder abgeschafft, die es Parlament und Justiz bislang erlauben, Entscheidungen des Präsidenten zu überprüfen oder zu stoppen. Dies entspricht nicht dem Modell eines demokratischen Regierungssystems, das auf rechtsstaatlicher Gewaltenteilung basiert -“ vielmehr birgt diese Verfassungsänderung die große Gefahr, „in Richtung eines autoritären und eines Ein-Mann-Regimes abzugleiten" (so die Venedig-Kommission) und den Ausnahmezustand zum Normalfall zu machen.

Der künftige Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef und kann nach eigenem Ermessen den Notstand bzw. Ausnahmezustand über das Land verhängen und das Parlament auflösen (mit anschließenden Neuwahlen). Er darf künftig einer Partei angehören und auch deren Vorsitzender sein, ist für die Ernennung und Absetzung seines Vizepräsidenten und der Minister zuständig und er kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Damit hat er neben dem stärkeren Einfluss auf die Auswahl der Richter vor allem die Kontrolle über das Parlament, also die gesetzgebende Gewalt, deren Aufgabe es gerade sein sollte, die Regierung zu kontrollieren. Der Präsident bekommt über die Ernennung der Mitglieder des „Rats der Richter und Staatsanwälte“ deutlich mehr exekutiven Einfluss auf die Judikative, denn dieses Gremium ist unter anderem für die Ernennung, Beförderung und Entlassung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Es fehlen nach Auffassung der Verfassungsexperten der Venedig-Kommission also wichtige demokratische Kontrollmechanismen, „die ein autoritäres System verhindern" können.

Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert den Europarat auf, die weitere staatliche Entwicklung der Türkei kritisch zu beobachten und jährlich einen Bericht über die Einhaltung der Prinzipien und Bestimmungen zum Schutz der Menschenrechte gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention sowie der Demokratie und des Rechtsstaats in der Türkei zu erstellen und zu veröffentlichen.

Angesichts der dramatischen Menschenrechtslage, der personellen Säuberungen im Justizapparat und mangels effektiven Rechtsschutzes in der Türkei unterstützt die Internationale Liga für Menschenrechte die Rechtsauffassung und Bemühungen, türkischen Staatsbürgern, die von Menschenrechtsverletzungen betroffenen sind, den direkten Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu eröffnen -“ ohne zuvor alle Instanzen der türkischen Justiz absolvieren zu müssen.

Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert die Europäische Union auf, alle für die Vorbereitung zum Beitritt der Türkei zur Europäischen Union laufenden und geplanten Finanzhilfen von der Wiederherstellung aller demokratischen Rechte abhängig zu machen, da sie in der jetzigen Situation überwiegend zur Umsetzung und Stabilisierung einer autokratischen Herrschaft beitragen würden.

Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert darüber hinaus die sofortige Einstellung aller Rüstungs- und Waffenlieferungen an die Türkei, die Aufkündigung des menschenverachtenden Flüchtlingsdeals mit der Türkei, an dessen Stelle unter Mithilfe des UNHCR wirksam kontrollierte Direkthilfen für Geflüchtete in der Türkei treten sollte.

Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert ein Ende der Ausforschung, Bedrohung und Kriminalisierung kurdischer und türkischer Oppositioneller in der Bundesrepublik und jeder Form geheimdienstlicher sowie militärischer Zusammenarbeit -“ und last not least eine Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen mit der PKK-Führung.

Quelle: Pressemitteilung 17. April 2017

Heute vor 70 Jahren: Einer von wenigen

Der ehemalige Kommandant des Konzentrationslages Auschwitz, Rudolf Höß, kurz vor seiner Hinrichtung, ebendort.
Heute vor 70 Jahren wurde der ehemalige Kommandant des Konzentrationslages Auschwitz, Rudolf Höß, ebendort hingerichtet.

"Die Inkompatibilität jedes allgemein moralischen Urteils mit der psychologischen Determination, die doch von dem Urteil, dies sei das Böse, nicht dispensiert, entspringt nicht in mangelnder Folgerichtigkeit des Denkens, sondern im objektiven Antagonismus. Fritz Bauer hat bemerkt, daß dieselben Typen, die mit hundert faulen Argumenten den Freispruch der Schinder von Auschwitz verlangen, Freunde der Wiedereinführung der Todesstrafe seien. Darin konzentriert sich der jüngste Stand der moralischen Dialektik: der Freispruch wäre das nackte Unrecht, die gerechte Sühne würde von dem Prinzip zuschlagender Gewalt sich anstecken lassen, dem zu widerstehen allein Humanität ist. Benjamins Satz, der Vollzug der Todesstrafe könne moralisch sein, niemals ihre Legitimierung, prophezeit diese Dialektik. Hätte man die Chargierten der Folter samt ihren Auftraggebern und deren hochmögenden Gönnern sogleich erschossen, so wäre es moralischer gewesen, als einigen von ihnen den Prozeß zu machen. Daß ihnen zu fliehen, zwanzig Jahre sich zu verstecken gelang, verändert qualitativ die damals versäumte Gerechtigkeit. Sobald gegen sie eine Justizmaschine mit Strafprozeßordnung, Talar und verständnisvollen Verteidigern mobilisiert werden muß, ist die Gerechtigkeit, ohnehin keiner Sanktion fähig, die der begangenen Untat gerecht würde, schon falsch, kompromittiert vom gleichen Prinzip, nach dem die Mörder einmal handelten. Die Faschisten sind klug genug, solchen objektiven Wahnsinn mit ihrer teuflisch irren Vernunft auszuschlachten."

Theodor W.Adorno - Negative Dialektik

Fritz Bauer: Heilige Irrtümer

Fritz Bauer als Heidelberger Student 1921
Quelle: WikiMedia
"Wir Emigranten hatten so unsere heiligen Irrtümer. Daß Deutschland in Trümmern liegt, hat auch sein Gutes, dachten wir. Da kommt der Schutt weg, dann bauen wir Städte der Zukunft. Hell, weit und menschenfreundlich. [...] Dann kamen die anderen, die sagten: „Aber die Kanalisationsanlagen unter den Trümmern sind doch noch heil!“ Na, und so wurden die deutschen Städte wieder aufgebaut, wie die Kanalisation es verlangte. [...] Was glauben Sie, kann aus diesem Land werden? Meinen Sie, es ist noch zu retten? [...] Nehmen Sie die ersten Bonner Jahre! Keine Wehrmacht! Keine Politik der Stärke! Nun betrachten Sie mal die jetzige Politik und die Notstandsgesetze dazu! Legen Sie meinethalben ein Lineal an. Wohin zeigt es? Nach rechts! Was kann da in der Verlängerung herauskommen?"

Fritz Bauer, 1903-1968

Quelle: Gerhard Zwerenz: Gespräche mit Fritz Bauer, 1967

Revolutionärer 1. Mai in Stuttgart: Let’s make capitalism history - Für die klassenlose Gesellschaft!

Plakat & Flyer gibt es zum Download auf der Bündniswebsite oder im Linken Zentrum Lilo Herrmann sowie im Stadteilzentrum Gasparitsch in gedruckter Form
Am 1.Mai auf die Straße, gegen Rechtsruck, Krieg, und Sozialabbau. Für ein Ende des Kapitalismus. Für eine solidarische Gesellschaftsordnung!

Wo man zur Zeit auch hinschaut -“ der gesellschaftliche Rechtsruck ist allgegenwärtig: Der stramm rechte Multimillionär Trump wurde zum Präsidenten der USA gewählt, in der Türkei baut der größenwahnsinnige Erdogan das ehemals laizistische Land in eine islamisch geprägte Diktatur um -“ mit der ausdrücklichen Rückendeckung der deutschen Kanzlerin. In vielen Staaten der EU sind extrem rechte Parteien an der Macht (z.B. in Polen und Ungarn) oder malen sich gute Chancen aus, demnächst ihren Einfluss deutlich auszubauen (z.B. in den Niederlanden und Frankreich). Auch in der BRD scheint die AfD mittlerweile fest in den bürgerlichen Politbetrieb etabliert zu sein. Bei den vorangegangenen Landtagswahlen waren sie durchweg mit zweistelligen Ergebnissen vertreten, auch bei der in diesem Jahr anstehenden Bundestagswahl sind derartige Ergebnisse zu erwarten. Im Windschatten der sich bieder gebenden Hetzer brennen wieder vielerorts Unterkünfte für Geflüchtete, und offene Gewalt gegen alle, die nicht in das Weltbild der Rechten passen, wird mehr und mehr zur Normalität. Sogenannte besorgte Bürger, rassistischer Mob und organisierte Faschisten marschieren Hand in Hand.

Neben rassistischer Hetze, Angriffen und Anschlägen sind Geflüchtete einer ständig verschärften rassistischen Sondergesetzgebung ausgesetzt. Vermehrt wird durch den deutschen Staat in angeblich „sichere Herkunftsländer“, wie das nach über 15 Jahren NATO-Besatzung völlig zerrüttete Afghanistan, abgeschoben. Der selbe deutsche Staat -“ eng verflochten mit dem Kapital -“ trägt jedoch zugleich eine erhebliche Mitschuld daran, dass Menschen erst gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen und sich auf den -“ nicht selten tödlich endenden -“ Weg nach Europa machen. Es gibt kaum einen militärischen Konflikt, an dem das deutsche Militär nicht direkt oder indirekt mitbeteiligt ist, und auch die deutsche Wirtschaft verdient an Zerstörung und Armut in vielen Krisenländern kräftig mit.
Auch in der BRD drehen die Unternehmen und Konzerne an den Daumenschrauben. Der Klassenkampf von oben wurde in den letzten Jahren massiv intensiviert. Ob die ständige Ausweitung von prekären Arbeitsverhältnissen und Billiglohnsektor, die Verschärfung der Hartz-IV-Gesetze, oder die offensive Bekämpfung von aktiven GewerkschafterInnen -“ um nur wenige Beispiele zu nennen -“ immer unverhohlener setzt das Kapital darauf, Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung abzuschaffen und die ArbeiterInnenklasse in der Defensive zu halten. Durch eine immer rigidere Sicherheitsgesetzgebung werden die Freiheiten aller hier lebenden Menschen eingeschränkt. Wir leben in ungemütlichen Zeiten, die herrschende Klasse ist am Drücker, der gesellschaftliche Rollback ist in vollem Gange.
Für uns ist das aber kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Das Erstarken der rechten Akteure hat auf der anderen Seite viele Menschen dazu gebracht sich zur Wehr zu setzen. Gemeinsam mit ihnen gehen wir auf die Straße gegen alte und neue Nazis, für die Rechte der Geflüchteten, gegen imperialistische Kriege und für eine selbstbewusste und kämpferische ArbeiterInnenbewegung. Wir halten die Fahne hoch für Klassenkampf und eine revolutionäre Perspektive. Wir gehen neue Wege und entwickeln neue Konzepte. Breite gesellschaftliche Bewegungen -“ sei es in Arbeitskämpfen oder politischen Auseinandersetzungen, beispielsweise gegen die neoliberalen Freihandelsabkommen -“ sind hierbei Orte, an denen Menschen zusammenkommen. Sie können ein Ausgangspunkt für politische Organisierung und antikapitalistische Gegenmacht sein.

Mit unseren Versuchen die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern müssen wir nicht bei null anfangen. Gerade im Jahr 2017, in dem sich die Oktoberrevolution zum 100. Mal, der Tod von Che Guevara zum 50. Mal jährt, und mit dem Mord an Benno Ohnesorg ebenfalls vor 50 Jahren die StudentInnen-Bewegung begann, die dann im neuen Aufbruch der 68er Revolte mündete, lohnt es sich im Vorwärtsgehen einen Blick zurück in die eigene Geschichte zu werfen. Immer wieder gab es Organisationen und Bewegungen, die die Zustände nicht als gottgegeben hinnehmen wollten, gab es gesellschaftliche Aufbrüche, Revolten und Revolutionen. Zweifelsohne wurden dabei auch immer wieder Fehleinschätzungen gemacht, kontraproduktive Entscheidungen getroffen und Fehler begangen. Ein differenzierter Blick in die Geschichte lehrt uns diese Fehler zu erkennen, zu vermeiden und auf unserem Weg zu umgehen.

Ebenso zweifelsfrei steht aber auch fest, dass wir unserer Geschichte auch viele positive Aspekte abgewinnen können -“ vorausgesetzt, wir werfen einen konstruktiven Blick in die Vergangenheit. Die klassischen Texte der politischen Theoretiker und Praktiker der ArbeiterInnenbewegung, Diskussionen um Strategie und Taktik, eine Vielzahl an erhaltenen kulturellen Beiträgen -“ um nur wenige Beispiele zu nennen. Die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung birgt einen reichen Schatz. Es gibt auch Traditionen -“ im besten Sinne -“ auf die wir uns bis heute beziehen -“ so auch am 1. Mai. Auch wenn die kämpferische Tradition des Tages über viele Jahrzehnte in den Hintergrund gerückt ist -“ der Revolutionäre 1. Mai ist unser Tag. Es ist der Tag, an dem wir uns nicht in die verschiedensten Abwehrkämpfe drängen lassen. Es ist der Tag, an dem wir unsere Perspektive von Solidarität und Klassenkampf, von Revolution und klassenloser Gesellschaft, ohne Ausbeutung und Unterdrückung, offensiv und kämpferisch auf die Straße tragen!

Heraus zum Revolutionären 1. Mai 2017!

10:00 - Antikapitalistischer Block auf der Gewerkschaftsdemo, Stuttgart Marienplatz
11:30 - Revolutionäre 1. Mai Demonstration, Stuttgart Schlossplatz
14:00 - Internationalistisches Mai-Fest, Linkes Zentrum Lilo Herrmann (Böblinger Straße 105, Stuttgart Heslach)

im Stadteilzentrum Gasparitsch in Stuttgart Ost findet parallel ein Fest statt

Quelle und mehr Informationen

Erich Mühsam zum 139. Geburtstag

Erich Mühsam (Fotografie aus dem Jahr 1928, kurz vor seinem 50. Geburtstag)

Am heutigen 6. April 1878 wurde in Berlin der anarchistische Schriftsteller, Publizist und Antimilitarist Erich Mühsam geboren. Er war einer der bedeutendsten politischen Journalisten und Schriftsteller in der Weimarer Republik. Seine Teilnahme an der Münchner Räterepublik brachte ihm fünfzehn Jahre Festungshaft. Er blieb trotz der Haft ungebrochen und setzte seine journalistische Arbeit fort. Sein Leben und der Mord am ihm am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg sind kaum noch bekannt.

Sein nachfolgendes Gedicht "Und wieder tritt das Leben mir" stammt aus: Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 32-33

Und wieder tritt das Leben mir

mit vorgestelltem Fuß entgegen,

und wieder reißt des Zufalls Gier

vom Munde mir mein Häppchen Segen.

Und wieder ist der Weg verbaut,

den meine Hände wühlend schufen.

Zum hohen Ziel, das ich geschaut,

weist mich kein Pfad, gehn keine Stufen.

Gott liebt den Menschen nicht, der frei

hinaufsteigt zu den Zukunftspforten.

Die Häscher seiner Polizei,

des Schicksals, lauern allerorten.

Heidelberg: Polizei verbietet Solidaritätsdemonstration mit kurdischen und türkischen Linken

Zum Verbot der Demo am 8 April erklärt die Antifaschistische Initiative Heidelberg (AIHD):

Die Polizei hat die Demonstration (ursprünglich am 8.4., 13 Uhr) gegen den Staatsterrorismus in der Türkei, die von verschiedenen politischen Gruppen getragen wurde, verbieten lassen.
Grund sei neben den aktuellen „schwierigen politischen Beziehungen zur Türkei“ vor allem die Gefahr, dass bei der Demonstration Straftaten begangen werden könnten. Gemeint ist hier das Zeigen kurdischer Symbole, die erst vor zwei Wochen vom Innenministerium verboten wurden, darunter die der gegen den IS in Syrien kämpfenden Verbände in Syrien (YPG / YPJ) und zahlreicher Frauen- und Jugendgruppen.
Selbst das Zeigen von Fotos des seit zwanzig Jahren inhaftierten ehemaligen PKK-Vorsitzenden Öcalan müsse in jedem Fall verhindert werden.
Schließlich sei die Polizei auch nicht in der Lage, die Demonstration vor den Übergriffen durch Erdogan-Anhänger zu schützen.
Das Ordnungsamt Mannheim hat sich den Ausführungen der Polizei vollumfänglich angeschlossen.

Wir lassen uns nicht kriminalisieren. Wir werden auch weiterhin unseren Widerstand gegen den autoritären Terrorstaat in der Türkei, für die Solidarität mit unseren türkischen und kurdischen GenossInnen und gegen die Kumpanei Berlins mit Ankara in vielfältiger Weise auf die Straße tragen.

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