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Mehr Flüchtlingsrechte? Wie dürfen wir das verstehen, Herr Scholz?

Aufruf zur Demo zur Anerkennung der Gruppe von Lampedusa in Hamburg
Unter den früheren Forderungen aus der Gemeinsam-Zeit von Rot und Grün fand sich auch eine nach maßvolleren Zugangsregeln für Flüchtlinge. Offenbar gemeinsam vorgetragen von Grünen und SPD. Sicher eine der volkstümlichsten Bedingungen für eine große Koalition. Wen beängstigt es nicht am hellen Nachmittag Menschen ertrinken zu sehen, ohne großes Aufsehen.

Überraschend dann nur, wie die herrschende SPD sich wirklich verhält. Z.B. in Hamburg, wo sie allein regiert. Da haben sich - mit mancherlei Tricks - Flüchtlinge aus Italien bis nach Hamburg durchgeschlagen. Leben jammervoll auf einem Kirchenboden, der ihnen von einem Pfarrer zur Verfügung gestellt wurde. Nun erhob sich -wegen allerlei Mißständen - der Ruf, wenigstens die Flüchtlinge auf Container umsteigen zu lassen. Bekanntlich ist es in Hamburg nicht wärmer als sonst im Land. Kaum zu glauben, wer dagegen wütenden Einspruch erhob? Niemand anders als Parteichef Scholz. Er drängt - ganz gesetzestreu - alle Einwanderer zur Rückkehr nach Italien. Denn: Jeder kann nur Asyl beantragen, wo er erstmals europäisches Festland betrat. Streng nach Gesetz.

Wobei freilich zu bemerken bleibt, dass dieses Gesetz vor genau zwanzig Jahren erst in dieser Weise abgeändert wurde. Vor allem auch von der SPD. Um mal von Scholz abzusehen, etwa auch in Pforzheim. Von unserem unvergessenen Becker.

Unbestreitbar also: Die SPD lügt, wenn sie nach Erweiterung der Flüchtlingsunterbringung lechzt. Sie ist genau so uninteressiert am Los der Gepeinigten wie eine Vielzahl der restlichen Mitbürger. Am Nachmittag ein wenig Herzblut vergießen: das schon. Aber ernste Maßnahmen ergreifen, um die Not um ein Geringes zu lindern: Um Gottes Willen! Lieber mit law and order regieren alle Tage - als auch nur einen Funken Hoffnung verbreiten.

Wird sich in der SPD-Versammlung, wenn alles vorbei ist und die SPD ihren Mitgliedern die eigene Schande genug vorgekaut hat, niemand erheben, um wenigstens auf dieses Eine hinzuweisen? (Es gibt doch immerhin auch noch die Anderen. Die Nicht-Scholze.)

Das Eine nämlich: Dass es nicht genügt, sein Taschentuch andächtig vollzuschneuzen und alles gut sein zu lassen. Es muss die Forderung erhoben werden: Kraftvoll zu handeln.



Weitere Informationen:

Erntedank 2013: Deutschland ist keine Insel! Oder doch?

Karte der seit 1993 auf der Flucht nach Europa zu Tode gekommenen Menschen.

Quelle: Migreurope

Mit freundlicher Genehmigung von Nicolas Lambert
"Oh Großer Gott, wir loben dich...". Überall reife Frucht und Gottes Segen, wo man hinschaut. Aufgetürmte Kürbis-Pyramiden - und Gaucks Inniglächeln drüber. Für jeden etwas! Na ja, nach Vermögen. Aber trotzdem - den Mitbürgern - Aug in Auge - trunken - versunken. Deutschland ist keine Insel. Oder doch?

Während wir alle uns so wohl fühlen unter Merkel und Gauck ergab es sich, dass mehrere Hundert Flüchtlinge ertrunken vor Lampedusa auftauchten. Bei genauem Hinsehen kam heraus, dass wirklich ganz Europa sich umgibt mit Sperrzäunen. Damit kein einziger der Kriegsflüchtlinge sich drüber schleichen kann. Bleibt eben nur der Weg über das Mittelmeer. Mit den bekannten Todesfolgen. Immer wieder. Immer neu. Und das erst jetzt, seit Gaddafi und andere sich nicht mehr aufbäumen zum Schutz von Europa. Damit wir die Elenden nicht mehr sehen müssen.

Beides ist Europa. Europa der Seligen. Europa der Verdammten. Gibt es einen Weg über Zäune und Meere hinweg, um diese Opfer zu vermeiden? Um Erntedank für alle feiern zu können?

kritisch-lesen.de Nr. 30: Umkämpfte Migration

Flüchtlingscamp in Stuttgart
August 2013Foto: facebook.com/RefugeeProtestStuttgart
Ob auf hoher See, durch die Errichtung von Knästen, die Modifizierung von Aufenthaltsgesetzen oder Racial Profiling im deutschen Grenzgebiet –“ in allen Fällen zeigt sich: Einwanderung unterliegt einem Kontrollregime mit einem immer weiter ausufernden Einzugsbereich. In der Mainstream-Migrationsforschung dominiert die Vorstellung von Migration als linearem Ortswechsel, an dessen Ende die „Wiedereinpflanzung“ in ein anderes staatliches Territorium steht. Über Folgen von Migration wird öffentlich meistens in Verbindung mit Themen wie Sozialhilfe, Kriminalität, Verfassungstreue, Sexismus und Bildung gesprochen –“ mit der für die Betroffenen dahinter stehenden Anweisung zur „Integration“. Aber warum wird der historische Normalzustand, die Existenz von Migrationsbewegungen, als derart kontrollbedürftig begriffen? Kritische Perspektiven skandalisieren nicht nur den Rassismus in Institutionen und Alltag, sondern zeigen auch auf, dass der Nationalstaat durch Migrationsbewegungen und Praktiken von Migrant_innen fortwährend herausgefordert wird. Denn die Ideologie des Nationalstaats besagt, dass sein Souverän durch ein sesshaftes Volk gebildet werden muss. Altbekanntes wird neu erinnert, wenn Grenzen, Ausbeutung und Rassismus unter der Perspektive des Widerstands betrachtet werden. Wir fragen deshalb in dieser Ausgabe, was es bedeutet, Migration nicht als an- und abstellbaren Wasserhahn zu begreifen, wie es staatstragende Perspektiven tun. Diese Kämpfe stehen auch im Fokus einer am 4. September erschienenen Erklärung des Netzwerks kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet), die wir unterstützen. Darin heißt es: „Wir antworten dem alten, neuen Rassismus mit einem kosmopolitischen, den nationalen Albtraum hinter sich lassenden Verständnis von Gesellschaft, das die freie Mobilität aller und das Recht auf politische und soziale Teilhabe voraussetzt –“ unabhängig von Papieren und Status. Solidarisieren wir uns mit den Kämpfen der Migration.“ Bei der Betrachtung aus der Perspektive der Kämpfe geht es uns auch um zwei weitere Fragen: In welcher Gestalt treten diese Kämpfe gegenwärtig wo auf? Wie transformieren die Kämpfe von Migrant_innen Kapitalismus, Rassismus und Migrationspolitiken?

Was es heißt, Rassismus in Konjunkturen zu erfassen oder Migrationsgeschichte als Geschichte von sozialen Kämpfen zu untersuchen, zeigt die Arbeit "Die windige Internationale" von Manuela Bojadzijev, die Katharina Schoenes in ihrer Rezension „Perspektiven der Befreiung“ würdigt. Der selbstorganiserte Streik von Migrant_innen bei der Firma Pierburg vor vierzig Jahren ist Gegenstand eines Buches, das Sebastian Friedrich in seiner Rezension „Noise bei Pierburg" als materialreiche Dokumentation eines denkwürdigen historischen Beispiels für erfolgreiche soziale Kämpfe seitens Migrant_innen in Deutschland empfiehlt. Wie es gegenwärtig um die Kämpfe der Migration und die Artikulation von Rechten bestellt ist, zeigt der Band „Wer MACHT Demo_kratie?“, den Heinz-Jürgen Voß gelesen hat. Daran anschließend rezensiert Biplab Basu die Interview- und Essaysammlung „InderKinder“, die Perspektiven auf die indisch-deutsche Migrationsgeschichte versammelt. „Migration und Regulierung“ lautet der Titel eines von Magnus Treiber rezensierten Buches Buches von Ceren Türkmen, die sich kritisch mit der Verhandlung und Vereinnahmung von migrantischen Praktiken unter den Schlagworten Identität und Kultur in der deutschen Kulturindustrie auseinandergesetzt hat.

Auf der Ebene europäischer Migrationspolitik wird stets die Drittstaatenregelung als einschneidende Veränderung benannt, die in Deutschland seit 1993 gilt. Zum anderen sorgen die findigen Praktiken von Migrant_innen auf dem Weg nach Europa für die Entstehung sich stetig verändernder Migrationsrouten, die auch durch Organisationen wie Frontex oder die Internationale Organization of Migration (IOM) beobachtet und analysiert werden. Das von Marika Pierdicca rezensierte Buch „Bilal“ zeigt exemplarisch auf, wie das Bewältigen einer Transitroute wie der vom Senegal nach Lampedusa aussehen kann. Jens Zimmermann bespricht analog dazu den Sammelband „Grenzregime“, anhand dessen er zentrale Thesen von der „Europäisierung der Migrationspolitik“ bis zur „Externalisierung von Grenzen“ erläutert. In welcher Weise sich die rassistische Ausgangslage für Migrant_innen in europäischen Ländern verändert, zeigt der Band „Nation –“ Ausgrenzung –“ Krise“, den Zülfukar Çetin für kritisch-lesen gelesen hat. Den Komplex Abschiebung mit der ihm eigenen Logistik, seinen Bedingungen, seinen verschiedenen Orten der Produktion von Leid ebenso wie des Widerstands beschreibt Miltiadis Oulios in seinem Buch „Blackbox Abschiebung" –“ Martina Benz macht uns seine „Theorie der Abschiebung" zugänglich, die von zahlreichen Porträts von „Leuten, die gerne geblieben wären" begleitet wird. „Im Land der Frühaufsteher“ ist der Titel eines Romans, dem es laut der Rezensentin Sharon Otoo gelingt, die schwierige Frage nach den unterschiedlichen Perspektiven von Geflüchteten und Nicht-Geflüchteten aufzugreifen und zu lösen. Um die Verschiebung der Perspektive geht es nach Bente Gießelmann auch in dem Buch Antiziganistische Zustände 2, dessen Autor_innen mit ihrer kritischen Intervention die gesellschaftliche Mitte auffordern, ihre eigenen antiziganistischen Stereotype zu hinterfragen.

Zu den Rezensionen

Erfahrungen von Krankheit von undokumentierten Lateinamerikaner_innen sind nach Susann Huschke durch mehr als das physische Leiden geprägt: Durch Illegalisierung entsteht auch ein „soziales Leiden", das gesundheitsschädlich ist. Flaminia Bartolini rezensiert Susann Huschkes Studie, in der deutlich wird, dass unter anderem eine gemeinsame Lobbyarbeit der Versorgungsanbietenden noch immer fehlt. Das Wohlergehen von anderen als Aufgabe von Migrantinnen hat hingegen Konjunktur: Im Bereich der durch „Wohlstandsgefälle“ entstandenen Care-Arbeit sorgen Frauen einerseits für „fremde“ Haushalte, andererseits auch für ihren transnationalen Haushalt. Wie das Leben ukrainischer Hausarbeiterinnen sich dadurch verändert und was das über den Komplex Geschlecht, Klasse und Migration aussagt, ist in „Transnationales Haushaltsmanagement“ von Irene Messinger zu erfahren, die das Buch „Hausfrau für zwei Länder sein" rezensiert.

In weiteren aktuellen Rezensionen außerhalb des Schwerpunkts diskutiert zunächst mit „Staatsverschuldung: Geliebter Feind“ Patrick Schreiner Ingo Stützles Buch „Austerität als politisches Projekt“, das unter anderem die dominante Rolle der neoliberalen Wirtschaftspolitik Deutschlands innerhalb der europäischen Währungsunion aufarbeitet. Christian Baron lobt in „Der elitäre Blick auf soziale Probleme“ die Neuerscheinung des Elitenforschers Michael Hartmann, die –“ den Zusammenhang von Armut und Reichtum voraussetzend –“ Einstellungen in der sogenannten Elite und ihre Hintergründe sowie Erklärungsansätze für fehlendes Klassenbewusstsein der Lohnabhängigen präsentiert. In „Die menschliche Seite der Dekonstruktion“ beglückwünscht Philipp Dorestal den Autor Benoît Peeters für eine gelungene Biografie über den Philosophen Jacques Derrida. Anders Sebastian Kalicha, der nach dem Lesen der Autobiografie des Jazz-Musikers Charles Mingus dessen Musik nicht mehr unbeschwert hören kann, wie er in „Jazz + Sex hoch zwei“ erklärt. Christian Stache erläutert in seiner Besprechung des Buches „Antispeziesismus“ von Matthias Rude aus materialistischer Sicht, warum erst mit einem konsequenten Antikapitalismus die Beendigung der Ausbeutung von Mensch und Tier gelingen kann. Zu welchem Denken etwas theoretisch so unhaltbares wie die Extremismustheorie führen kann, zeigt Friedrich Burschel in „Lenin heißt jetzt Jesus“. Darin polemisiert er gegen Sabine Rennefanz, die meint, aufgrund ihrer DDR-Sozialisation Verständnis für die rassistischen Morde des NSU aufbringen zu müssen. Eine neue Veröffentlichung zum Thema Intergeschlechtlichkeit lässt Inters* selber zu Wort kommen –“ „jenseits ihres Status als Betroffene“. Nach der Lektüre lobt Andreas Hechler viel und kritisiert Weniges in seiner Besprechung „Hermstories“. Martin Brandt fokussiert in seiner Rezension „Sprachpolitik als Klassenprivileg“ schließlich einige theoretische Schwachstellen der aktuellen sprachpolitischen Intervention Lann Hornscheidts und plädiert für einen entspannteren Umgang in der politischen Praxis.

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