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Anne Will: Verwaltung erwünschter Unwissenheit

Lange Zeit hat gerade Anne Will sich bemüht, Durchblick in verworrenen Lagen zu schaffen. Manchmal mit strengem Eingriff. In der Sendung am letzten Mittwoch allerdings hat sie - vielleicht erpresstermaßen - nichts anderes getan als die erwünschte allgemeine Unwissenheit zu verwalten.

Schon der Titel der Sendung veranlasste Todenhöfer mit Recht zur Absage. Die Erinnerung von "Assad schießt Kinder ab" - oder so ähnlich an Herodes Kindleinwürger aus der Bibel unserer Kindertage war schon allzu deutlich.

Entsprechend verlief dann das, was der Form nach eine Diskussion sein sollte. Kaum jemand kümmerte sich darum, herauszubekommen, was wirklich passiert war. Dagegen herrschte relativ Einigkeit, dass jede Frage nach der Zeit nach Assad wegzuschieben war. Außer Scholl-Latour, der mürrisch hie und da an die Ergebnisse vergleichbarer Friedensstiftungen in Afghanistan, Irak und Libyen erinnerte, sollte nur der Ruf des Gewissens gelten. Ein Teilnehmer fand die Kraft, ausdrücklich die Frage nach einer Zeit nachher zu verlachen. Hauptsache, der gegenwärtige Unhold ist weg.

Und so findet sich die Bundesrepublik bereit - wenn es nach dieser Sendung geht - dieses Mal ihren Fehltritt beim lybischen Befreiungswerk vergessen zu lassen. Offenbar wird in Berlin schon ein Büro der syrischen Opposition von der deutschen Regierung bereitgestellt und wahrscheinlich auch bezahlt.

Im Gleichschritt marsch! Mit allen anderen Freiheitsbringern Europas und der Welt. Darauf lief die Sendung hinaus.

Man darf von Talk-shows unter den gegenwärtigen Bedingungen sicher nicht zu viel erwarten. Immerhin: Früher - und gerade bei Anne Will - war wenigstens ein Abwägen von Für - und - Wider möglich. Man wurde am Geländer des gerade noch Sagbaren entlang geführt.

Damit scheint es jetzt auch vorbei.

kritisch-lesen.de Nr. 18: Körperregeln

Beim Kampf gegen bestehende Herrschaftsverhältnisse geraten mehr und mehr Körper ins Blickfeld. Körper nehmen dabei zwei Funktionen ein: Zum einen werden anhand der Zuschreibung körperlicher Merkmale und Eigenschaften verschiedene Formen von Unterdrückungsverhältnissen legitimiert und begründet, zum anderen schreiben sie sich in Körper ein. Denn Körpernormen und Körperbilder wirken sich auf die Selbstwahrnehmung, aber auch auf den Blick dessen, was als „schön“ oder „attraktiv“ empfunden wird, aus. Das scheinbar individuelle Handeln, das sich in alltäglichen körperlichen Selbstinszenierungen oder Zurschaustellungen manifestiert, ist im Umkehrschluss durchzogen von gesellschaftlichen Normvorstellungen. Körperdiskurse legitimieren Körper anhand bestimmter Maßstäbe als „gesund“, während andere, die diesen Normen nicht entsprechen, als abweichend konstruiert werden. Diese Normen zu hinterfragen und Linien zwischen „krank“/„gesund“, „schön“/„hässlich“, „fit“/„faul“, „stark“/„schwach“ aufzubrechen sind wichtige Aufgaben linker Politiken.

In dieser Ausgabe wird sich dem umfangreichen Thema aus unterschiedlichen Perspektiven genähert. Zunächst empfielhlt Ulrike Roth das Buch Projekt Körper und hält fest, dass es auch als gelungene Analyse einer neoliberalen Gesellschaft am Beispiel Körper gelesen werden kann. Anschließend zeigt Heinz-Jürgen Voß in der Rezension des Buchs Ein Junge namens Sue „Lebensgeschichten von Trans*-Menschen” auf. Die Studie Schönheit als Praxis zeigt anschaulich, dass im Schönheitsdiskurs gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse verhandelt werden, eignet sich aber laut Rezensent Ulrich Peters eher nicht zum Einstieg in die Thematik. Hingegen hält Peps Perdu Fleischmarkt für eine gute Einstiegslektüre. Sie sieht in dem Buch eine Kampfansage gegen die Rolle, die weiblichen Körpern im Kapitalismus zugeschrieben wird. Zwar vermisst sie einen intersektionalen Zugang, sieht aber dennoch neue feministische Perspektiven unterstützt. Thomas Möller bespricht den Sammelband Körper haben, dem das Ziel einer interdisziplinäre Herangehensweise an das Thema zu Grunde liegt. Diese wird laut Möller durch einen zu allgemeinen theoretischen Rahmen jedoch nur unzureichend eingelöst. Den Abschluss des Schwerpunkts liefert Heinz-Jürgen Voßs Rezension des Ausstellungsbegleitbandes 1-0-1 (one ´o one) intersex , der als eine der besten deutschsprachigen Publikationen gewürdigt wird, die für die Rechte der Intersexen eintreten.

Unter den aktuellen Rezensionen lobt zunächst Patrick Schreiner die Widerlegung vieler unhinterfragter neoliberaler Mythen, die der Ökonom Ha-Joon Chang in seinem fundierten populärwissenschaftlichen Buch 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen vornimmt. Zu einem vernichtenden Urteil kommt dagegen Philippe Kellermann in seiner Rezension von Transparenzgesellschaft: Der Autor und Philosoph Byung-Chul Han verbaue sich mit seiner Kritik an dem Konzept eine nuancierte Betrachtung der Fallstricke der Transparenzforderung und verunmögliche damit auch eine emanzipatorische Antwort. Das Buch Wir kommen von Inan Türkmen wurde vor allem in Österreich breit diskutiert. Sebastian Kalicha bemängelt in seiner Rezension trotz des möglichen subversiven Potenzials des Essays das Fehlen eines über Provokationen mit neuen Klischees hinausgehenden Inhalts. Für die Mehrheit der Gesellschaft provokante Thesen enthält auch Markus Bernhardts Darstellung der „Hintergründe, Verharmloser und Förderer“ des NSU-Terrors, die Michael Lausberg in seiner Besprechung Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) und die Inlandsgeheimdienste als gelungene Einstiegslektüre in das Thema empfiehlt. Thomas Trueten bespricht schließlich in Der Kampf ist noch nicht vorbei Mumia Abu Jamals bereits 2004 in den USA veröffentlichtes Buch über sein Leben in der Black Panther Party, das nun auch in deutscher Übersetzung erschienen ist.


Weiterlesen in der am 5.6. erschienenen Ausgabe von kritisch-lesen.

Jeder Staat ist Herrschaft oder Diktatur

Friedrich Engels in jungen Jahren
„In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie; und im besten Fall ein Übel, das dem im Kampf um die Klassen-herrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird und dessen schlimmsten Seiten es ebenso wenig wie die Kommune umhin können wird, sofort möglichst zu beschneiden, bis ein in neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun.“

Friedrich Engels, Einleitung von 1891 zu „K. Marx: Bürgerkrieg in Frankreich“, MEW 17, 625.
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