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Wolfgang Pohrt: Schlägt die Tür wütend hinter sich zu

Statt Besprechung: Ermunterung gegen Depressionen.

In Brechts Stück "Die Mutter" stoßen mehrere Personen, die lesen lernen wollen und müssen, auf einen sehr missvergnügten Herrn,der es ihnen beibringen soll. Er ist seit Jahren genervter Lehrer und verwarnt die Lernbegierigen: Was bringt es schon, mit Buchstaben zu jonglieren? Ich habe den mal beim Theaterkreis der Mühle Renchen aus innerstem Mitempfinden zum Besten gegeben. Die langen Jahrzehnte der Lehre - und was kam dabei heraus? Im Grunde: Nichts. Die unververdrossene Mutter Wlassow aber setzt dem Lehrer zu: "Wenn Dir Dein Wissen nichts wert ist, rück es trotzdem raus. -Uns kann es nur nützen". Dann folgt der kollektive Aufruf "Lob des Lernens".

Möglicherweise hat auch Pohrt sein Büchlein "Kapitalismus -Forever" so verstanden. Er quengelt 110 Seiten lang, dass Marx uns nichts gebracht hat. Und dass der Kapitalismus wahrscheinlich der Menschen-Natur seit ewigen Zeiten am ehesten entspräche. Und das viele Lesen lenkt doch nur vom Revolutionsmachen ab. Schon Robert Kurz wird S.49 verwarnt, weil er zehn Jahre fulltime Marx büffeln musste, um gegen die bestehende Gesellschaft rebellieren zu wollen. "Wer kann sich denn diesen Luxus leisten?"

Auf Seite 12 nennt Pohrt es nachträglich Unfug, dass er selbst für Zeiten ohne große revolutionäre Events Beschäftigung mit Marx gefordert hatte. Heute: "Warum das kurze Leben, statt es zu genießen, mit dem KAPITAL vertrödeln?"

Damit freilich findet er sich bei Schopenhauer und seinesgleichen wieder. Schopenhauer beweist scheinbar schlüssig, dass der Mensch immer unglücklich sein wird. Entweder er hat nicht, was er braucht - und ist unglücklich, bis er es hat. Oder er hat es - und erliegt der Langeweile, weil er nichts mehr hat, wonach er sich sehnen kann. Streng logisch - und doch falsch! Das Genießen, das auch Pohrt anpreist, wird hier in seinen Möglichkeiten zu eng gesehen. Es besteht nicht nur im augenblicklichen Haben, sondern in einem ständigen Sich-Vorwegsein. Im Kampf um das Fehlende, Ersehnte liegt selbst schon eine Art Glück.
Selbst noch im Bücherschreiben über das Versäumte. Warum nämlich schreibt Pohrt, wenn es nicht darum ginge,noch in der Verneinung das Verschmähte zu bejahen?

Inhaltlich stellt uns Pohrt vor die einfache Alternative: Kapitalismus total abschaffen - oder jede Anstrengung aufgeben! Eine Alternative dieser Art kann nie zu Ende gedacht werden.Weil der Kampf darum herausgefixt wurde. Ein Beispiel: Heinrich Mann hat im französischen Exil einen langen Roman über das Leben Heinrichs IV. von Navarra geschrieben. Viel verschlungener und lahmer, als sein "Untertan" oder sein "Professor Unrat". Damals - im deutschen Kaiserreich - ging es ihm wirklich um Ja oder Nein. Zwanzig Jahre später - im Exil - aber um die Möglichkeiten, bei aller Verfluchtheit der Politik, mit ihren höllischen Mitteln- doch etwas für kurze Zeit Bleibendes zu schaffen. Wie die Garantie der Gewissensfreiheit zwischen Hugenotten und Katholiken in seinem Reich. Mann schreibt natürlich im Wissen, dass das "Edikt von Nantes", das Freiheit verbürgen sollte, keine hundert Jahre gegolten hat. Es wurde von den direkten Nachfolgern des Königs Heinrich widerrufen, abgeschafft und durch religiöse Diktatur ersetzt. Scheinbar - mit Pohrt - ein Beweis, dass gegen den mit dem aufkommenden Kapitalismus verbundenen Zentralismus nichts zu machen ist. Nichts?

Es blieb eines: lebhafte und bleibende Erinnerung an einen Zustand, in welchem das Undenkbare gedacht wurde, das bloß Geforderte Wirklichkeit geworden war. "Unterpfand" - wie man früher feierlich sagte - der Wirklichkeit des Erträumten. Und das für alle Zeiten.

Pohrt wirft mit Theorieklötzchen um sich. So führt er versuchsweise den Kapitalismus auf das Bevölkerungswachstum zurück. Als natürliche Folge. Überlegt dabei keinen Augenblick, dass in mittelalterlichen Städten die Leute so dicht wie möglich zusammenhockten. Und es blieb doch beim Zunft- und Handwerkssystem. Übervölkerung ist eben ein Begriff, dessen Inhalt streng von dem Gebiet abhängt, auf welches er sich bezieht.
Deprimierend einem Denker am Ende beim Herumkrauchen auf dem Boden zuzusehen. Trotzdem ist noch nicht alle Hoffnung verloren. Auch wenn Pohrt die Tür hinter sich zugeschlagen hat. Im Zorn. Was hindert uns, sie wieder aufzustoßen? Noch die unbeherrschte Wut des Autors, sein Ingrimm angesichts des Verlorenen, beweist zumindest eines: dass wir es nicht lassen können, über den Tellerrand hinauszuschauen.Über die gerade abgefüllte Portion Suppe hinweg. Wieso kann Pohrt nicht ohne Groll mitteilen: War alles nichts. Weil er jetzt noch an dem hängt, was er angeblich verwirft.

Quelle: Kapitalismus Forever: Über Krise, Krieg, Revolution, Evolution, Christentum und Islam Edition Tiamat Frühjahr 2012 Preis: 13 Euro

kritisch-lesen.de Nr. 16: Zeugnisse des Anarchismus

Wie bereits in Ausgabe 11 (Debatten und Praxen des Anarchismus) im November letzten Jahres angekündigt wurde, widmet sich Ausgabe 16 erneut dem Anarchismus. Dieses Mal wird sich den „Zeugnissen des Anarchismus“ zugewendet. Was ist darunter zu verstehen? Mit Zeugnissen meinen wir zum Beispiel (Auto)Biografien, Werkausgaben, Memoiren, Tagebücher, Textsammlungen etc. Dabei handelt es sich in der Regel um Publikationen von oder über Anarchist_innen, die einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Bewegung inne haben bzw. zu den so genannten „Klassikern“ zählen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass diese Menschen in Theorie und Praxis Bedeutendes für die anarchistische Bewegung geleistet haben, was Grund genug dafür ist, ihrer Arbeit die zweite Anarchismus-Ausgabe auf kritisch-lesen.de zu widmen.

Den Beginn macht das voluminöseste Werk unter den besprochenen Büchern: Emma Goldmans neu aufgelegte Autobiografie Gelebtes Leben – ein fast 1000-seitiger, großformatiger Hardcover-Ziegel, den Regina Wamper gelesen und besprochen hat. Dem nur ein Jahr nach Goldman geborenen, aber bedeutend früher gestorbenen Gustav Landauer (geb. 1870; 1919 von rechten Freikorps-Soldaten in München ermordet) ist die zweite Rezension gewidmet. Gabriel Kuhn bespricht den siebten Band mit dem Titel Skepsis und Mystik aus Landauers „Ausgewählten Werken“. Beschäftigt man sich mit Gustav Landauer, so dauert es nicht lange bis auch Erich Mühsam, sein Freund und Genosse aus der Münchener Räterepublik, mit ins Spiel kommt. Der 1934 im KZ-Oranienburg ermordete Mühsam hinterließ umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen, wovon kürzlich die ersten Bände veröffentlicht wurden. Gabriel Kuhn bespricht jenen, der die Jahre 1910-1911 zum Inhalt hat. Mit Errico Malatesta, dem italienischen Anarchokommunisten, dem es stets zuwider war, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, und der sich daher auch beharrlich weigerte, eine Autobiografie zu verfassen, beschäftigt sich Sebastian Kalicha. Er bespricht Malatestas Ungeschriebene Autobiografie. Philippe Kellermann rezensiert die kommentierte Studienausgabe von Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum. Stirner, der gemeinhin als wichtiger Vertreter des Individualanarchismus gilt, musste nicht nur von Marx persönlich, sondern auch von vielen Anarchist_innen nicht immer solidarische Kritik einstecken. Der Rezensent findet hingegen lobende Worte für das Buch und Stirners Philosophie. Die beiden letzten Rezensionen zum Schwerpunkt widmen sich Anarchisten, die, im Gegensatz zu den bislang erwähnten, noch persönlich in die jüngere Vergangenheit einwirken konnten: dem Wobbly Sam Dolgoff und dem Anarchosyndikalisten Augustin Souchy. Eine Rezension über die ins Deutsche übersetzten Memoiren Dolgoffs und den ambivalenten Eindruck, den Sebastian Kalicha davon hatte, sind in Die Geschichte(n) des Sam Dolgoff zu lesen. Sebastian Friedrich hat sich mit der Textsammlung Anarchistischer Sozialismus, in der Beiträge Souchys zu verschiedenen Themen aus unterschiedlichen Epochen zusammengestellt wurden, beschäftigt.

Die weiteren Rezensionen eröffnen wir diesmal mit einem Roman. Heinz-Jürgen Voß widmet sich in So sehr, wie es nur geht der einfühlsam erzählten Geschichte der ineinander verliebten Jungs „Ali und Ramazan“. Im Anschluss wirft Adi Quarti den Blick auf die Kolumnen Jaques Rancières, die jüngst in Buchform zusammengetragen wurden und eine “Chronik der Konsensgesellschaft“ nachzeichnen. Historisch wird es in der letzten Rezension, in der sich Anja Gregor mit Medikalisierung und Herrschaft auf die Suche nach den Spuren der Medizin als patriarchales Herrschaftsinstrument macht.

Übrigens: kritisch-lesen.de ist jetzt seit genau einem Jahr online! Wir bedanken uns an dieser Stelle herzlich bei unseren Leserinnen, Autorinnen und Freundinnen, die uns in diesem anstrengenden, aber sehr motivierenden ersten Jahr unterstützt haben. Wir sind begeistert von dem Anklang, den unser Projekt – nicht nur im Netz – findet. Die Reaktionen und Besucherinnenzahlen gehen weit über das hinaus, was wir erhofft haben. Auch im zweiten Jahr von kritisch-lesen.de werden wir einmal im Monat eine Ausgabe mit einem Schwerpunkt veröffentlichen und darüber hinaus Diskussionen und Buchvorstellungen veranstalten. Geplant sind außerdem ein kleines kritisch-lesen.de-Festival mit Diskussionsveranstaltungen und anschließendem Konzert sowie ein Relaunch unserer Homepage.

Viel Spaß beim kritischen Lesen!

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