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Wende im Verfahren gegen Mumia Abu-Jamal?

Foto: freemumia.org
Aus einer Presseerklärung der Nürnberger Free-Mumia-Gruppe:

Am 10. Dezember jährt sich die Verabschiedung der Charta der Menschenrechte durch die UNO 1948. Doch bereits am Vortag, dem 9. Dezember ist ein anderes grausames Jubiläum: Es handelt sich um den 30. Jahrestag der Inhaftierung des afroamerikanischen Journalisten Mumia Abu-Jamal.

Die Staatsanwaltschaft in Philadelphia hat am 8.12. zu einer wichtigen Pressekonferenz eingeladen. Nachdem ihr Antrag auf Vollstreckung der Todesstrafe schon im September vom Obersten Bundesgericht abgelehnt wurde, hat sie sich in einer Frist von 180 Tagen zum Fortgang des Verfahrens zu äußern und muss, will sie die Todesstrafe aufrecht
erhalten, ein völlig neues Verfahren führen.

Das ist Mumia Abu-Jamals Chance: Mumia wurde im Sommer 1982 in einem fragwürdigen Verfahren mit handverlesener Jury, unter Druck gesetzten Zeugen und bei zweifelhafter Beweislage wegen Polizistenmordes zum Tode verurteilt. Bereits zweimal wurde eine Hinrichtung aufgrund weltweiter Proteste in letzter Sekunde verhindert. Viele Prominente, eine internationale Solidaritätsbewegung und inzwischen auch Parlamente unterstützen Mumias Forderung nach Wiederaufnahme des Verfahrens, welches nach Urteil von amnesty international auf keinen Fall den Mindeststandards für ein faires Verfahren genügt.

Nach Veröffentlichung zahlreicher Bücher, Radiobeiträge und Zeitungskolumnen, wurde Mumia zum wohl bekanntesten Vorkämpfer gegen die Todesstrafe weltweit. Deshalb wollen wir den diesjährigen Jahrestag der Menschenrechte dazu nutzen, um für Mumia und gegen die Todesstrafe zu demonstrieren.

Demonstration am 10.12.2011 in Nürnberg um 16 h vor der Lorenzkirche:

Für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe!
Freiheit für Mumia Abu-Jamal!


Mit Redebeiträgen des Antifaschistischen Aktionsbündnisses (AAB), der Jusos, des Mumia-Bündnisses Nürnberg, von ver.di und der VVN-BdA.

Mehr Informationen

Christa Wolf gestorben

Christa Wolf, 9. März 1963
Bundesarchiv, Bild 183-B0509-0010-006 / Eckleben, Irene / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de (http:///www.creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], durch Wikimedia Commons
Christa Wolf ist - im Alter Goethes - dahingegangen. Ad plures ire, wie die Römer sagten. Zur Mehrzahl derer, deren Gedächtnis zugedeckt wurde. Es scheint angemessen, jetzt nach ihrem Tod noch einmal an die maßlosen Angriffe zu erinnern, die nach der Wende gegen die Schriftstellerin vorgebracht wurden. Allen voran seinerzeit Schirrmacher, der nach diesem Bravourstück als würdig befunden wurde, ins Herausgeber-Gremium der FAZ berufen zu werden. Nach allen inzwischen vollzogenen Quer- und Längszügen Schirrmachers darf das doch nie vergessen werden. Aus Anlass ihres Todes hier nochmal mein Beitrag auf stattweb.de zu ihrem 80. Geburtstag am 18.März 2009:

Christa Wolf im Rückblick: Viele verzeihen ihr großmütig, was das Beste an ihr war. Zum achtzigsten.


Arno Widmann, jetzt FRANKFURTER RUNDSCHAU, rühmt in seiner Würdigung ihres Lebenswerks Christa Wolf nach, dass sie gerade das aufgesammelt und zum Thema gemacht habe, was in der realen DDR unter die Räder des gewaltsamen Wegs zum Fortschritt gekommen sei. In sehr schöner und würdiger Form. Nur der, der die Auseinandersetzungen nach 1990 noch im Kopf hat, merkt, dass Widmann hier seine damaligen Vorwürfe weitgehend zurücknimmt. Widmann war damals taz-Redakteur und vom Kampagnen-Führer Schirrmacher in der FAZ ausdrücklich belobt worden, dass er als "Linker" mit ihm unterwegs sei.

Die damaligen Vorwürfe gegen Christa Wolf richteten sich im Wesentlichen auf das angeblich Subjektive, das prompt als deutsche Innerlichkeit verstanden wurde, die sich jetzt so in den Dienst des "stählernen Gehäuses DDR" stelle, wie es einst die Carossas und Miegels und Seidels betrieben hätten, um das Harte und Brutale des Faschismus von innen her auszupolstern, wohnlich zu machen. Von da aus wurde der Versuch Christa Wolfs, in letzter Minute die Selbständigkeit der DDR zu retten, als entprechende Verhaftung an ein -trotz allem- Unrechtssystem verstanden und unisono verurteilt.

Zum achtzigsten gebietet der Anstand Milde. Aber auch Nachdenken über dasjenige, "Was bleibt", um die damals so angegiftete kleine Schrift Christa Wolfs nicht auszulassen, die nach dem Mauerfall erschien, wahrscheinlich aber in großen Teilen schon in den achtziger Jahren entstanden ist.

Die einzige, die schon vor dem Fall der Mauer sich wirklich mit der Krise der DDR befasste, und zwar abzulesen in ihren literarischen Hervorbringungen, war Antonia Grunenberg. Sie brachte 1990 im Verlag Temmen eine Arbeit heraus, die sie nach eigenen Angaben ca. 85 zu Ende geschrieben hatte. "Aufbruch der inneren Mauer - Politik und Kultur der DDR 1971-1990". Darin analysiert sie an vielen Einzelbeispielen der Erziehungstheorie und der Literatur die Krise -eine Art Engführung- in die das gesamte System gekommen war. Und zwar so, dass eine recht erstarrte Form von Marxismus-Leninismus sozusagen als das Gewölbe ewiger Wahrheit über allen am Himmel stand, aber kaum jemand bewegte. Das Erstaunliche war wirklich bei Begegnungen vor und nach 89, wie wenig Marxismus als alltägliches Begriffsbesteck zur Erklärung von Geschehen zur Verfügung stand und herangezogen wurde.

Nach Antonia Grunenbergs Analyse wurde unter dem weiterbestehenden System des sprachlich reproduzierten Leninismus-Marxismus gleichsam eine zweite Ebene eingezogen: Arbeitsmoral. Arbeit und Produktion als höchste Norm. Teilweise kalvinistisch gedacht, teilweise utilitaristisch. Wie erhöhen wir die Gesamtproduktivität unseres Gemeinwesens, damit auch hier sich möglichst viele leisten können, was andere haben- vor allem die Westler?

Es trat genau das Gegenteil des Beabsichtigten ein: Arbeit und Produktivität, wesentlich nur in ihren Messzahlen -Geldwert und Planerfüllung- sichtbar gemacht, rissen niemand vom Hocker. In Loests "Es geht seinen sozialistischen Gang" wird das saturierte kleinbürgerliche Leben beschrieben, das in seinem Desinteresse an Politik und Dingen außerhalb der vier Wände täuschend dem des westlichen spießig gemachten Arbeiters glich.

Grunenberg zeigt dann an vielen Beispielen der Belletristik, wie -vom ZK und der Kulturleitung durchaus hingenommen- die privaten Probleme desjenigen in den Mittelpunkt treten, der mit Arbeitswelt nichts anfangen kann, mit der politischen Begriffswelt noch weniger. Typisches Produkt dieser Problembehandlung: Plenzdorfs: "Die neuen Leiden des jungen W." So sieht sie ebenfalls eines der bekanntesten Bücher Christa Wolfs aus ihrer früheren Zeit "Nachdenken über Christa W". Diese, die sich allen Erklärungsvesuchen entzieht, ist eine, die in kein Erklärungssystem hineinpasst: weder in eines, das sie erklären soll, noch in eines, das sie selbst zur Ordnung ihrer Welt und Umwelt entwerfen könnte.

Ein Grundtatbestand ist also unbestreitbar. Im Gegensatz etwa zu den Romanen der Seghers steht nicht mehr der kämpfende oder versagende Mensch bei Christa Wolf und ihrer mitschreibenden Generation im Mittelpunkt, der für die Durchsetzung und Bewahrung des Sozialismus einträte. Vielmehr wird, wie nebenbei gesagt in der West-Literatur auch, zum großen Teil das Strampeln der Individuen vorgeführt, die allein oder zu zweien sich wenigstens an eine gesicherte Ecke retten wollen. Antonia Grunenberg beschreibt das einfach -als ein Krisenmerkmal der DDR-Gesellschaft.

Die späteren Kritiker nach 89/90 sehen vor allem bei Christa Wolf einen Innerlichkeitskult, der Fluchträume des Seelenlebens eröffnet. Und eben, weil die Dichterin solche anbietet, wird ihr vorgeworfen, billigen Trost zu offerieren in einer Situation, die eigentlich zum Heraustreten aus der Privatheit, zur öffentlichen Auföehnung hätte führen müssen. Christa Wolf hätte als große Beschwichtigerin den schon bröckelnden Laden am Laufen gehalten. Das alles lässt sich aber auch ganz anders verstehen.

Träfe die nachträgliche westliche Deutung völlig zu, wäre die Beunruhigung in ZK und Kulturinstanzen durch Christa Wolf schwer verständlich. Gewiss, sie bekam ihre Preise. Sicher, man war nicht unfroh, schon aus Devisen- mehr noch aus Ansehensgründen, dass all ihre Bücher in Westdeutschland mit großem Erfolg verkauft wurden. Privatisiert wurde in tausend Publikationen. Das hätte am wenigsten gestört.

In Wirklichkeit gab es seit "Nachdenken.." Quengeln bis Streit über: Veröffentlichen - so nicht Veröffentlichen - Ändern. Nicht als gäbe es das im privatisierten Verlagswesen des Westens zwischen Lektor, Verlagsbesitzer und Autor nicht genauso. Es geht hier keineswegs um die beliebte Frage nach der Zensur. Es geht um den unbestreitbaren Tatbestand der Störung, des Gestörtseins der tonangebenden Kreise der DDR, solange diese bestand.

Ein kennzeichnendes, schon fast rührendes Beispiel bot der alte Girnus in einem Rückzugsgefecht, nachdem "Kassandra" erschienen war. Girnus, selbst langjähriger Herausgeber von "Sinn und Form", in der Frühzeit sogar Wolfs Unterstützer, klagte vor allem um die Herabwürdigung der Götter. Apollo zum Beispiel, werde da "Mäusejäger" genannt. (Smintheus- wir bekamen es beim Homer in der Schule auch nicht anders übersetzt). Bei Girnus ging ein Klageton durch seinen ganzen Essay: man hatte das Gefühl, dieser Apollo säße im Politbüro und würde von Wolf erniedrigt, nicht nur als Gott, sondern auch als Mann. Die Bedrohung des Maskulinen durch den stellenweisen Rückgriff ins Mutterrecht in "Kassandra" war kläglich zu spüren. Dies alles - schon ganz am Ende, und doch ein Zeichen, wie nah die angeblich ins Unpolitische abtauchende Christa Wolf der ganzen alten Politikergarde der DDR ging.

Wie war das möglich? Nehmen wir ein unverdächtiges kleines Prosastück "Störfall", in welchem synchron die Nachrichten aus Tschernobyl und die Hirnoperation eines Bruders behandelt werden. Dies ganz Private- der blühende Frühjahrsgarten, die Sorge um den Bruder- können nicht durchgehalten werden als nur private Regung. Das politische Versäumnis, die Katastrophe Tschernobyl für alle machen den gewünschten Rückzug in die Isolation des geretteten Ich unmöglich. Unmöglich aber auch ein Aussschreiten, eine Abwehr der gemeinsamen Gefahr. Hier setzt Christa Wolfs in den spätern Werken immer deutlichere Kritik der offiziellen Sprache als Herrschaftsmittel ein. Aus dem Radio dringen immer neue Deckwörter, verbale Hüllungen, die ungreifbar machen, was uns im nächsten Augenblick angreifen wird. Rückzug ins Private allein hätte den sozialistischen Seelsorgern in der DDR nichts ausgemacht. Aber der Nachweis der Unmöglichkeit eines solchen Rückzugs, auf den die Oberen die DDR-Bewohner doch gerade verwiesen hatten, musste beunruhigen. Die Abwanderungswilligen drängten drohend zurück.

Damit stoßen wir auf den Kern des Problems. Sozialismus ist ja nicht vom Himmel gefallen. Kann sich selbst auch niemals so darstellen. Der offiziellen Linie nach, ist er notwendige Folge der Aufklärung und damit der bürgerlichen Revolution. Er nimmt deren Fortschritte in seine eigene Bewegung auf und führt sie zu Ende. Innerhalb des überlieferten Fortschrittsglaubens ist Sozialismus die Krönung der Bestrebungen des ganzen Menschengeschlechts, und zwar so, dass alle Konflikte, die von altersher zerreißen und entzweien, in der neuen Gesellschaft im Prinzip als lösber erscheinen.

Brecht zum Beispiel hatte im "Kaukasischen Kreidekreis" die Uralt-Situation der zwei Frauen, die um ein Kind streiten, aus der Salomolegende der Bibel aufgegriffen. Der Streit wird so gelöst, dass nicht diejenige, die nur die natürliche Tat der Geburt beigetragen hat, das Kind erhält, sondern diejenige, die es in Sorgen und Gefahren Jahre lang aufgezogen hat und bewahrte. Das verknüpft sich mit dem gesellschaftlichen Streit zweier Kolchosen um ein Grundstück. Brechts optimistische These: so wie die zwei Kolchosen sich vernünftig einigen können im Sinne einer gemeinsamen höheren Produktion, so können in einer -vernünftigen- sozialistischen Welt die Menschen auch solche Konflikte lösen, die gar nicht primär okonomische Ursachen haben.
Das lässt sich freilich leicht auch als Anspruch an den Sozialismus lesen: wenn unser Sozialismus ein wirklicher ist, muss er ein solches Licht in die Welt werfen, dass er auch die Streitigkeiten weghebt, auflöst, die aus Zeiten stammen, lang vor dem Privateigentum und planmäßiger Produktion. So urtümliche wie die des Verlangens nach dem eigenen Kind, der Suche nach der verlorenen Liebe.

Genau die Frage stellt Christa Wolf in ihren späteren Büchern immer wieder. Schon in "Kein Ort nirgends" wird es zum Problem, wieso gerade Kleist und Günderode, die doch die Tendenzen des Jahrhunderts am schärfsten und deutlichsten ausfochten, von eben diesem Jahrhundert so begraben und erstickt wurden, dass sie sich beide den Tod gaben. Noch entschiedener in "Kassandra". Christa Wolf greift bis in die Urzeit zurück, ins Verhältnis von Frau und Mann, aber auch ins Überleben des ganzen Menschengeschlechts im Weiterführen des Kriegsbetriebs- von den verschollensten Zeiten her.

Ulbricht und Honecker waren ehrlichen Herzens nie müde geworden, als Humanisten als Erben aller fortschrittlichen Bewegungen der Menschheit aufzutreten. Genau das machte ihnen Christa Wolf streitig. Sie brach die Fortschrittslinie an der Spitze ab. Wie wenn, so fragt sie, die von Grunenberg richtig beschriebene Produktivitätskultur in Ost und West nicht genau dazu führte, dass nicht nur alles Erreichte zerfällt, sondern sogar die Grundlagen des Menschseins, auf denen alles aufbaut, einschließlich eines möglichen Sozialismus. Wenn die uns bekannte bebaute und bearbeitere Umwelt einfach wegsänke durch Fortschrittsbefangenheit und Krieg? Dann verschwände mit den Fragenden auch die Frage nach der richtigen Ordnung des menschlichen Produzierens samt der nach dem Eigentum.

Christa Wolf gräbt gleichsam unter den Fundamenten des als System verstandenen Sozialismus und zwar so tief, dass die Grundlagen auch des angestrebten Sozialismus als bedroht erfahren werden. Daher die Erschütterung im Osten. In Wirklichkeit war die im Westen nicht geringer. Vordergründig konnte man die Angriffe Schirrmachers und der seinigen nach 1890 verstehen als Abwehr des Aufrufs "Für unser Land", der damals mit allen Mitteln totgeschwiegen wurde, in Wirklichkeit eine Million Unterschriften bekommen hatte. Das kam erst heraus, als alles vorbei war. Auch wenn an Sozialismus im eigentlichen Sinn in diesem Augenblick nicht mehr zu denken war: Was wäre falsch gewesen an einer Verhinderung neuer deutscher Großmacht? Zumindest der Überfall auf Jugoslawien hätte ohne den Anschluss der DDR und der Hegemonie auf andere Staaten des Ostens schwer bewerkstelligt werden können.

Widmanns Text lässt aber noch einen weiteren Grund vermuten der großen Wutangst, die damals kultiviert wurde. Und damit der Abwehr einer nur vermuteten Forderung, die von Christa Wolf ausging. Widmann schreibt: "Die Zeit des Einverständnisses ist vorbei. Es ist wieder Zeit für Christa Wolf. Der Einzelne, der sich verraten hat, in den Jahren der großen gesellschaftlichen Versöhnung, als er den Genossen der Bosse wählte, als er glaubte, selbst für freedom and democracy in die Welt ziehen zu müssen, der wird jetzt wohl zu den Büchern der Christa Wolf greifen, die sich auch vertan hatte, als sie glaubte, vernünftig sein zu müssen im Dienste der Sache. Er wird das tun nicht auf der Suche nach jemandem, der immer schon wusste, was richtig und falsch ist. Ihn interessieren die Irrtümer der Christa Wolf, weil er gelernt hat, dass es ohne Irrtümer nicht geht und darum interessiert ihn, wie es mit ihnen geht."
An anderer Stelle noch ausführlicher und sinngemäß: wir waren fest entschlossen, uns die Rosinen aus dem Kopf zu picken, uns einzuordnen und die Welt zu nehmen, wie sie ist.

Jetzt aber erkennen wir, dass dasjenige, in dem wir Unterschlupf suchen wollten nicht weniger brüchig ist als damals die DDR. Und dass es -mit Christa Wolf- gilt, nach der Erschütterung des Fortschrittsglaubens, die Grundlagen zu sichern. Die Ausgangspunkte. Was heißt da schon sichern? Wenigstens die Fähigkeit bewahren, nach diesen Grundlagen zu fragen.

Quellen:
• Frankfurter Rundschau, 18.3.2009 Feuilleton: "Das richtige Leben"
• Antonia Grunenberg: Aufbruch der inneren Mauer/ Politik und Kultur in der DDR/ Edition Temmen, 1990

Weiler: Mahnwachen gegen Nazizentrum eingestellt

Die "Linde" in Schondrof - Weiler
Foto: Thomas Trueten / Umbruch Bildarchiv
Seit Jahren veranstaltet das Bündnis Weiler schaut hin e.V. eine Mahnwache in Weiler (Schorndorf), nahe Stuttgart, gegen ein dortiges, überregionales Nazizentrum. Mit einer Pressemitteilung vom 30.11.2011 erklären die Initiative „Rems-Murr nazifrei!“ und Weiler schaut hin! e.V. die Mahnwachen für (vorerst) beendet:

Etappenziel erreicht: Wir stellen unsere Mahnwachen vor dem Nazitreffpunkt „Linde“ in Schorndorf-Weiler bis auf Weiteres ein!

In den letzten Wochen und Monaten ist es ruhig geworden in der Linde. Dies werten wir als großen Erfolg im Kampf gegen den Nazitreffpunkt „Linde“ in Schorndorf-Weiler. Nicht zuletzt durch unseren unermüdlichen Einsatz in Form von Mahnwachen, Demonstrationen, Veranstaltungen und Veröffentlichungen ist es gelungen, die Naziaktivitäten in Weiler zum erliegen zu bringen. Unsere ständige Wachsamkeit, unser ständiges „Hinschauen“ und Handeln haben dazu geführt, dass sich die Naziszene in Weiler offensichtlich nicht mehr wohl fühlt. Und das ist gut so. Aus diesem Grunde stellen wir unsere seit 2006 regelmäßig veranstalteten Mahnwachen vor der „Linde“ in Schorndorf-Weiler bis auf Weiteres ein. Wir werden die „Linde“ und die Nazis im Umfeld des NPD-Funktionärs Jürgen Wehner auch weiterhin im Auge behalten. Sollten wir eine Wiederaufnahme von Neonaziaktivitäten in und um die „Linde“ bemerken, werden wir unverzüglich geeignete Gegenmaßnahmen in die Wege leiten.

Bedanken möchten wir uns an dieser Stelle bei allen Unterstützerinnen und Unterstützern, die mit uns in den vergangenen fünf Jahren gegen den Nazitreffpunkt „Linde“ gekämpft haben.

Rückblick auf die letzten fünf Jahre

2006:
Im Sommer 2006 kauft das bekennende NPD-Mitglied Jürgen Wehner die Immobilie „Linde“ in Schorndorf-Weiler. Der Neonazi lockt mit günstigen Bierpreisen. Es wird erkennbar, dass sich die rechtsradikale Szene in der „Linde“ trifft. Auslegung von Nazipropaganda und abhalten einschlägiger Schulungsveranstaltungen. Gründung eines überregionalen „Patriotischer Stammtisch“ in der „Linde“. Umschlagplatz für Nazipropagandamaterial für die ganze Region und darüber hinaus. Im Herbst 2006 gründet sich die Bürgerinitiative „Weiler schaut hin!“ mit dem Ziel, die Nazikneipe aus Weiler zu verbannen. Seit Ende 2006 werden monatliche Mahnwachen vor dem Nazitreffpunkt „Linde“ veranstaltet.

2007:
Es kommt immer wieder zu Nazigegröle in und um die „Linde“, bis hin zu skandieren des Hitlergrußes. Es werden Schulungsveranstaltungen und Musikveranstaltungen mit rechtsextremem Inhalt veranstaltet. Es werden Hitlerporträts ausgehängt und es kommt zu Gewaltandrohungen. Der Polizei gelingt es kaum, den Linde-Gästen rechtsextremistische Straftaten nachzuweisen. Der „Linde“-Besitzer Jürgen Wehner wird wegen Urkundenfälschung und unerlaubtem Waffenbesitz rechtskräftig verurteilt. Am 15.12.2007 demonstrierten über 500 Menschen in Weiler gegen die Nazikneipe „Linde“. Auch im Jahr 2007 wurden unsere monatlichen Mahnwachen vor der „Linde“ abgehalten.

2008:
Es kommt zu mehreren rechtsextremen Konzertveranstaltungen in der „Linde“ und an nahegelegenen Baggerseen. Die Polizei erteilt Platzverweise und ermittelt wegen Volksverhetzung.
Durch unseren unermüdlichen Widerstand konnte erreicht werden, dass dem NPD-Funktionär Jürgen Wehner die Konzession entzogen wurde und der „Patriotische Stammtisch“ somit nicht mehr stattfinden konnte. Somit war der Linde der öffentliche Raum entzogen.

"Die Leute fühlen sich hier nicht mehr wohl", begründet der Wirt, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, das stark nachlassende Interesse. Deshalb sei er zusammen mit einem der Stammtisch-Initiatoren, dem früheren Waiblinger NPD-Kandidaten bei Bundes- und Landtagswahlen, Roberto Kurze, überein gekommen, die Veranstaltung nicht mehr stattfinden zu lassen.
Auch nach dem Konzessionsentzug bleibt die „Linde“ ein Treffpunkt der rechtsradikalen Szene. Bei der Bundestagswahl wurde sie als Verteil-Zentrum für Flugblätter und Plakate für die NPD genutzt.
Im Herbst 2008 wird die Bürgerinitiative „Weiler schaut hin!“ in einen gemeinnützigen Verein namens „Weiler schaut hin! e.V.“ umgewandelt.
Das ganze Jahr über fanden die regelmäßigen Mahnwachen gegen den Nazitreffpunkt statt.

2009:
Regelmäßige Treffen der rechtsradikalen Szene in der „Linde“. Veranstaltung von monatlichen Mahnwachen gegen den Nazitreffpunkt „Linde“.

2010:
Im Februar 2010 kommt es zu Übergriffen von Neonazis auf Teilnehmer der Mahnwache gegen die Naziaktivitäten in der „Linde“. Bei diesen Vorfällen wurde von Neonazis versucht, gewaltsam eine genehmigte Versammlung zu verhindern. Es wurden Mahnwachenteilnehmer körperlich angegriffen, beleidigt und beschimpft. Es wurden von den Neonazis Gegenstände des Vereins beschädigt. Wir haben erkannt, dass wir alleine nicht gegen die Neonazis bestehen können. In der Folge kommt es zur Vernetzung mit anderen antifaschistischen Gruppen aus dem Großraum Stuttgart. Früher waren zwischen fünf und 15 Leute bei den Mahnwachen gegen die „Linde“, nun nehmen an den monatlichen Mahnwachen zwischen 20 und 70 Personen teil.
Am Rande einer Mahnwache im Oktober 2010 kommt es zu Störungsversuchen aus dem Umfeld der „Linde“. Mahnwachenteilnehmer werden mehrfach beleidigt und es wurde Gewalt angedroht, unter anderem mit den Worten „Ich komme gleich mit meiner Axt“ und Parolen wie „Ausländer raus“. Die Polizei nahm entsprechende Ermittlungen auf und die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren mit der Begründung ein, dass es kein ausreichendes öffentliches Interesse gibt.
Im November 2010 demonstrieren 300 Menschen in Weiler vor der „Linde“ gegen den Nazitreffpunkt.

2011:
Im Februar 2011 fand die Verhandlung gegen die Neonazis und Mahnwachenangreifer Nicki Udo Öhme und Michael Weber statt. Öhme wurde Beleidigung in mehreren Fällen und Verstoß gegen das Versammlungsgesetz vorgeworfen. Michael Weber wurde wegen Beleidigung und tätlichem Angriff angeklagt. Beide legten in allen Punkten ein Geständnis ab. Öhme wurde zu fünf Monaten Gefängnis ohne Bewährung und Weber zu fünf Monaten auf Bewährung und 1000 € Geldstrafe verurteilt.
Im April 2011 demonstrierten über 1300 Menschen in Winterbach gegen einen rechtsextremistischen Brandanschlag (fünffacher Mordversuch) und ziehen vor den Nazitreffpunkt „Linde“ in Weiler.
Bis Ende Juli finden die monatlichen Mahnwachen vor der „Linde“ statt.
Die Lage in und um die „Linde“ entspannt sich.


Wir haben viel erreicht. Das ist jedoch kein Grund stillzuhalten und wegzuschauen. Die Linde ist weiterhin in Nazihand und bietet den Faschisten in der Region immer noch einen Anlaufpunkt.

Inzwischen ist herausgekommen, dass die Faschisten um die NPD noch weitere Treffpunkte und Versammlungsorte im Rems-Murr-Kreis nutzen. Aktuelle Beispiele finden sich in Korb und Aspach.

In den nächsten Wochen und Monaten werden wir verstärkt diese weiteren Brennpunkte der Naziszene im Rems-Murr-Kreis ins Visier nehmen, denn wir dulden ihre Machenschaften nirgendwo! Nicht in Weiler, nicht in Winterbach, nicht in Korb, nicht in Aspach oder anderswo.


Faschismus war und ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!
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