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Noch einmal Habermas: Der schöne Schein und die böse Welt

Habermas 2007 an der Hochschule für Philosophie München
Foto: Wolfram Huke
Lizenz: CC-BY-SA-3.0
Habermas hat überraschend sich geäußert zu dem, was Schirrmacher schon in der FAZ gemeint hat. In barbarischer Kürze zusammengefasst: Wenn heute einer Demokratie sagt, greifen sie im Herrschafts-Casino zu den Revolvern.

Der Philosoph äußert sich ähnlich. Und recht haben beide, wenn sie daran erinnern, dass wir nach dem Krieg aufgewachsen sind im beruhigenden Gefühl, die Zeiten der Diktatur seien vorbei. Wir hätten auf jeden Fall, was auch passieren mag, Demokratie an unserer Seite. Demokratie - verstanden als eine Sammelvorstellung, bei der Schutz der eigenen Rechte irgendwie zusammenginge mit Willensäußerungen aller. Also Rechtsstaat mit Regierungskontrolle, was nicht das gleiche ist. Wirksame Willensäußerungen geäußert nach verbindlichen Vorschriften.

Wie ist uns das abhanden gekommen? Ab wann haben wir das bittere Brot der Erkenntnis gänzlich eingespeichelt und heruntergeschluckt, dass - angeblich - gute Absichten oft zusammengehen mit brutaler Entmächtigung anderer. Allerspätestens nach dem Jugoslawienkrieg, als gerade die anerkanntesten Tugendbolde einen Angriffskrieg billigten. Und war es damals nicht auch Habermas, der - gewunden - das Unternehmen guthieß?

Kurz gesagt: seit der Zeit können wir nicht mehr unbefangen die Taten des mürben Sünders Papandreou preisen, der am Ende seiner Tage durchaus machtpolitische Ziele verfolgt. Und dabei anerkannte Ideale aufruft - etwa 35 Stunden lang. Wenn ich recht gerechnet habe.

Was folgt daraus? Der Schrei nach Demokratie kann nicht einfach verstummen- zugunsten der Anerkennung der Diktate einer Merkel und eines Sarkozy. Es reicht dann aber auch nicht aus, der Entschwundenen nachzuweinen und das Taschentuch hinter ihr her zu wringen.

Gefordert wäre: Erkenntnis der brutalen Zwänge, die im Namen von Demokratie beliebigen Menschengruppen auferlegt werden. Und Härte: Härte, zu erkennen, welches noch viel größere Elend ertragen werden muss, welche Gefahren riskiert, um den Aufstand zu wagen gegen die unterdrückerische Nicht-Demokratie. Wie sie in Griechenland und bei uns seit Jahren herrscht - mit und ohne Volksabstimmung.

Habermas müsste auf seine alten Tage die Kraft aufbringen, die wir uns selbst nicht mehr zutrauen. Auffordern zu einer Subsistenzwirtschaft in Griechenland ohne große äußere Zuschüsse. Zu selbsterprobten und kämpferischen Zusammenschlüssen gegen die eigene Obrigkeit. Zu Steuerverweigerung und offener Sabotage gegen die Machenschaften der Zerstörer von Demokratie, wie sie sich heute überall als die Rechtmäßigen aufspielen.

Hat ein Habermas die Kraft heute noch dazu aufzurufen? Habe ich die Kraft? Habe ich auch nur das Recht dazu, da ich doch außerhalb stehe.Ohne Handlungsnotwendigkeit, ohne unmittelbares Gefordertsein durch die Situation. Unterm Schutzdächlein des scheelen Beobachters.

Ich habe sie nicht. Und so bleibt - meiner Meinung nach - nur das betretene Beiseitestehen. Der gelähmte Blick des ewigen Zuschauers. Das Ersticken des aufsteigenden Wutschreis in der eigenen Kehle.

Das beschämte Schweigen. Und ein Habermas kann auch nicht mehr, als an die Schande zu erinnern. Ohne sie von uns wegnehmen zu können.

kritisch-lesen.de Nr. 11 - "Debatten und Praxen des Anarchismus"

Am 1. November erschien die 11. Ausgabe von kritisch-lesen.de. Schwerpunkt diesmal: "Debatten und Praxen des Anarchismus".

Schwerpunktmäßig geht es in acht von insgesamt zwölf Rezensionen um Debatten und Praxen des Anarchismus. Die elfte kritisch-lesen-Ausgabe ist der erste Teil eines (vorläufig) zweiteiligen Schwerpunktes zum Thema Anarchismus. Er ist auch der erste Schwerpunkt, der überwiegend von Autor_innen aus dem Autor_innen- und Sympathisant_innen-Kreis (ASK) geplant und zusammengestellt wurde. Der zweite Anarchismus-Schwerpunkt -“ soviel sei vorweg verraten -“ wird im April 2012 erscheinen und sich mit „Zeugnissen“ des Anarchismus beschäftigen. Darunter verstehen wir (Auto)biografien, Memoiren, Werksammlungen, Tagebücher, etc. Die erste Anarchismus-Ausgabe beschäftigt sich mit vielerlei unterschiedlichen Debatten und Praxen des Anarchismus und ist ebenso pluralistisch und heterogen wie der Anarchismus selbst.

Den Beginn macht Sebastian Friedrichs Rezension Sehhilfe für Vielschichtigkeit des Anarchismus über das Buch Hier und Jetzt von Uri Gordon. Das Buch und die Rezension nähern sich der gegenwärtigen anarchistischen Bewegung im Kontext der globalisierungskritischen Bewegung von vielen verschiedenen Richtungen und Blickwinkeln. Weiter geht es mit einem zweiten Buch voll anregender Reflexionen zum Anarchismus in Theorie und Praxis: Regina Wamper stellt in Verteidigung des Anarchismus Überlegungen zu Gabriel Kuhns Buch Vielfalt -“ Bewegung -“ Widerstand an. Um dem Vergessen weniger bekannter Anarchist_innen entgegenzuwirken, hat der Wanderverein Bakuninhütte e.V. eine Gedenkschrift zu Fritz Scherer veröffentlicht. Sebastian Kalicha bespricht diese Schrift in Der Anarchist und der Alpenverein. Etwas theoretischer wird es bei Gabriel Kuhns Rezension Anarchismus Old School zu Hans Jürgen Degens Buch Das Paradies ist offen, in der Kuhn die Frage stellt, wie innovativ die in dem Buch dargelegten Gedanken tatsächlich sind. Eine historische und theoretische Abhandlung zum Anarchafeminismus -“ einem besonders wichtigen Thema in der anarchistischen Bewegung -“ findet sich in Der doppelte Kampf von Regina Wamper: Sie bespricht das deutschsprachige Standardwerk zum Thema von Silke Lohschelder, Liane M. Dubowy und Inés Gutschmidt. Gabriel Kuhns zweite Rezension Vorkriegsantifa beschäftigt sich mit einem historischen Thema des deutschen Anachosyndikalismus: der anarchosyndikalistischen Arbeiterwehr Schwarze Scharen, die gegen den Faschismus in Deutschland Widerstand leistete. Philippe Kellermann hat schließlich die bahnbrechende Studie zu Bakunins Konflikt mit Marx von Wolfgang Eckhart rezensiert, wobei er nach der Lektüre satter 1239 Seiten zu einer Reihe interessanter Schlussfolgerungen kommt. Wie dieser epochale Aufeinanderprall zweier unterschiedlicher Auffassungen des Sozialismus in einem anderen Teil der Welt tragische Realität wurde und welche Auswirkungen dies hatte, bespricht Sebastian Kalicha in seiner Rezension Bakunin versus Marx auf kubanisch.

Darüber hinaus hat die Redaktion vier weitere Rezensionen zu anderen Themen ausgewählt. Zunächst bespricht Heinz-Jürgen Voß in Vom Gay Pride zum White Pride den von Koray Yilmaz-Günay herausgegebenen Band „Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre -šMuslime versus Schwule-™“, in dem die Autor_innen am Beispiel Berlin rassistische Entwicklungen nachzeichnen, wenn etwa Kriege und Menschenrechtsverletzungen mit dem Kampf für Rechte von Homosexuellen und Frauen begründet werden. Anschließend richtet Fritz Güde anhand des Buchs Die arabische Revolution? von Bernhard Schmid den Blick auf Nordafrika und die Frage, wie sich die Lage dort fern von vorherrschenden Medienberichten darstellt. Adi Quarti geht in Gewalt und Nichtstun Slavoj Zizeks „abseitigen Reflexionen“ zu Gewalt auf den Grund. Schließlich kritisiert Fritz Güde in Entbeintes in Brühe Götz Alys Versuch, den deutschen Antisemitismus aus dem Neid zu erklären.

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