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Nordafrika: Alle verlangen umfassende Menschenrechte! Was davon werden sie kriegen?

Bernhard Schmid liefert mit "Die arabische Revolution? Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten" das Gegenteil einer Prophezeiung. Dafür eine umfassende Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Verhältnisse in Nordafrika, die den Abstand zwischen revolutionärem Anspruch und der Fesselung durch die sozialen Abhängigkeiten zu ermessen erlaubt.

Nächstes Wochenende gibt es eine erste Volksabstimmung in Tunesien für eine neue Verfassung. Dafür hat man Tunesien wieder aus dem Dunkel der Vergessenheit geholt. Wie weit die Schilderungen der gleichen Verhätnisse dort auseinandergehen, mögen zwei Artikel der FAZ der letzten Woche und dieser zeigen.

Der Autor schildert die Region der Phosphatbergwerke, in der alles angefangen hat. Sein Ergebnis: Es blieb alles, wie es war. Dieselben Bosse, die gleichen Löhne - sogar relativ hoch im Vergleich zu noch anderen Gebieten - die gleiche Umweltverödung - die gleiche hohe Arbeitslosigkeit, vor allem für besser Ausgebildete.

Dagegen am heutigen Dienstag im gleichen Blatt ein hoheitsvoller Blick - sehr von oben - auf die gesamtgesellschaftliche Lage im Land. Leider nur nach der Kindle-Ausgabe zu zitieren."Etliche Unternehmen sind nach der Verjagung des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali im Januar von Unruhen heimgesucht worden.Es kam zu Streiks und Sachbeschädigungen, die von Forderungen nach Lohnsteigerungen und besseren Arbeitsbedingungen begleitet wurden." So das kühle Fazit. STREIKS werden als Unglücksfälle angesehen, die in einer Revolution an sich nichts zu suchen haben, nicht als die notwendigen Vollzugsformen einer kollektiven Bewegung.

Wie war es früher? "Regelmäßige Abwertungen des Dinar hielten neben niedrigen Löhnen die Kosten für ausländische Investoren in Grenzen"
Und die Aussichten, nach Meinung des gegenwärtigen Finanzministers? "Am Konsens einer unternehmensfreundlichen Politik wird nicht gerüttelt werden...Wir glauben aber,dass in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres der soziale Druck nachlässt, dann können wir zu schwierigeren Reformen übergehen". Wozu dann überhaupt noch abstimmen, wenn die vorher und nachher Herrschenden alles so gut in der Hand haben.

Und wozu noch nach dem Ergebnis der Abstimmung nächster Woche fragen? Nach dem, was uns der Artikel vom 18.10. zu verstehen gibt, ist alles schon gelaufen. (Alle Zitate nach FAZ-Kindle: Christian Schubert/ Hohe Erwartungen an den tunesischen Frühling)

Bernard Schmids Aufstellungen

Bernard Schmid ist einen anderen Weg gegangen. Er übersieht das ganze Gebiet Nordafrikas von Algerien bis hin zu Ägypten.Er fragt konsequent, aber ohne Sympathie-Übertreibung, nach den Chancen der Unteren, dem Begriff einer wirklichen Revolution nahezukommen. An Stelle der von anderer Seite bevorzugten Prophezeiungen sortiert er nach Einfluss-Mächten. In Kapitel 2 geht er der Rolle der Gewerkschaften nach und zugleich der Bewegungen, die gewerkschaftsunabhängig vorgingen.Sehr wichtig in Kapitel 3 die Analyse der möglichen Rolle der sogenannten "Islamisten". Dann wird nachgegangen der "facebook" Legende. Der Behauptung nämlich, die Gesamtbewegung habe vor allem - und mehr oder weniger ausschließlich - Blogs, Network, Facebook und dergleichen als Grundlage. Dann richtet sich der Blick auf die Rolle der diversen einheimischen Staatsgewalten mit ihren verschiedenen Versuchen, das Ruder in der Hand zu behalten - oder es gleichgesinnten Brüdern weiterzureichen. Sehr wichtig dann die Eingriffe der USA und der EU -rhetorisch, militärisch, propagandistisch. Zwei letzte Kapitel fragen dann nach dem Einfluss der ganzen Bewegung auf Israel und Palästina und nach den mehr oder weniger gewaltsam zurückgeschlagenen Auswanderungsversuchen aus Libyen und Tunesien, nachdem die ursprünglichen Rückhaltungsverträge mit den dortigen Grenzpolizei-Verfügern zwischendurch sich gelockert hatten.

Islamisch orientierte Parteien

Am aufklärendsten vielleicht in Bernard Schmids Buch die genaue Bestandsaufnahme der Ausrichtungen der verschiedenen islamisch orientierten Gruppen. Während hierzulande gleich schaudernd vom drohenden "Islamismus" gesprochen wird, der sich den Berufsgruslern als einheitlicher Block darstellt, unterscheidet Schmid erst einmal nach Ländern. Richtig ist natürlich, dass die religiös orientierten Gruppen in einem Land ohne große Parteientradition einen Vorsprung haben. So die Islambrüder in Ägypten - die En-Nadha in Tunesien. Vor allem in den arabisch-sprachigen Ländern -außer Ägypten- scheint sich dabei ein Modell durchzusetzen, das sich mehr nach dem in der Türkei herrschenden ausrichtete. Der Kampf um die Scharia, in deutschen Zeitungen oft als das schlimmste hingestellt, enthält auch ganz harmlose Zielsetzungen- zum Beispiel für das Bankenwesen. Ohne weiteres ließen sich Banken islamischen Rechts denken auf Teilnahmebasis. Dass dabei der gewöhnliche Zins einfa
ch nach den Tabellen aus New York umgerechnet würde, schafft zwar den Kapitalismus nicht ab,verschlimmert ihn aber auch nicht.Und dass am Anfang der nordafrikanischen Revolten nirgends ein Religionsproblem im Vordergrund stand, wird von Bernhard Schmid noch einmal bestätigt.
Aber die Auseinandersetzungen zwischen koptischen Christen und Muslimen in Ägypten?Darüber sind im Augenblick nur Vermutungen möglich. Es spricht aber alles dafür, dass erst einmal die Kräche angezettelt wurden von Veteranen aus der Mubarakzeit, worauf dann Polizei und Militär brutal Frieden stifteten.Und aus der Zersplitterung der Massen neue Kraft zogen.( Der sehr vertrauenswürdige Leiter einer deutschen Schule in Alexandria erzählte mir selbst von den Ereignissen dort, dass zunächst Muslime und Christen zusammen sich gegen Schlägereien aller Art untereinander wendeten. Bis dann die Obrigkeit die Unruhen hergestellt hatte, die sie eigentlich verhindern sollte).

Bleibt alles, wie es ist?

Bernhard Schmids Fazit - einstweilig - "In Tunesien und Ägypten wurden die Diktaturen durch die Revolten jeweils "enthauptet", also zum Sturz des jeweiligen Staatsoberhauptes gezwungen....Doch unterhalb des bisherigen Hauptes-in Gestalt des gestürzten Präsidenten-und Rumpfes- der bisherigen Staatspartei- bleiben einige Glieder der früheren Staatspartei noch aktiv" (S.46). Vor allem in Ägypten, wo der Generalrat - das Militär - in letzter Zeit mehr Leute eingesperrt hat, als Mubarak in seinen letzten Jahren. Das über reiche materielle Mittel verfügende Militär versucht, durch allerlei Tricks in der neuen Wahlordnung und Verfassung die Macht zu behalten. Schultergeklopft bei diesem Unterfangen durch Westerwelle und andere Helfer aus dem Westen. In Tunesien spielte das Militär eine geringe Rolle, die diversen Geheimdienste und Polizeien eine große. Wie die vergnügten Gewährsmänner der FAZ -siehe oben - versichern, soll auch dort alles so bleiben, wie es ist. Natürlich ohne Diktator.

Die Chancen der Unteren, sich in Tunesien am nächsten Sonntag durchzusetzen, werden im Buch nicht übertrieben. Außer den auch wieder neu zur legalen Partei zusammengetretenen Muslimen gibt es allen Ernstes 101 Gruppen, die sich zur verfassunggebenden Versammlung zusammengefunden haben. Darunter ausgesprochen linke Gruppen! Auch solche, die von den Parteien des französischen Gebietes mehr oder weniger patronisiert werden sollen. Der Ausgang bleibt offen.

P.S.: Die Stämme. In letzter Zeit wird in Bezug auf Libyen, aber auch auf Tunesien, immer wieder von Stämmen geredet. Romantikern tritt Karl-Mayliches in den umwölkten Sinn. In der Bedeutung eines Zusammenhangs der Geburt gibt es solche Stämme auch in Libyen selten. Was allenthalben Stamm genannt wird, ist oft nicht mehr als Patronatszusammenhang, nach Wohnorten gegliedert. Patron - frz. Chef. Der Chef eines Gebietes - der einzige Fabrikant oder Großgrundbesitzer formt aus den wirtschaftlich Abhängigen eine Gruppe, die mehr oder weniger tatkräftig - zuweilen auch prügelfroh - zu ihm steht. Wer Böses im Hinterkopf hegt, darf auch an Mafia denken. Die ganze Erscheinung dient zur Erstellung von Gefolgschaften über Personenfixierung. Und erzeugt zunächst einmal ein gesellschaftliches Parzellenwesen. Schwer zusammenzuhalten.

Bernhard Schmid: "Die arabische Revolution? Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten"
Edition assemblage Oktober 2011
120 Seiten
ISBN-10: 3942885026
ISBN-13: 978-3942885027

Umberto Eco: Zettelkasten als Schießanlage - zur Buchmesse

Lauter Vermutungen, keine Besprechung

Es scheint ja Mode zu werden, dass die Autoren etwas ganz anderes im Sinn haben, als sie dem Schein nach vorführen. So soll es La Roche um die Schilderung eines verhängnisvollen Autounfalls gegangen sein - und die Geißelung der medialen Behandlung danach. Darübergeraspelt dann  als Trüffelspur die erwartete Ration Sex, damit das Buch ins Schema passt.

So ähnlich scheint es auch Umberto Eco zu halten. Dem öffentlichen Vorgeben nach soll es noch einmal gehen um die Entstehung der "Protokolle der Weisen von Zion". Nur hat Eco darüber in einem langen Essay vor Jahren schon viel übersichtlicher geschrieben.  Der Kern der Sache kommt zwar auch wieder im Roman zum Vorschein: dass einer, der etwas Antisemitisches schreibt, noch lange kein Antisemit der Herzensneigung nach sein muss. Sondern vor allem Opportunist. Mitstinker unter den Röchelhyänen seiner Zeit. Was könnte am ehesten passieren und passen? Nur - warum noch einmal 550 Seiten ausgeben, um das zu wiederholen?

Auch Ecos eigene Erfindung im vorliegenden Werklein - die Spaltung des Hauptfälschers in zwei Personen, die vergessen haben, was sie schon anstellten und wen sie auf dem Gewissen haben, reißt nicht vom Hocker. Man kapiert allzuschnell, dass die beiden eins sind. Zur Erklärung dieses Umstands wird in den ersten Kapiteln ein gewisser Doktor Fröid eingeführt, der Winke zum sogenannten Verdrängen ausgibt.

Warum der Umweg über das verschollene Protokoll der "Juden von Prag"? Verdacht: Es ging dem gelehrten Autor gar nicht um diesen Plot. Auch nicht um die Serien von Speisen, die zwischendurch immer gereicht werden - oder die Titel höllischer Exzellenzen, von denen bei einer Anrufung keiner vergessen werden darf. Über drei Kindle-Seiten lang. Vermutung: Es ging hauptsächlich darum, in historischer Verkleidung die gegenwärtigen Läufe und Irrläufe der Politik nachzuzeichnen. In Italien und ganz Europa.

So gewinnt die Handlung zum ersten Mal halbwegs Spannung, als der Geheimdienst des Rumpfstaates Italien-Piemont bei der Hauptfigur Simonini immer neue Verbrechen bestellt. Kaum meldet sich diese - angeblich ein Hauptmann - lobesbereit, wird sie fertiggemacht. Nicht etwa, weil am Service etwas fehlte - die Toten bleiben tot, und nichts weist auf die Dienste hin - sondern weil der Geheimdienst seine eigenen Pläne nicht auseinanderhalten kann. Immer haben sich die Umstände geändert. (Vergl S.167 ff) So sollen die Abrechnungen des einzigen ehrlichen Mitglieds in der Garibaldi-Verwaltung verschwinden - sie verstießen zu auffällig gegen die abgelieferten anderen. Dazu wird bedenkenlos ein ganzes Schiff versenkt. Kein Lob  für den Untergangs-Ingenieur. Schließlich könnte man im Nachfragen nach dem untergegangenen Schiff auf den letzten Aufenthalt des mitersoffenen Nievo kommen, darüber auf die Freundschaft mit unserem Hauptmann Simonini - und darüber auf Verbindungen mit der königlichen Regierung. Normalerweise wurden damals wie heute so unbequeme Zeugen einfach liquidiert. Da aber der Roman weitergehen muss, wird Simonini nach Paris versetzt. Und fälscht dort gewissenhaft Angefordertes. Das sagt wohl weniger über die Intrigen des neunzehnten Jahrhunderts als viel mehr über die bedenkenvolle Bedenkenlosigkeit des Systems Berlusconi. Verbrechen? Jederzeit - und gern! Ziele beibehalten - oh je! Entdeckt werden? Auf alle Fälle Spuren verwischen!

Bekanntlich gehört Eco in seinem Vaterlande selbst zu denen, die sich der Versuchung nie entzogen, auf dem Regierungs-Chef herumzuhacken. Wird es zu langweilig, offenliegende Wunden mit hundert anderen noch einmal aufzupicken - versteck Deine Attacke in etwas, das man wohlwollend auch Roman nennen kann. Und Du hast Deine Sonderstellung gerettet.

Der Angriff auf die Gegenwart - nicht des Zaren, aber die des noch oben befindlichen Universal-Betrügers - wird vor allem in der Zitatenfolge der Schlussempfehlung der "Protokolle" an den russischen Ankäufer spürbar. Da heißt es etwa:

"als angebliches Zitat aus den "Protokollen": Um die Massen daran zu hindern, sich eine eigene politische Meinung zu bilden, werden wir sie mit Vergnügungen, Spielen, Leidenschaften und Volkshäusern  ablenken und zu Wettbewerben in Kunst und Sport aller Art einladen... Wir werden den Wunsch nach ungebremstem Luxus anstacheln,und wir werden die Löhne erhöhen,was aber den Arbeitern keinen Vorteil bringen wird,da wir zur gleichen Zeit die Preise der notwendigsten Lebensmittel erhöhen werden unter dem Vorwand schlechter Ernten... Wir werden versuchen, die öffentliche Meinung zu allen Arten phantastischer Theorien hinzulenken, die irgendwie fortschrittlich oder liberal erscheinen könnten" (S.488ff)

Wozu passt das eher? Zu einem Russland, in dem wenig Arbeiter lesen konnten - oder zum Zustand Italiens mit drei Privatfernsehen in Berlusconis Hand und einem öffentlichen unter der selben Verfügungsgewalt?

Der Antisemitismus wird dem Ankäufer für den Zaren als Zugabe geliefert, steht aber keineswegs im Zentrum dessen, was der Generalfälscher einem jeden System anpreist, welches mit vollem Recht seinen Untergang voraussieht und unter allen Umständen aufschieben will.

Oder: "Was die Zeitungen angeht, so sieht der jüdische Plan eine scheinbare Pressefreiheit vor, die zur besseren Kontrolle der Meinungen dient. So sagen unsere Rabbiner, dass es darum gehen wird, möglichst viele Periodica zu erwerben, oder selbst zu gründen, die verschiedene Meinungen ausdrücken, so dass die Leser denen vertrauen, die scheinbar ihrenMeinungen nahestehen, ohne zu bemerken, dass in Wirklichkeit alle die Meinung der jüdischen Herrschenden wiedergeben...". (S.489 ff) Hier bleibt die Satire etwas zurück hinter den gegenwärtigen Zuständen. Auf jeden Fall funktioniert das Vorgehen auch ganz ohne Juden und Rabbiner vorzüglich - Nicht nur in Italien

Warum nur das umständliche Versteckspiel? Steht es in unserer Zeit schon wieder so, dass die niederschmetterndsten Kopfnüsse für jede Staatsgewalt nur in Velours verpackt abgeliefert werden dürfen?

Roman, 528 Seiten

"Der Friedhof in Prag: Roman" (Kindle Edition) EUR 19,99

"Der Friedhof in Prag: Roman" (Gebundene Ausgabe) EUR 26,00
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