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Noch einmal: "L‘insurrection qui vient"

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Das "Manifest" des "Unsichtbaren Komitees" hat eine furchtbare Abfuhr erlitten. Erst in der "taz", dann noch einmal in "jungle-word". Eins trifft den Kritiker ins Mark: Was er da lesen muss, ist nicht links. Ist der Besorgte selbst es denn?

Gerüchten nach schwelgt und schwebt er im Umkreis der SPD. Am Ende zitiert er als Gründungsdaten, die ihn selbst betreffen, 1789. Leider hat er nicht wie alle braven Freiheitsfreunde ein Datum angegeben, ab dem die "sans-culottes" ihm nicht mehr so gefallen. Vermutlich - nach seiner Neigung zum gedämpften Trommelklang zu schließen - als die "Jakobiner" auftauchten. Das geschah allerdings kaum ein paar Monate später.

Ob die Verfasser der "insurrection" ihrem Kritiker nun links genug sind oder nicht - seine Widerlegung ist vor allem eines: Nichtssagend.

Carl Schmitt und Martin Heidegger, wie inzwischen auch die FAZ bestätigt, kommen im ganzen Text nicht vor. In der Zweitfassung seiner Erledigung in "jungle-world" hat der offenbar mehrfach angekickte Autor wenigstens seine Assoziationen erklärt. Der - sehr alt gewordene Schmitt - hat auch einen Aufsatz über "Partisanen" geschrieben, der seinerzeit auch von linken Autoren - wie Joachim Schickel - mit Interesse zur Kenntnis genommen wurde. Schmitt sollte der "Partisan" zum Beweis dienen, dass auch ohne militärische Hierarchie ein Zusammenfinden einer Gruppe möglich ist, die sich einer anderen gegenüber zum Feind erklärt.

Damit greift Schmitt auf die Notwendigkeit einer Freund-Feind-Erklärung aller Politik zurück, wie er sie schon in der Weimarer Republik entwickelt hatte. Ohne den Feind an sich als einen von Natur aus gegebenen sichtbar zu machen. Diesen Fehlschluss fügte er erst unter der Nazi-Diktatur seinem Denken zu, indem er bedenkenlos den "Feind an sich" -" den von Natur aus" im Juden erkennen wollte. Und wer -wie ich anfangs - diesen Dreh dem absoluten Herrschaftswillen und Opportunismus Schmitts zuschreiben wollte, las fassungslos in den "Corollarien" -Tagebüchern - nach 1945, dass er am Antisemitismus so erbittert festhielt, dass er den zitierten jüdischen Gelehrten unbarmherzig ihre jüdischen Namen unterschob, wie das zu Nazizeiten Pflicht, inzwischen aber verjährt und lächerlich geworden war. Selbst ein geistiger Vorfahre des autoritären Schmitt, der Altpreuße Stahl, bekam nebst einigem Tadel auch seinen Namen angehängt.

Wozu das alles? Der gelehrte Kritiker, der sicher einiges von Schmitt reingezogen hat, rechnet damit, dass die Leserschaft gerade noch "NS-Jurist" im Kopf hat und pflichtgemäß die Nase hochzieht. Gerade von der fanatischen Staatsbejahung Schmitts- seinem Haupttheorem- ist in der ganzen Ankündigung "Der kommenden Revolution" kein Wort zu finden. Die Methode ist bekannt. Man beschreibt einmal kurz Palästinenser als "Heimatvertriebene". Aha, eine Art Sudentendeutsche. Kennen wir. Jede Verantwortung fällt von der Seele. Assoziatives Antippen statt jeder Kenntnisnahme.

Soviel zum hier produzierten Torf. Auch härteste Pressung wird ihn nicht zum Anthrazit verwandeln.

Den Thesen der "L-˜insurrection qui vient" selbst sind vielleicht noch drei Anmerkungen nachzuschicken.

1. Tatsächlich entwickeln die Autoren nirgends einen "Masterplan" zum Siegeszug. Freilich gleiten sie von einer Alpenspitze im Abendlicht zur nächsten - und vernachlässigen eins: Die unabsehbaren Niederlagen, die alle von ihnen gepriesenen Erhebungen seit der Commune 1871, ja seit den Bauernkriegen und dem Aufstand des Spartacus erlitten haben. Der gegenwärtige Aussichtspunkt in der Höhe muss aber als einer verstanden werden, der einen unendlichen Scherbenhaufen zur Grundlage hat.

Die einzig wahre Erkenntnis der verschiedenen Postmodernen muss auch hier festgehalten werden. Es gibt keinen linearen Fortschritt. "Es hat erst angefangen/ wir werden immer mehr" bleibt kurz flackernde Empfindung, keine Erkenntnis.

An dieser Stelle lässt sich Benjamins Forderung einsetzen: Nicht um der künftigen Generationen willen kämpfen (wie CDU/SPD/FDP es nach den Berichten aus dem Bundestag auch heute wieder tun wollen), sondern um den zusammengebrochenen Vorgängern die Treue zu halten. Was haben die davon? Knochen, Asche und Ruinen - sie bleiben, was sie sind. Auferstehung entfällt. Nicht aber Gedächtnis und Erinnerung. Der Wille, zu Ende zu führen, was den Vorigen aus den Händen geschlagen wurde, gibt keine Wegweiser. Aber Spuren, denen nachzugehen wäre. So von den Bauernkriegen: Nie das Misstrauen verlieren gegenüber allen Schlichtungen, Schwüren und Friedensversprechungen der Obrigkeit.

2. Die Frage nach der Wahrheit gemachter Aussagen ist im Text der "L-˜insurrection qui vient" vielleicht zu schnell abgetan. Hier wäre Debord den späten Lesern noch einmal zum Verzehr anzubieten. Was Debord "Spectacle" nennt, durchzieht die ganze wahrnehmbare Welt. Es ersetzt fortwährend den Sachverhalt durch ein "Als ob". Genauer genommen: Es werden Tag für Tag Behauptungen aufgestellt, die das Vorhandensein eines vertrauten Ganzen immer noch suggerieren. Über die Floskel von den "kommenden Generationen" wird den verängstigten Hören suggeriert, es gäbe irgendwo ein Ganzes der Generationenfolge, dem wähnend selig man sich anvertrauen könne. In Wirklichkeit wird durch die Realfolge der vorgeschobenen Scheinhandlungen immer neu zerstört, was etwa als Zusammenhang noch übrig geblieben wäre.

Problem hierbei: Gibt es einen Kern in der Zwiebel? Ein Bleibendes hinter allen Häutungen? Manchmal hat man bei Debord den Eindruck, es müsse beim Kernsatz des Idealismus bleiben, wie Lenin ihn im Satz Berkeleys erkannt hat: Esse est percipi. Das Sein (eines Phänomens) besteht nur darin, dass es von jemand wahrgenommen wird. Damit wäre dem Materialismus endgültig, wie mürrisch auch immer, Adieu gesagt.

Dabei kann es nicht bleiben. In Anmerkungen gerade zu den italienischen Bewegungen nach 68 macht Debord immer wieder deutlich, dass eines durch Schein nicht ersetzt werden kann: Die Selbstempfindung des menschlichen Leibes. Sein Aufjauchzen, sein Schmerz. In der intensiven Zusammenarbeit während der Streiks - in der realen Kooperation - tritt ein Gemeinsames zutage, in das kein Schein sich hineinzwängen kann.

Dieses körperliche Zusammenstehen sollte - meinem Eindruck nach - bei den Autoren der "L-˜insurrection qui vient" an die Stelle treten, wo sie ohnmächtig und trotz allem schwächlich das bloße kollektive Reden eingesetzt haben. Alle Rede in Ehren. Aber sie muss sich auf etwas beziehen, was vor der Rede liegt: Das körperliche kampfbereite arbeitserfahrene Zusammenstehen.

3. Das andauernde Handgemenge innerhalb der weltbeherrschenden Netze, bis sie reißen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass während der Auseinandersetzung alle Garantien ausgenützt werden müssen, die - wenigstens - versprochen wurden. Wie das in den einschlägigen Prozessen ja offenbar in Frankreich auch getan wurde. Alles benutzen, nur an nichts glauben. Das heißt: Sich eine Sache gegenseitig klar machen: Nichts hält. Keine Garantie bietet Verlässlichkeit. In der Not werden Menschen auftreten, die merken, dass die subtilen Netze der Verfügung über die Welt reißen. Und werden als Merkels und Guttenbergs und Kompanie noch einmal die eigene Person aufrecken, um als Retter zu erscheinen. Erst dann - und genau dann - wird die offene Absage an die Versprechungen aus besseren Zeiten ihren Platz finden. Sonst klappt die Aussonderung, die Ghetto - Einweisung der Aufsässigen zur Unzeit. Zu schnell.

Mit diesen - sicher nicht ausreichenden Anmerkungen - lässt sich mit dem "Manifest" nicht siegen. Aber es lässt sich ein Kampf auch ohne Zuversicht aufnehmen. In einer Perspektive hinab in die Tiefen der Vergangenheit und voraus in eine niemals zur Ruhe kommende Zukunft.


Ein notwendiger Nachsatz:

In der "taz", aber auch verschiedenen anderen Blättern, kommen sie über das Sittliche nicht hinaus. Vor allem nicht über die vorgeschriebene antifaschistische Entrüstung. Dabei kann es kein Einwand sein gegen die Übel dieser Welt, dass andere sie auch wahrgenommen haben. Höchstens kann vorgebracht werden, dass die bisher versuchten Mittel den Höllensturz nicht verlangsamten. Farizadeh in der taz legt jetzt noch einmal nach.

Und begnügt sich mit der Aufzählung rechter Übereinstimmungen. Dass aber Schwarze zum Beispiel  sich mehrfach gegen das Ghetto erhoben, in welchem sie sich eingesperrt vorfanden, kann nichts gegen die Existenz dieses Ghettos besagen. Auch nichts gegen seine Verwerflichkeit. Einiges allerdings gegen die zu heftige, zu blinde Methode, in einem Anlauf gleich alles beseitigen zu wollen.
Interessanter, aber zugleich enthüllender die Herleitung der Gedanken des "comité" von entsprechenden Ernst Jüngers in seiner "kontemplativen Phase".  ("Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk").

Im "Waldgänger" - lang nach den kriegerischen Wallungen - will Jünger tatsächlich "Anarch" werden. Um Gottes Willen nicht Anarchist. Sein Haupttrick: Sich nichts anmerken lassen. Er tat alles "was die anderen taten. So lebte er hin". Womit Büchners "Lenz" endet, damit beginnt Anarch Jünger. Und so setzte er sein Leben fort - ließ sich von den Mächtigen dieser Erde bis zum Hundertsten hofieren und bekam schildkrötenen Frost auf die Lippen. Er beteiligte sich an nichts. Allenfalls an der zweimaligen Betrachtungen des Halleyschen Kometen in einem einzigen Leben. Haben bisher die wenigsten geschafft.

Insgesamt -zum Trost der Kommentatoren - der schnellste Weg vom Anarch zum Schnarch. Trost - weil dann von den neuen Anarchisten auch nichts Gefährlicheres zu erwarten sein soll.
Nur - die raschelnden Abwehrgeräusche  der Verängstigten sagen anderes. Wie, wenn den Gedanken doch Taten folgen sollten - und den Niederlagen nach diesen andere, fundiertere Ansätze, mit angespannterer Sprungweite?

Die Angst steigt aus den Poren und stinkt weithin.


Siehe auch: "L-˜insurrection qui vient" - An der Bahnsteigkante knapp vor "Ankunft der Revolution"


Das Buch kann als PDF Datei herunter geladen werden, auch im französischen Original sowie in einer englischsprachigen Übersetzung. Wer es lieber als Printausgabe lesen möchte, kann es beispielsweise hier bestellen.

"L' insurrection qui vient" - An der Bahnsteigkante knapp vor "Ankunft der Revolution"

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Einige Anmerkungen zu "L-˜insurrection qui vient". Für ein endgültiges Urteil reicht die flüchtige Befassung nicht aus. Das Werk sollte auf jeden Fall breit diskutiert werden.

Das in Frankreich schon lange kursierende Manifest zur neuen - ganz anderen - Revolution ist in den letzten Tagen zugleich eindringlich besprochen worden im FREITAG - und sehr von oben herab in der Frankfurter Rundschau. Vor allem berichtet die FR gar nichts von dem, was FREITAG gewissenhaft ausbreitet. Nach französischem Muster scheint es inzwischen - zumindest in Berlin - in linken Buchhandlungen schon Durchsuchungen zu geben, um die dünne Broschüre als potentielle "Aufforderung zur Gewalt" der Neugier deutscher Leserinnen und Leser zu entziehen. Nichts lächerlicher, aber auch nichts gefährlicher als solche Versuche, die gut gepolsterte staatliche Hand über Mund, Ohr und Auge zu legen.

Mit dem gleichen Recht könnte man auch das "Kommunistische Manifest" mal wieder verbieten. So unerbittlich beide Schriften die Notwendigkeit der revolutionären Erhebung beweisen, so wenig handwerkliche Anweisungen zu ihrer Durchführung enthalten sie. Zum Beispiel zum Hakenwerfen gegen Elektro-Leitungen oder zum "Schottern". Hinzu kommt, dass beide Werke seit geraumer Zeit aus dem internet herunterzuladen sind, nach Wunsch auf Deutsch oder Französisch. Staatliche Fürsorglichkeit kommt auf jeden Fall zu spät.

Der Text beginnt mit schärfster Analyse der Gesamtkrise. Mit einem Ohr aus dem Fernseher die Schlingenziehung  und Selbsteinwickelung der GRÜNEN in Freiburg verfolgend, gewinnt für den Leser die pointierte Zuspitzung erst vollen Reiz.

Wie La Rochefoucauld, Retz und andere unvergessene Schriftsteller schon des Barock beschäftigen sich die anonymen Autoren mit dem menschlichen Zusammenleben. Analyse und Beschreibung. Der Beiname "Moralisten" der Gruppe  erzeugt im Deutschen die irreführende Assoziation, es gehe bei diesen Überlegungen um "Moral". Also um Wegweisung. Um die geht es diesen Beschreibern am wenigsten. So haben auch die Anonymen sich schon im Stil vor allem an einen der letzten französischen Moralisten- Debord mit seinem Buch über das "specctacle" gehalten.

In mindestens drei Punkten gehen die Herausgeber über die Feststellungen auch eines Debord hinaus. Wird von den meisten Lebenskünstlern hier wie im Nachbarland eine Art sanfter Gefälligkeit in der Wahl der Lebensformen vorgeschlagen, nach den Regungen unseres "Ich", weisen die Texte nach, dass dieses Ich - von Descartes zu Beginn der Neuzeit als die Grundlage des uns gegebenen Seins gepriesen -, nur noch über hundert Prothesen sich erhalten und bewegen kann. Allerlei Begriffe aus den Hilfswissenschaften müssen herhalten, damit wenigstens die Ich-Illusion durchhält. So etwa Aufstiegswillen und Geltungssucht  als Natur-Konstanten. Wir haben uns deren nicht zu schämen, sondern dem tüchtig zu folgen, was Natur uns vorschreibt. Die der "res cogitans" einst von Descartes versprochene Erkenntnis entfällt dabei komplett.

Scharf auch die Vernichtung aller sozialen Bindungen in den Papieren. Alles Soziale ist nicht nur zur Ware geworden, sondern wird auch als solche eingetrieben von denen, die Arbeitsplätze zuzuweisen haben.Die Freundlichkeit der Sekretärin gegenüber gewissen Personen wird ebenso Pflicht wie abweisendes Verhalten gegenüber betrieblich nicht Vorgesehenen.Alles abrufbar und der Kontrolle ausgesetzt.

Schneidend schließlich die Abweisung aller Verpflichtungen gegenüber der "Umwelt". Das deutsche Wort sagt hier noch mehr als das französische, dass diese Umwelt uns als ein total Fremdes gegenübertritt. Ein Mantel. Matt dargeboten - oder als Zwangsjacke übergezogen? Gleichviel. Mit mir als empfindendem Wesen hat diese Umwelt keinerlei Verbindung. Umwelt - sagen die Autoren- das ist ihnen  der Küchengeruch im Hausgang, das Rascheln der Platanenblätter vor der Tür im Herbst, der kratzige Geschmack des nicht vollvergorenen Weins. Kritisiert wird also am Begriff Umwelt, dass noch über Descartes hinaus jede unmittelbare sinnliche Berührung weggedacht werden muss mit dem, was uns umgibt.

All diesen Zerstörungen eines jeden Zusammenhangs setzen die atomisierten Autoren des Papiers in einer atomisierten Welt spontane Zusammenschlüsse entgegen. Alle Zusammenschlüsse, in welchen die Teilnehmenden einen unerschütterlichen Willen zum "Nein" entwickeln, können als "Commune" verstanden werden.

Mit diesem Bild verbinden die anonymen Autoren ihr eigenes Auftreten. Namenlosigkeit ist erste Voraussetzung- und notwendige Tarnung. Es darf keinen Führerkult geben in der Welt der Commune. Nicht einmal zugegebenen Beratungsbedarf. Paradoxerweise wird gerade das gerühmt, was in sit-ins meiner Erinnerung nach am meisten nervte: das Reden um des Redens willen. Das Reden, in welchem das Gemeinschaftsgefühl erst zu sich kommen soll, als Ausdruck, als Geste, als Schöpfung des Gemeinsamen, das doch zugleich immer schon vorausgesetzt wird.

Gegen den analytischen Ansatz der Gruppe ist nichts einzuwenden. Nichts auch gegen die Überlegungen zur Gewalt. Da der Staat bekanntlich nicht nur Gewalt - gegen seine Funktionäre - scharf verfolgt, sondern immer neu nach den Gegebenheiten festlegt, wo Gewalt anfängt und was als solche zu gelten hat, ist klar, dass der Gewaltvorwurf  auf jeden Fall erhoben wird und in Rechnung zu stellen ist.

Ein Einwand wurde von den deutschen Rezensenten immer neu erhoben: Wenn erst der Staat abgeschafft ist und "Kommunen" sich in gegenseitiger Berührung des Geländes bemächtigt hätten, würden dann nicht wie im heutigen Mexiko einfach Banden sich selbst den Titel der Commune zusprechen und brutal um sich greifen? Nicht einmal mehr durch die restliche staatliche Autorität -  wie jetzt - zurückgehalten?

Das Argument zieht nur dann, wenn die Kraft, die die Communes zusammenhält, für schwächer angesehen wird als die Gewalt der Störenden.

Über diese Kraft wird freilich im Papier selbst analytisch nichts ausgesagt, nur das Beispiel der spontanen Revolten in Deutschland und Frankreich aufgezählt. Da die gleichen Banden nun eben ein Mexiko durchziehen, das selbst Staat zu sein beansprucht in voller Brutalität, könnte das Befürchtete auf jeden Fall auftreten. Mit und ohne beibehaltenen Staatsfetisch.

Mir drängt sich eine ganz andere Schwierigkeit auf. Um - als einer der Autoren - die unverbrüchliche Einigkeit in den Communen, in den aufgewachten Vorstädten Frankreichs zu empfinden, müsste einer von Anfang an tief drinstecken. Den Gelberübengeruch im Hausgang selbst gerochen haben seit seinem fünften Lebensjahr - und ihn bejahen. Nebst allem, was Nase und Ohr in diesen Gegenden erreicht.

Das, scheint mir, setzt vorbehaltlose Zustimmung voraus. Wie ließe sich damit aber verbinden die bittere Distanz zu allem Bestehenden, das manchmal fast höhnische Drüberwegsein des Durchschauenden, Wissenden? Mit anderen Worten: das abweisende Stilbewusstsein, das genau die Verführungsgewalt der Texte ausmacht?

Bei aller gefühlsmäßigen Zustimmung zum Anarchismus fühlte ich mich - trotz seiner gedanklicher Schwäche - eher verbunden mit  Stirner und seinem "Einzigen und sein Eigentum" - oder mit dem amerikanischen Thoreau in der Hütte. Also immer trotz allem: Draußen.

Diese Schranke könnte ich im Augenblick nach erster Lektüre des Manifests nicht überspringen, bei aller Bewunderung für  den scharfen Sinn und das kühne wollende Herz, die daraus sprechen.


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9.11.1918: Die verratene und vergessene Revolution - gesehen aus der Erinnerung von Alfred Döblin

Alfred Döblin, ca. 1930 Foto: WikiPedia
Es scheint am Platz, vor allen anderen neunten Novembern an den allerersten zu erinnern, denjenigen der verratenen und vergessenen Revolution von 1918. Dem Dichter Döblin blieb es vorbehalten, nicht nur den Rückzug der Armee von Strasbourg her leibhaftig mitzuerleben, sondern als damaliges Mitglied der USPD auch die Kollaboration der Reichsregierung unter Noske und Ebert mit den heimkehrenden Truppen. Dreißig Jahre später arbeitet er in der Erinnerung alles noch einmal durch. Döblin war auf der Flucht vor den Deutschen 1940 zum Katholizismus konvertiert. Aber eines hatte er durch die Jahrzehnte nicht vergessen: Den Hass auf diejenigen, die damals die Revolution abgewürgt hatten und sie ihren Feinden ausgeliefert. In diesem einen Punkt bleibt seine Erinnerung rächend und unversöhnt. Sein Rückblick befremdet vielleicht, aber hält zugleich unverrückbar fest.

Döblin: November 1918

Lebensspuren
"Was für eine sonderbare Existenz ich führe, in meinem Alter, es war bequemer drüben, [im Exil in den USA] aber es ließ sich ja nicht halten, und hier kann ich etwas Nützliches leisten; meine Schublade war schon drüben voll von Manuskripten, die liegen blieben; auch das wird anders werden, viele Verlagsprojekte werden genannt." (Brief vom 25.11.45)

Fast keines der Manuskripte wurde in Deutschland veröffentlicht. Keines unverstümmelt.

"Wann betrete ich das Land wieder? Am 3.3.33 fuhr meine Familie über die Grenze. Welches Datum heute? Die Zufälle, die Zeichen, die Winke. Betroffen lasse ich das Blatt sinken und betrachte die Zahl noch einmal, der neunte November! Revolutionsdatum von 1918, Datum eines Zusammenbruchs, einer verpfuschten Revolution.
Wird alles wieder so kläglich wie damals verlaufen? Soll und muss es nicht hier, auch hier eine Erneuerung geben? Ich fahre in das Land, in dem ich mein Leben zubrachte, und aus dem ich hinausging, aus einer Stickluft, das ich floh, in dem Gefühl: es wird mir zum Heil....... Auf allen liegt, wie eine Wolke, was geschehen ist und was ich mit mir trage: Die düstere Pein der letzten zwölf Jahre. Flucht nach Flucht. Mich schauderts, ich muss wegblicken und bin bitter. Dann sehe ich ihr Elend und sehe, sie haben noch nicht erfahren, was sie erfahren haben."
(aus dem Erinnerungsbuch: Schicksalsreise, S. 309, bezogen auf November 1947)

Als Schriftsteller ungedruckt, als Zeitschriftenherausgeber in der Pleite gelandet, emigriert der Emigrant zum zweiten Mal.

Abreise 1953: "Alfred Döblin ist aus Deutschland ausgezogen. Auf einer Bahre brachten ihn zwei blaubeschürzte Bedienstete des Zentralhotels auf den Bahnsteig. Dort saß er, während sich seine Gattin um die Beförderung des Gepäcks etc. kümmern musste, zusammengekauert, eine Decke auf die Beine gebreitet, auf einem wackeligen Stuhl- nahe den Geleisen- im nur gespenstisch erhellten Bahnhofdunkel und in kalter rauchiger Zugluft, ein Großer der deutschen Literatur(sofern man noch von einer solchen reden kann), verraten und verkauft, jedenfalls vereinsamt und verbittert, krank und müde, wenngleich sehr wachen Geistes. Mein Ohr zu seinem Mund geneigt( der alte Mann war erkältet, heiser und hustete), hörte ich ihn sagen: "Das ist der Abschied". Sein letzter Brief aus Deutschland ging an die Adresse von Heuss ("ich habe ihm reinen Wein eingeschenkt") Welch ein Kapitel der Zeitgeschichte." (Ulbricht, Sekretär der Akademie Mainz, 5.5.53 an Hanns Henny Jahn)

1957 - Döblin war so verarmt, dass er nur in Deutschland - wohl über Wiedergutmachung - eine Sanatoriumsversorgung erhalten konnte. Nahe Emmendingen. Das deutsche Seminar Basel unter Musch suchte ihn dort auf. Ich damals in Freiburg, auch im dortigen Deutschen Seminar. Warum kam niemand auch nur auf die Idee, Gleiches zu tun? Wir hatten allenfalls von Döblins "Berlin Alexanderplatz" gehört, ihn keineswegs gelesen. Die bald dreißig Jahre nachher blieben mehr als verschüttet: unbekannt. Bis Günther Grass seine erste Rede auf Döblin hielt, vergingen weitere zehn Jahre. Zum fünfzigsten Todestag bekam sein ehemaliges Wohnhaus in Baden-Baden eine Gedenkmedaille. Er selber nichts.

Der Vergessene als Fachmann gegen das Vergessen werden
Warum sich an den Allervergessensten wenden, um gegen Vergessen vorzugehen? Vielleicht weil er inzwischen Fachmann im Vergessen werden geworden ist. Als er im Exil- erst in Frankreich, dann USA- die vier Bände seines "November 1918" in Angriff nahm, da war in Deutschland von Luxemburg und Liebknecht nicht mehr die Rede. Ihr Denkmal auf dem Berliner Friedhof war plattgemacht worden. Döblin fragte nach dem Versäumten. Wie konnten damals die gleichen Niederkämpfer der Revolution siegen, die ihn vierzehn Jahre später aus dem Lande trieben? Was war mit den bekannten Führungsgestalten? Der vierte Band der Tetralogie hat ausdrücklich "Karl und Rosa" zum Titel erhalten.

Döblin greift Luxemburgs Schicksal freilich ganz spät, im Weibergefängnis in Breslau auf. Die Episode mit dem Büffel darf nicht fehlen. Nur eine Pointe fügt Döblin hinzu: der Bursche, der das Tier so unbarmherzig prügelt, heißt Runge. Er ist eben jener heruntergekommene Jäger, der Luxemburg auf ihrem letzten Weg den Gewehrkolben über den Schädel hauen wird.

Der neue Blick auf Rosa Luxemburg im Knast, der auf die notwendige Entstellung durch Isolation und Erinnerungsqual fällt, wirkt erschreckend. Sie hat die Nachricht vom Tod ihres letzten Geliebten in den Schlachten in den ukrainischen Sümpfen erhalten.

Döblin bietet alles auf: die überlieferte Ballade von Lenore, die den toten Bräutigam beschwört, verbindet sich mit klinischen Erwägungen über hysterische Halluzination im Knast (Döblin war von Haus aus Nervenarzt und kannte ähnliche Zustände: er leiht sie Rosa aus eigener Erfahrung). Sie reist imaginär mit dem toten Bräutigam durch die Welt. Damit lässt Döblin einen Riss durch die Luxemburg im Gefängnis gehen: die Trauer um das vergehende Leben steht unverbunden neben dem politischen Kampf. All die von Döblin erfundenen Gespräche und Begegnungen mit dem Toten vollziehen sich während Rosas Niederschrift des Buchs über die Russische Revolution. Genauer gesagt: die Lebensnot hängt sich als Bleigewicht an den revolutionären Willen, zieht ihn nieder.

Was beim Bericht über Stammheim hämisch ausgespielt wird, die psychische Zerstörung durch das zwangsweise Aufeinander hocken in der ausweglosen Isolation, wird von Döblin klaglos konstatiert. Der Körper reißt sich los vom immer noch vorhandenen, in aller Mattigkeit festgehaltenen Willen zur Revolution. Körperlich breitet sich aus der Wahn, das Nachhängen hinter der verlorenen Liebe.

Faktisch ist von einer hysterischen Erkrankung Luxemburgs nichts bekannt. Es mag empören, wenn Döblin ihr solches zuschreibt. Aber es war nötig, um durch die Übertreibung das Ersticken des vitalen wie des revolutionären Begehrens scharf genug zu kennzeichnen.

Die Volksmassen: Ansammlung von Ermatteten
Die Leiber, ihre Müdigkeit, ihre Angreifbarkeit werden zum Schicksal der Revolution, nicht nur im einzelnen Leben l Luxemburgs, sondern als etwas, das alle ergreift, im Januar 1919 der Kälte, der Steckrüben und des Zehnstundentags.Die seit Döblins Konversion hinzugewonnene religiöse Sprache verhilft zum endgültigen Los-schälen von der Legende. Vom Bild der Roten Bataillone, die allzeit bereit gestanden hätten

"Krieg und Revolution waren Weckrufe einer überirdischen Stimme. Wer hörte sie, wie vernahm man sie? In diesen Revolutionswochen verklang allmählich die Stimme." (Bd IV, Seite 351)

Döblin hatte alles 1919 schon einmal beschrieben als Journalist unter dem Namen "Linke Poot". Die Massen aufgerufen, auf den Straßen wartend, erhalten den Ruf nicht mehr zum Sturm auf die Reichskanzlei- und gehen auseinander aus Erschöpfung, Wut und im bitteren Ressentiment gegen das angebliche oder auch wirkliche Versagen der Führenden.

Döblin macht sich dreißig Jahre später den Blick des Johannesevangeliums zu eigen. Das Licht kam in die Welt- aber keiner hatte die Kraft, es anschauend festzuhaltend. Das Wort zu uns gesprochen, traf auf taube Ohren. Weltlich gesprochen: wir sind wie das Gras auf dem Felde, und unser flüchtiges Dasein ist zur Empörung nur kurze Zeit fähig und bereit. Dann sinken wir zurück.Was nichts gegen die Stimme des Krieges, der Revolution sagt. Wenn auch sofort verklungen: gesprochen hat sie doch.

Unbarmherzig zeigt Döblin den Siegeszug der militärischen Routine und Disziplin innerhalb der von Ebert und Noske betriebenen Konterrevolution. Sie stützen sich auf das Idiotentraining der frisch importierten Feldsoldaten. Sie läuft sozusagen auf Geleisen- überspielt die individuelle Ermattung und Willensbildung. Dagegen die Müdigkeit der Leitenden wie der nicht Angeleiteten: Liebknecht beim letzten Besuch bei seiner Frau Sonja sich losreißend vom Privaten, ohne doch zur Entschlusskraft Lenins zu kommen. Er bleibt geschleift vom blinden Durchhaltewillen, im Marstall von Berlin, von dort vertrieben und schließlich im Zeitungsviertel gelandet, bei den Allerletzten. Versteckt in Vorortszimmern. Bis es heißt, den letzten Weg anzutreten.Überlegungen Rosas gegenüber Liebknecht- über die Notwendigkeit des zeitweiligen Rückzugs, wie ihn die Bolschewiki im September 1917 hatten antreten müssen- verstumpfen angesichts seines zusammengesunkenen müden Leibes. "Wenn sie (Rosa) ihn dann niedergekämpft hatte und er blass, mit eingefallenen Backen, mager, mit viel Grau in den Haaren, still dasaß, dann war es anders. Karl gab alle falschen Berechnungen, das Ungeplante und Gefährliche des Unternehmens zu, aber er gab es achselzuckend zu und zog keine Schlüsse daraus. Sie staunte. Sei wurde aufmerksam und schon argumentierte sie nicht mehr. Sie sah ihn an und erinnerte sich an den 1.Mai 1916, wo Karl voranging, so sicher, ohne Furcht, eine Feuersäule in der Nacht" (ebenda, Seite 455). Feuersäule - schon wieder ein Fetzen religiöser Überlieferung, aufgewandt, um das Unvergessliche mitten im Vergessen festzuhalten.

Döblin rettet die Erinnerung an den Aufstand, indem er dessen Scheitern, seinen notwendigen Untergang als Voraussetzung akzeptiert. Er zeigt den Rest auf der Schüssel, die Gräte vom Fisch. Es war also doch etwas da gewesen. Dasjenige, das nicht weiter zu zerstören ist von denen, die vielleicht noch an diesem Abend mal wieder daran gehen, die Novemberrevolution in Deutschland 1918 als das Heldenwerk eines Ebert hinzustellen- gegen Schwärmer, Träumer, Spartakisten und andere Verbrecher. Nicht viel anders hat es Peter Weiss gehalten in seiner - inzwischen ebenfalls weg gescharrten - "Ästhetik des Widerstands". Nur von der Galgenhalle in Plötzensee her sind ihre Bestrebungen und Taten krisensicher zu retten.

Rettung des Verlorenen

Gerettet hat Döblin trotz allem, indem er die Vorkämpfer den Schwächen des eignen Körpers und der Unzuverlässigkeit der Massen ausliefert. Er behält den ausgreifenden Blick auf diese Massen. Dieselben, die 1918 siegten, haben zu siegen nicht aufgehört- bis hin zu den vernichtenden Feldzügen des zweiten Weltkriegs. War der Aufstand 1918 auch von vornherein verloren, seine Notwendigkeit bleibt unanfechtbar bestehen. Welche Leiden hätten diese müden Leiber sich erspart, wenn sie -unmöglicherweise- damals auch nur ein paar Tage länger durchgehalten hätten.

Unbestechlich und traurig begegnet Döblin den selben erloschenen Gestalten wieder- 1947 in Baden-Baden. Haben sie etwas gelernt? Sie haben nichts gelernt. Und hätten es doch so nötig gehabt.

Schärfer als die Döblins kann keine der zu erwartenden Kritiken und Löschungen zum neunzigsten Jahrestag ausfallen. Gerade dadurch ist Döblin ihnen für alle Zeiten zuvorgekommen. Uns führt er vor die Unerlässlichkeit der Revolution zugleich mit ihrem Scheitern für dieses eine Mal und immer wieder.

Bibliographische Angaben: Döblin: November 1918. Vier Bände. dtv. Daraus alle Zitate.

Neuausgabe:

November 1918 - Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen. Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918
November 1918 - Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen. Zweiter Teil, Erster Band: Verratenes Volk
November 1918 - Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen. Zweiter Teil, Zweiter Band: Heimkehr der Fronttruppen
November 1918 - Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen. Dritter Teil: Karl und Rosa

Zuerst abgedruckt in Stattzeitung für Südbaden Ausgabe 70, 2007-11 (Printausgabe)

Kirsten Heisig anti-muslimisch? Nein. Aber unterwegs zur universellen Schulüberwachung

Buchcover
Kirsten Heisig wandelt zwar im Denkgefolge Sarrazins, macht allerdings  keinerlei Aussagen zum Islam an sich. Dafür plädiert sie für ein umfassendes Überwachungssystem in "gefährdeten Bezirken" nach dem Vorbild der USA.

Kirsten Heisig war an die zwei Jahrzehnte Jugendrichterin in Berlin-Neukölln und berichtet in ihrem einzigen hinterlassenen Buch  von dort erlebten  Problemfällen. (Dass sie wenige Monate nach Fertigstellung des Werks freiwillig aus dem Leben ging, gab zu Spekulationen Anlass, zu denen wir uns jeder Stellungnahme enthalten).

Kirsten Heisig wird nach ihrem Tod von manchen Schnell-Lesern einfach als Bestätigerin von Sarrazin gewertet. Das ist entschieden falsch. Im Gegensatz zum Breitsensenschnitt des Vordenkers kennt Kirsten Heisig  auch deutsche jugendliche Straftäter in beachtlicher Zahl und findet keine erheblichen Unterschiede zu den Kollegen mit "Migranten-Hintergrund". Auch spricht sie kaum vom Islam an sich als möglichem Grund von Untaten, sondern unterscheidet sehr genau zwischen der türkischen und der "arabischen" Einfluss-Sphäre. ("arabisch" - wie dem Buch  zu entnehmen ist - als Sammelbegriff für libanesisch- kurdisch-palästinensisch verwendet). Hier spricht sie, immer noch nachvollziehbar, das System der Großfamilien an, in denen der einzelne Jugendliche nach einer Straftat Schutz findet, unter Umständen auch von Schule zu Schule, von Wohnort zu Wohnort weitergeschoben werden kann, um Unannehmlichkeiten zu entgehen. Dafür bringt sie  überprüfbare Beispiele an.

Auffällig allerdings der Blickwinkel, aus dem alle Schäden gesehen werden und daraufhin geheilt werden sollen. Es ist der der ausgepichten eingefleischten Fachjuristin, die alle Gesetze gewogen hat und ein jedes für gleichgewichtig nimmt, handelt es sich nun um Schwarzfahren oder um Angriffe mit dem Hockeyschläger.

Liebevoll werden gleich bei den Fallbeschreibungen am Anfang des Buches  die Schwarzfahrten aufgezählt, die sich den anderen Delikten der jugendlichen Täterinnen und Täter an die Seite stellten. Bei der Schilderung eines Dienstvormittags  bekommen die Nur-Schwarzfahrenden noch mal eine ganze Stunde Verhandlungszeit zugebilligt. Nirgends taucht der einfache und bescheiden sozialreformerische Gedanke auf, solche Jugendlichen aus den entsprechenden Kreisen mit einem Freifahrschein zu versehen. Das Parlament hat nun einmal die Ahndung des Schwarzfahrens beschlossen: Also muss das auch durchgesetzt werden.

Entsprechend verläuft der Gedankengang im ganzen Werk.  Der junge Delinquent - es kommen fast nur Berichte über Jungs vor - wird mit liebevoller Strenge als bloßes Objekt gesehen. Es kommt darauf an, ihn mit allen Mitteln so zu überwachen, dass er dann später zu Lehrstelle und einfacher pünktlicher  Dienstleistung fähig ist.

Dazu - und das ist Heisigs Vorschlag - müssen alle staatlichen Stellen zusammenarbeiten, um eine lückenlose Überwachung zu erreichen.

Dem Datenschutz für Jugendliche wird bedenkenlos freigegeben.Er hat vielleicht anderswo seine Berechtigung, aber nicht bei Leutchen zwischen 14 und 21 Jahren. Schutzinteressen darf es nicht geben, wenn - an erster Stelle - die Polizei, dann das Jugendamt,die Schulen, die Jugendvereine - zusammenarbeiten, um möglichst schon präventiv einschreiten zu können. So spielt der unerbittliche Kampf gegen die "Schulabstinenz" die allerwichtigste Rolle. "Schulabstinenz" - ein Neologismus für das bekannte Schulschwänzertum.  Strafen gegen säumige Eltern helfen da vielleicht weiter. Und wenn jemand einwendet, solche hätten oft nur Hartz IV, muss wieder der Gesetzgeber herhalten: der hat doch sicher gewusst, dass diese Strafen vor allem die "sozial Benachteiligten" treffen. Also ist gegen Bußgelder in  diesen Kreisen nichts einzuwenden.

In der Schule wieder ein besonders zu beachtender Punkt: Schimpfwörter gegenüber Lehrerinnen und Lehrer sofort anzeigen und ohne zeitlichen Verzug ahnden. (Früher hat man die hinterhergerufenen "Arschpauker" am besten überhört. Jedesmal schon deshalb zum Richter rennen - du lieber Himmel).

Die Schulen haben in den Sekundärtugenden zu trimmen. So früh wie möglich  ist mit der Berufsberatung zu beginnen, damit Schüler Jörgi  sich rechtzeitig darauf einstellt, was ihn als Azubi Jörgi erwartet.
Mit Recht wird der Lehrermangel beklagt. Worüber Kirsten Heisig aber kein Wort verliert, das ist  was man in den Schulen sonst noch treiben könnte, was selbst einen Straßen-Rowdy noch interessieren möchte.

In das Internat der Lietz -Schule, in dem ich zehn Jahre verbrachte, wurden in finanziell besseren Zeiten immer wieder von Jugendämtern Kinder geschickt, die zumindest nahe an Bestrafungen vorbeigerutscht waren. Tatsächlich erwiesen sie sich nicht gerade als universell lernbegeistert. Aber es  gab doch kaum einen, der Interesse für nichts gezeigt hätte. Wenn man nur fähig war, genügend Aufmerksamkeit auf ihn zu verwenden. Was wieder  mit der relativ großen Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern zu tun hatte, bezogen auf  die Schülerzahl.

Ich erinnere mich an einen, den ich zum Jugendgericht als sein "Familienvater" begleitete. Er war beschuldigt, weil er nach dem Erntedank in eine Kirche eingestiegen war und dort sich an den Gaben auf dem Altar gütlich getan hatte. Die Richterin war sehr freundlich. Nur - wie fuhr sie auf, als der Delinquent in aller Unschuld erzählte: "Ja, und wie ich dann drin war, habe ich erst mal gemütlich  gevespert".
"Wie - gevespert nennen Sie das? Vom Tisch des Herrn...."
Und um ein Haar  wäre aus dem Mundraub Einbruch mit Raub in einem schweren Fall geworden plus Anatz zur Gotteslästerung. Und war doch nur unbedachte Wahrheitsliebe aus kirchenfernem Mund gewesen. Es ließ sich dann alles noch beibiegen - aber mir wurde bei der Gelegenheit klar, wie - bei berechtigtem oder unberechtigtem richterlichen Zorn - sich Pyramiden des Verwerflichen auftürmen lassen.

Kirsten Heisig hat auch Studienfahrten in andere Großstädte unternommen und stellte dort befriedigt fest, dass vor allem die Polizei noch etwas mehr in Erfahrung bringt und schneller vorbeugt als bei uns
Sie hat sicher einen ungeheuren Arbeitseinsatz erbracht und mehr getan als viele andere im Jugendgericht Beschäftigte. Nur eins ist ihr nie in den Sinn gekommen: dass es in entsprechenden Brennpunkten der USA das alles schon gibt. Geben muss, wenn man einer Serie Glauben schenkt, die in VOX lange Zeit lief. "Public Boston". Da wird eine Schule ausführlich und liebevoll vorgeführt, stark auch aus der Sicht der Lehrer. Zum gewöhnlichen Unterricht kommt man dort freilich fast nie. Es gibt immer neue Disziplin- und Kriminalvorkommnisse. Der von Kirsten Heisig nicht einmal gewünschte Haus-Kriminalkommissar mit Waffe ist dort der wichtigste Mann. Lehrer werden wegen kleiner Misshelligkeiten ohne weiteres suspendiert oder gleich gefeuert. Das wichtigste am Unterricht muss - wenn man der Serie glauben darf - der morgendliche Namensappell sein. Bedeutungsvolle Fragen immer neu: Wer war dabei ? Wer hatte die Aufsicht? Was sagen die weiteren Behörden? An welcher  Stelle im alljährlichen Leistungsvergleich werden wir uns wiederfinden? Informationen über alle: Lehrer wie Schüler liegen beim ersten Computerclick vor. Verkehrsunfälle? Liebschaften? Cliquenzugehörigkeit? Besondere Vorkommnisse im Stadtviertel? Eltern? Deren Beruf und Vorleben? usw.

Dass Sarrazin mit seinen Statistiken und Schlussfolgerungen  ein Luftikus war, wird sich in spätestens einem Jahr herausstellen. Dann wird man ihn gnadenhalber einreihen unter all die Rassenforscher in den USA, die immer neu herausbekamen, dass ein kleiner schwarzer Junge aus den Slums kein Einstein werden konnte, was angeblich bisher von Scharen geglaubt worden sein soll.

Viel gefährlicher - trotz und wegen ihrer Verdienste als Fachfrau-muss dagegen Kirsten Heisig wirken. Weil sie wirkliche Leiden in Elendszentren benennt - und weil sie - ganz ohne Rassismus - die lückenlose Überwachung bestimmter Menschengruppen vorschlägt.

Weil sie damit eine ganze Sorte Menschen zum bloßen Objekt der Bearbeitung erklärt, im Interesse einer anderen Menschengruppe, die sich mit möglichst geringen Kosten zu ihrer Ausbeutung bereithält.
Weil sie damit - ohne es vielleicht gewollt zu haben - den aufgeklärten zupackenden Klassenkampf von oben unterstützt.

Kirsten Heisig: Das Ende der Geduld: Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter

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