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"L' insurrection qui vient" - An der Bahnsteigkante knapp vor "Ankunft der Revolution"

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Einige Anmerkungen zu "L-˜insurrection qui vient". Für ein endgültiges Urteil reicht die flüchtige Befassung nicht aus. Das Werk sollte auf jeden Fall breit diskutiert werden.

Das in Frankreich schon lange kursierende Manifest zur neuen - ganz anderen - Revolution ist in den letzten Tagen zugleich eindringlich besprochen worden im FREITAG - und sehr von oben herab in der Frankfurter Rundschau. Vor allem berichtet die FR gar nichts von dem, was FREITAG gewissenhaft ausbreitet. Nach französischem Muster scheint es inzwischen - zumindest in Berlin - in linken Buchhandlungen schon Durchsuchungen zu geben, um die dünne Broschüre als potentielle "Aufforderung zur Gewalt" der Neugier deutscher Leserinnen und Leser zu entziehen. Nichts lächerlicher, aber auch nichts gefährlicher als solche Versuche, die gut gepolsterte staatliche Hand über Mund, Ohr und Auge zu legen.

Mit dem gleichen Recht könnte man auch das "Kommunistische Manifest" mal wieder verbieten. So unerbittlich beide Schriften die Notwendigkeit der revolutionären Erhebung beweisen, so wenig handwerkliche Anweisungen zu ihrer Durchführung enthalten sie. Zum Beispiel zum Hakenwerfen gegen Elektro-Leitungen oder zum "Schottern". Hinzu kommt, dass beide Werke seit geraumer Zeit aus dem internet herunterzuladen sind, nach Wunsch auf Deutsch oder Französisch. Staatliche Fürsorglichkeit kommt auf jeden Fall zu spät.

Der Text beginnt mit schärfster Analyse der Gesamtkrise. Mit einem Ohr aus dem Fernseher die Schlingenziehung  und Selbsteinwickelung der GRÜNEN in Freiburg verfolgend, gewinnt für den Leser die pointierte Zuspitzung erst vollen Reiz.

Wie La Rochefoucauld, Retz und andere unvergessene Schriftsteller schon des Barock beschäftigen sich die anonymen Autoren mit dem menschlichen Zusammenleben. Analyse und Beschreibung. Der Beiname "Moralisten" der Gruppe  erzeugt im Deutschen die irreführende Assoziation, es gehe bei diesen Überlegungen um "Moral". Also um Wegweisung. Um die geht es diesen Beschreibern am wenigsten. So haben auch die Anonymen sich schon im Stil vor allem an einen der letzten französischen Moralisten- Debord mit seinem Buch über das "specctacle" gehalten.

In mindestens drei Punkten gehen die Herausgeber über die Feststellungen auch eines Debord hinaus. Wird von den meisten Lebenskünstlern hier wie im Nachbarland eine Art sanfter Gefälligkeit in der Wahl der Lebensformen vorgeschlagen, nach den Regungen unseres "Ich", weisen die Texte nach, dass dieses Ich - von Descartes zu Beginn der Neuzeit als die Grundlage des uns gegebenen Seins gepriesen -, nur noch über hundert Prothesen sich erhalten und bewegen kann. Allerlei Begriffe aus den Hilfswissenschaften müssen herhalten, damit wenigstens die Ich-Illusion durchhält. So etwa Aufstiegswillen und Geltungssucht  als Natur-Konstanten. Wir haben uns deren nicht zu schämen, sondern dem tüchtig zu folgen, was Natur uns vorschreibt. Die der "res cogitans" einst von Descartes versprochene Erkenntnis entfällt dabei komplett.

Scharf auch die Vernichtung aller sozialen Bindungen in den Papieren. Alles Soziale ist nicht nur zur Ware geworden, sondern wird auch als solche eingetrieben von denen, die Arbeitsplätze zuzuweisen haben.Die Freundlichkeit der Sekretärin gegenüber gewissen Personen wird ebenso Pflicht wie abweisendes Verhalten gegenüber betrieblich nicht Vorgesehenen.Alles abrufbar und der Kontrolle ausgesetzt.

Schneidend schließlich die Abweisung aller Verpflichtungen gegenüber der "Umwelt". Das deutsche Wort sagt hier noch mehr als das französische, dass diese Umwelt uns als ein total Fremdes gegenübertritt. Ein Mantel. Matt dargeboten - oder als Zwangsjacke übergezogen? Gleichviel. Mit mir als empfindendem Wesen hat diese Umwelt keinerlei Verbindung. Umwelt - sagen die Autoren- das ist ihnen  der Küchengeruch im Hausgang, das Rascheln der Platanenblätter vor der Tür im Herbst, der kratzige Geschmack des nicht vollvergorenen Weins. Kritisiert wird also am Begriff Umwelt, dass noch über Descartes hinaus jede unmittelbare sinnliche Berührung weggedacht werden muss mit dem, was uns umgibt.

All diesen Zerstörungen eines jeden Zusammenhangs setzen die atomisierten Autoren des Papiers in einer atomisierten Welt spontane Zusammenschlüsse entgegen. Alle Zusammenschlüsse, in welchen die Teilnehmenden einen unerschütterlichen Willen zum "Nein" entwickeln, können als "Commune" verstanden werden.

Mit diesem Bild verbinden die anonymen Autoren ihr eigenes Auftreten. Namenlosigkeit ist erste Voraussetzung- und notwendige Tarnung. Es darf keinen Führerkult geben in der Welt der Commune. Nicht einmal zugegebenen Beratungsbedarf. Paradoxerweise wird gerade das gerühmt, was in sit-ins meiner Erinnerung nach am meisten nervte: das Reden um des Redens willen. Das Reden, in welchem das Gemeinschaftsgefühl erst zu sich kommen soll, als Ausdruck, als Geste, als Schöpfung des Gemeinsamen, das doch zugleich immer schon vorausgesetzt wird.

Gegen den analytischen Ansatz der Gruppe ist nichts einzuwenden. Nichts auch gegen die Überlegungen zur Gewalt. Da der Staat bekanntlich nicht nur Gewalt - gegen seine Funktionäre - scharf verfolgt, sondern immer neu nach den Gegebenheiten festlegt, wo Gewalt anfängt und was als solche zu gelten hat, ist klar, dass der Gewaltvorwurf  auf jeden Fall erhoben wird und in Rechnung zu stellen ist.

Ein Einwand wurde von den deutschen Rezensenten immer neu erhoben: Wenn erst der Staat abgeschafft ist und "Kommunen" sich in gegenseitiger Berührung des Geländes bemächtigt hätten, würden dann nicht wie im heutigen Mexiko einfach Banden sich selbst den Titel der Commune zusprechen und brutal um sich greifen? Nicht einmal mehr durch die restliche staatliche Autorität -  wie jetzt - zurückgehalten?

Das Argument zieht nur dann, wenn die Kraft, die die Communes zusammenhält, für schwächer angesehen wird als die Gewalt der Störenden.

Über diese Kraft wird freilich im Papier selbst analytisch nichts ausgesagt, nur das Beispiel der spontanen Revolten in Deutschland und Frankreich aufgezählt. Da die gleichen Banden nun eben ein Mexiko durchziehen, das selbst Staat zu sein beansprucht in voller Brutalität, könnte das Befürchtete auf jeden Fall auftreten. Mit und ohne beibehaltenen Staatsfetisch.

Mir drängt sich eine ganz andere Schwierigkeit auf. Um - als einer der Autoren - die unverbrüchliche Einigkeit in den Communen, in den aufgewachten Vorstädten Frankreichs zu empfinden, müsste einer von Anfang an tief drinstecken. Den Gelberübengeruch im Hausgang selbst gerochen haben seit seinem fünften Lebensjahr - und ihn bejahen. Nebst allem, was Nase und Ohr in diesen Gegenden erreicht.

Das, scheint mir, setzt vorbehaltlose Zustimmung voraus. Wie ließe sich damit aber verbinden die bittere Distanz zu allem Bestehenden, das manchmal fast höhnische Drüberwegsein des Durchschauenden, Wissenden? Mit anderen Worten: das abweisende Stilbewusstsein, das genau die Verführungsgewalt der Texte ausmacht?

Bei aller gefühlsmäßigen Zustimmung zum Anarchismus fühlte ich mich - trotz seiner gedanklicher Schwäche - eher verbunden mit  Stirner und seinem "Einzigen und sein Eigentum" - oder mit dem amerikanischen Thoreau in der Hütte. Also immer trotz allem: Draußen.

Diese Schranke könnte ich im Augenblick nach erster Lektüre des Manifests nicht überspringen, bei aller Bewunderung für  den scharfen Sinn und das kühne wollende Herz, die daraus sprechen.


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