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Wegtragegebühr macht deutlich: Fortschrittliches Versammlungsrecht ist nötig!

Laut einem Artikel der Stuttgarter Zeitung müssen einige Stuttgart-21-Gegner einer Anzeige wegen Nötigung rechnen und die Kosten für den Polizeieinsatz von rund 40 Beamten gegen eine Handvoll Teilnehmer der ständigen Mahnwache zahlen. Die Polizei verlangt dort 80 € von jedem der weggetragenen DemonstrantInnen.

Diese "Wegtragegebühr" ist nichts neues, wie ein Beitrag im Spiegel von 1991 deutlich macht. Sie wurde Anfang der 80er Jahre in Baden-Württemberg vor dem Hintergrund der Proteste der Anti-Atom und Friedensbewegung in der Polizeiverordnung erlassen:

"(...) Viele Aktive des zivilen Ungehorsams aus der Friedensbewegung haben diese Art staatlicher Zwangsmaßnahme auf sich genommen, um die Staatsgewalt spektakulär vorzuführen. Etwa 200 Rüstungsgegner waren es bislang bundesweit, die ihre Geldstrafen für Sitzblockaden an Raketendepots nicht bezahlten und sich in Haft nehmen ließen.

Auf "Beugen und Brechen" (taz) trieb es auch die schwäbische Hebammenschülerin Sigrid Birrenbach, die eine Polizeirechnung über 537 Mark nicht bezahlte. Die Gebühren machte die baden-württembergische Ordnungsmacht für sechsmaliges Wegtragen der jungen Frau von Sitzblockaden geltend.

Da die aufsässige Schwäbin sich weigerte, den statt der 537 Mark verlangten Offenbarungseid zu leisten, mußte sie ins Schwäbisch Gmünder Frauengefängnis "Gotteszell" einrücken. (...)"
DER SPIEGEL 38/1991

Diese Methode ist in ihrer Zielrichtung dem Zeigen mittelalterlicher Folterwerkzeuge durchaus ähnlich, geht es doch darum, AktivistInnen und NachahmerInnen einzuschüchtern und mit Gewalt zum Ablassen von ihrer Meinung zu bewegen. Von politischer Verhältnismäßigkeit keine Spur: Damals richtete sich der friedliche Protest gegen die drohende Kriegsgefahr, heute bei Stuttgart 21 werden von interessierten Kreisen Sitzblockaden ebenfalls als Gewalttat diffamiert. Ob sich die S21 Gegner dadurch beeindrucken lassen? Das war schon damals schwierig:

"Erst kurz vor dem, von den Veranstaltern ohnehin vorgesehenen, Ende der Aktion begannen Polizeibeamte mit dem Wegtragen der Blockierer. Ihre Personalien wurden aufgenommen. Ihnen droht nach der baden-württembergischen Polizeikostenverordnung ein saftiger Kostenbescheid. Es wird dennoch nicht die letzte Blockadeaktion vor dem Stuttgarter EUCOM gewesen sein." Aus: Elke Günther in "Unsere Zeit", Zeitung der DKP, Ausgabe 14. März 2003

"Tausende von FriedensblockiereInnen wurden verhaftet und wegen "gewaltsamer Nötigung" verurteilt. Viele saßen ihre Strafen im Gefängnis ab. Der damalige baden-württembergischen Innenminister Roman Herzog erließ extra eine "Polizeikostenverordnung", nach der die Demonstranten für ihre Verhaftung auch noch zahlen sollten." Aus: "Antifa Nachrichten" Nummer 2 / August 2007 der VVN-BdA

"Baden-Württembergs Polizei droht im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen Castor-Transporte vor zwei Wochen in Philippsburg und jetzt in Neckarwestheim mit einer sogenannten "Wegtragegebühr". Es handelt sich dabei um keine Neuheit, sondern um die in den 80er Jahren anläßlich der zahlreichen Sitzblockaden am Atomraketenlager Mutlangen in BaWü als einzigem Bundesland eingeführten "Polizeikostenverordnung".

Ob diese Verordnung rechtmäßig ist, steht noch gar nicht fest. Seit Jahren ist eine Klage dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig. Es kann sich also für alle Betroffenen lohnen, Widerspruch einzulegen. Wichtig: Selbst wer bezahlt, ist damit weder einer Straftat noch einer Ordnungswidrigkeit überführt. Das Geld ist weder Strafe noch Bußgeld, sondern eine Art Verwaltungsgebühr, wie z.B. wenn mensch sich einen neuen Reisepaß ausstellen lässt. (...)"
Aus: "Schwarze Katze" Rundbrief vom 1. Mai 01

Der Spiegel weiter: "(...) Daß sich bei genügend Sturheit auch die Justiz mal beugt, führte in einem ähnlichen Fall der Hamburger Krankenpfleger Werner Lifka vor.

Das Amtsgericht Schwäbisch Gmünd hatte den Friedensaktivisten wegen seiner Beteiligung an der Blockade des US-Raketenstützpunktes Mutlangen 1984 zu einer Geldstrafe von 600 Mark verurteilt, die per Gehaltspfändung beigetrieben wurden. Daneben sollte er noch anteilige Kosten für den Polizeieinsatz in Höhe von 129,70 Mark tragen. Lifka nahm lieber Knast in Kauf, als "die Polizei für ihren Dienst an der Aufrüstung auch noch zu bezahlen".

Nach drei Wochen Kerker sah das Amtsgericht Hamburg-Blankenese ein, daß der norddeutsche Sturkopf wohl nicht zu beugen sei, und ließ Lifka frei. Die lange Inhaftierung, so die Begründung, sei im Vergleich zu der niedrigen Forderung "übermäßig" und habe im übrigen gezeigt, daß sie bei dem Schuldner nichts bewirke. (...)"


Hartes Brot, für diejenigen, die nicht "mal eben so" ein paar Wochen im Knast zubringen wollen und können. Und eine politische Herausforderung an alle demokratisch denkenden Menschen: Denn in Stuttgart ist es ja nicht so, dass hier sich irgendeine Minderheit an demokratisch gefällten Beschlüssen vergreifen will. Sondern um eine Mehrheit, die angesichts der für sie offenkundigen "Vetterleswirtschaft" und dem Umgang der Verantwortlichen mit dem mehrfach durch Unterschriftensammlungen, Umfragen und Wahlen erklärten Willen die Nase voll und das "Vertrauen in die Politik" sowieso längst verloren hat. Gerade deshalb muss in Zusammenhang mit der sich unweigerlich zuspitzenden politischen Auseinandersetzung damit verbunden werden, demokratische Rechte zu erweitern. Die vom damaligen Innenminister Roman Herzog erlassene "Wegtragegebühr" zeigte im Kern doch nur, dass der massenhafte und zähe Protest der damaligen Landesregierung nicht in den Kram passte und deshalb diese Gebühr eben "mal eben so" eingeführt wurde.

Parallelen zu heute sind unübersehbar. Gerade deshalb ist ein fortschrittliches Versammlungsrecht unabdingbar. Und zwar eines, das effektive Proteste ermöglicht, die spürbar sind und denen, gegen die protestiert wird, die Forderungen deutlich macht. "Einschüchternd" sozusagen. Davor haben jedoch nur die Angst, gegen die sich der Protest richtet. Die "Wegtragegebühr" die in dem Zusammenhang u.a. mit dem "Brokdorf Urteil" entstand gehört abgeschafft. Sie ist ein Beissreflex darauf, dass hier unter anderem klargestellt wurde, dass die Demonstranten die Protestform wählen und nicht die Ordnungsbehörden oder gar die Polizei. So gelten Sitzblockaden verfassungsrechtlich als eine Versammlung nach Art. 8 des Grundgesetzes und nicht in jedem Fall als Nötigung.

S21: Bagger vor dem Nordflügel - Demonstration gegen den drohenden Abriss ab 18:00

Heute Morgen wurden - von der Polizei geschützt - Bagger am Nordflügel aufgefahren. Daher wird für heute Abend, 18:00 zu einer Demonstration aufgerufen.

Die aktuelle Lage:

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