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“Wir sind nicht eure Geldautomaten„ (Parole aus Italien, 2010)

Rot-Grüne Reformsalven und schnee-weißes Pulver

Was die Kohlregierung in vielen kleinen Schritten vorantrieb, die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben, trieb die rot-grüne Regierung ab 2002 mit Kanonenschlägen auf die Spitze. Agenda 2010 nannten sie ihr Reformwerk, was nichts anderes hieß, als die Sozialsysteme zu sprengen, das Lohn- und Rentenniveau drastisch zu senken, prekäre Arbeit zum Kern dieses Systems zu machen und Flexibilisierung zur erschöpfenden Norm eines Arbeitsalltags:

  • Bereits 1998 belief sich die Summe, die im Sozialbereich -ºeingespart-¹ wurde, auf rund 100 Milliarden Mark: "Regierungsamtlich steht fest, daß kein anderes Land in Europa die sozialen Streichungen in den 90er Jahren so weit getrieben hat wie Deutschland." (FR vom 30.7.1998)
  • "In Deutschland sind die Reallöhne in den vergangenen zehn Jahren (zwischen 1995- 2004) um 0,9 Prozent zurückgegangen. Damit liegt die Bundesrepublik an letzter Stelle der 15 alten EU-Länder." (FR vom 16.6.2005)
  • "Billiglohnland BRD: Die Nettolöhne und -gehälter sind 2006 auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren gesunken." (Junge Welt vom 27.9.2007)
  • "Der Niedriglohn-Sektor in Deutschland wuchs so rasch wie in kaum einem anderen Land. 2008 waren fast 23 Prozent der Beschäftigten Geringverdiener, die weniger als 8,90 Euro pro Stunde erhielten (...)." (FR vom 8.2.2010)
  • "Zwischen 1991 und 2004 schrumpfte die Zahl der Vollzeitbeschäftigten um fast sechs Millionen oder rund 20 Prozent auf 23,75 Millionen. Dagegen verdoppelte sich die Zahl der Arbeitnehmer in Teilzeit einschließlich der nur geringfügig Beschäftigten auf 11 Millionen." (FAZ vom 19.07.2005)
  • Die gesetzlich garantierten Rentenleistungen (bezogen auf das Jahr 2030) sind seit 1993 um ca. 40 Prozent gekürzt worden - durch Verlängerung der Lebensarbeitszeit, neue Berechnungsmodis etc..(vgl. FR vom 11.8.2003)


Was für die Mehrheit der Menschen in Deutschland einen ruinösen Wettlauf nach unten bedeutete, sollte für Konzerne und Finanzunternehmen eine bis dato nie da gewesene Jagd auf Renditen, Märkte und billiges -ºHumankapital-¹ (Unternehmerdeutsch für verwertbare Menschen) einläuten. Dank niedriger Löhne, massiver Steigerungen der Produktivität und einschneidender Senkungen so genannten -ºLohnnebenkosten-¹ (Krankenkassenbeiträge) avancierten die deutsche Industrie zum -ºExportweltmeister-¹ und die deutsche Bundesregierung zum Liga-Chef innerhalb der EU.

Parallel dazu öffnete man die Schleusen für das Finanzkapital (durch so genannten Finanzmarktreformen), deregulierte bis zum Geht-nicht-mehr, bis allen Akteuren vor lauter -ºOutperformance-¹ nicht mehr gerade aus schauen konnten.

Als 2007 die ersten Stimmen mahnend vor einem drohenden Finanzcrash warnten, lachte man sich tot und feierte weiter, mit traumhaften Renditen, Bonizahlungen und After-Work-Partys. Selbst für Gewerkschaftsfunktionäre war genug übrig: Man bespaßte sie, flog Prostituierte ein und machte mit Sonderzahlungen aus -ºschwarzen Kassen-¹ aus Interessenvertretern der Lohnabhängigen Partygäste auf einem Luxusliner.

Niemand wollte sich die Kurs- und Profitrallye madig machen lassen, niemand wollte zuerst aussteigen, auch wenn die Wand, auf die man zufuhr, deutlich zu sehen war. Wer zuerst bremst, hat verloren, war die Devise. Und die zweite lautete: Wenn es jemand erwischt, dann nicht uns. -ºTo big to fail-¹ nennt sich dieser Safebag der Global Players, für den sie nicht einen Cent bezahlen würden.

Kassensturz


Dann brachen die ersten Banken wie Kartenhäuser zusammen und die Business-Class zeigte so lange aufeinander, bis es niemand mehr war, der dafür Verantwortung war. Das Wort vom -ºanonymen Systemfehler-¹ wurde der Schlüssel zur Generalamnestie. Die Schreihälse der Selbstheilungskräfte des Marktes, dessen -ºunsichtbare Hand-¹ alles regelt, verstummten und die staatlichen Adjutanten verwandelten sich über Nacht in Krankenschwestern milliardenschwerer Unternehmen. Die erste Notoperation war fällig: Der Staat übernahm mit mehr als 500 Milliarden Euro die Rettung des privaten Bankensektors.

Mit der Verstaatlichung der Krise war die nächste vorprogrammiert. Viele Staaten verschuldeten sich in einem Maße wie gewöhnlich nur in Kriegszeiten. Darauf folgte die -ºGriechenland-Krise-¹, die Krise für das vermeintlich einzig schwache Glied in der Euro-Kette. Wieder wurden allein von der deutschen Bundesregierung über 25 Milliarden Euro bereitgestellt, um einen drohenden Staatsbankrott, ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone abzuwenden. Ein Rettungspaket, mit der Lüge geschnürt, Griechenland sei einzigartig, und dem rassistischen Ressentiment gewürzt, die -ºGriechen-¹ hätten über ihre Verhältnisse gelebt.

Kaum war die Griechenland-Hilfe beschlossen, wurde klar, dass sich hinter dem Baum der Wald versteckte. Die dritte Phase der kapitalistischen Krise war eingeläutet: die Europäisierung von Milliarden-Verlusten von Banken und Privatunternehmen. In einer Nacht- und Nebelaktion, in der sich auch noch das Parlament selbst entmachtete, wurde der nächste Rettungsring ins offene Meer geworfen. Über 750 Milliarden sollen die tödliche Konkurrenz der EU-Staaten am Leben erhalten.

Nun werden die Billionen an Euros, die im Euroraum zum Überleben von Banken und Konzernen eingesetzt wurden, aus denen herausgepresst, die in der Logik dieses Wirtschaftssystems kein -ºsystemisches Risiko-¹ also keine Gefahr darstellen: Arbeitslose, Lohnabhängige, Geringverdienende, das -ºletzte Drittel-¹. Es folgt nun die Sozialisierung der Krise. In fast allen Euro-Ländern werden Schock- und Verarmungsprogramme beschlossen.

In Griechenland kam es zu mehreren befristeten Generalstreiks. In Italien, Spanien und Portugal werden die Möglichkeiten dazu ausgelotet. In Deutschland spricht der DGB-Chef Sommer davon, die Betriebe zu mobilisieren.

-ºWir bezahlen nicht für eure Krise-¹


Als der Vorschlag kam, im März 2009 zu Großdemonstrationen unter dem Motto -ºWir bezahlen nicht für eure Krise-¹ aufzurufen, lehnte die Gewerkschaftsspitze eine Unterstützung mit der Begründung ab, das sei alles viel zu früh. Die Gewerkschaftsbasis und viele linke Gruppierungen riefen dennoch dazu auf: Was für die Gewerkschaftsspitze viel zu früh war, war für über 40.000 Menschen gerade richtig: Auf der Demonstration in Frankfurt beteiligten sich ca. 20.000 Menschen, in Berlin wollen die VeranstalterInnen noch mehr gezählt haben. Inhaltlich reichte das Spektrum von einer sympathischen Verweigerungshaltung bis zur grundsätzlichen Systemkritik. Praktisch und realpolitisch herrschte danach in allen politischen Spektren bleierne Stille. Man überließ den Herrschenden das Tempo, die Richtung, die Schlagzeilen und wartete in banger Ohnmacht auf das, was kommen musste.

Ein Jahr später, am 12.6.2010 fanden unter demselben Motto zwei Großdemonstrationen in Stuttgart und Berlin statt. Bei vorsichtiger Schätzung waren zusammen ca. 40.000 Menschen auf der Strasse, etwa genauso viele wie im Jahr zuvor. Bei nüchterner Analyse kein Erfolg, sondern Ausdruck politischen Stillstandes, was die Zahl der TeilnehmerInnen, vor allem aber, was die Ziele solcher Demonstrationen anbelangt. Vor einem Jahr ahnte man, wer für die Kapitalverbrechen in Billionen Höhe zahlen wird. Das Verarmungsprogramm für das -ºletzte Drittel-¹ lag in der Luft, jedoch noch nicht auf dem Tisch. Während die politische Klasse ihnen Fahrplan einhielt und ihrem Credo folgt: -ºWir lassen immer andere für unsere Krise bluten-¹, drehten sich die Demonstrationen im Kreis gemachter Erfahrungen. Denn das Motto -ºWir bezahlen nicht für eure Krise-¹ wird nicht durch seine Wiederholung eingelöst, sondern durch politische und praktische Konsequenzen, die daraus gezogen werden. Alle wissen und spüren es: Man kann noch Hundert Mal auf die Strasse gehen kann, Warnungen und Drohungen ausstoßen, ohne am Lauf der Dinge etwas zu ändern, solange man dieses Verarmungsprogrammen kritisiert und im wirklichen Leben ausbadet.

-ºDie Geschichte wiederholt sich nicht und wenn als Farce-¹.


Das gilt nicht nur für die politische Klasse, also auch für jede Art der Opposition. Bei aller Sympathie für Menschen, die zum ersten Mal auf einer Demonstration waren, hat diese Wiederholung etwas Komödiantisches: Das Verarmungsprogramm steht und absolviert ungestört seinen parlamentarischen Weg, während man trotzig und wirklichkeitsfremd durch die Strassen ruft: Wir bezahlen nicht für eure Krise. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob man der Symbolik einen zivilgesellschaftlichen oder revolutionären Charakter gibt. Beide gehen wirkungslos denselben Weg, von A nach B, ohne eine Praxis, eine Handlungsmöglichkeit aufzuzeigen, die nicht nur etwas (ganz) Anderes fordert, sondern selbst etwas (ganz) Anderes tut.

Auf diesen wie auf den Demonstrationen ein Jahr zuvor wurden viele Forderungen aufgestellt und adressiert. Damals standen sie richtungweisend im Raum und zur Auswahl. Heute stehen sie genau so zahlreich, genau wahllos nebeneinander. Mit welchen Forderungen will man die Businessräume der Adressaten betreten -“ nicht symbolisch, sondern geschäftsschädigend, störend?

Welche Ziele kann man mit wem und mit welchen Mitteln durchsetzen? Wie muss ein Konzept aussehen, dass die Angst vieler berücksichtigt, ohne vor ihr zu kapitulieren?

Zwischen den ersten Demonstrationen und heute liegt zeitlich über ein ganzes Jahr. Praktisch, politisch, strategisch ist man auf der Nulllinie stehen geblieben.

Man muss kein -ºBerufsdemonstrant-¹ sein, um zu wissen, dass Forderungen nicht eingelöst werden, in dem man sie wiederholt, sondern indem man die politisch Verantwortlichen dazu zwingt, ihnen nachzugeben.

-ºEs geht auch anders-¹ stand auf vielen Transparenten der Demonstration in Stuttgart. Wer würde das bestreiten? Nicht diese Feststellung ist falsch, sondern die fortgesetzte Untätigkeit, dafür zu sorgen, dass das -ºAndere-¹ auch passiert, aus dem Himmel der Andeutungen herabsteigt, um es in einer gemeinsamen Praxis sicht- und erlebbar zu machen.

Weder die Demonstration in Berlin noch in Stuttgart hatten das Ziel, über die Demonstration von zaghaften bis wilden Absichten hinauszugehen. Sie waren im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt. In Stuttgart konnte der Fraktionsvorsitzende der SPD im Landtag, Claus Schmiedel, die Bühne -ºentern-¹, obwohl die SPD aus gutem Grund nicht Teil des Bündnisses war. Es folgten wütende Proteste, nicht nur aus dem -ºrevolutionären Block-¹, sondern gerade auch aus dem breiten Spektrum der -ºStuttgart-21-¹ GegnerInnen, die seit Monaten gegen ein haarsträubendes, korruptes Prestigeprojekt protestieren, das weiteres öffentliches Eigentum privaten Investoren zum Schnäppchenpreis überlassen will.

Mit Rufen wie -ºWer hat uns verraten -“ Sozialdemokraten. Wer war mit dabei -“ die grüne Partei-¹ oder -ºHartz IV -“ das wart ihr-¹ und Rufen gegen -ºStuttgart21-¹ wurde seine Rede gestört. Und als auch noch Tomaten und Eier flogen, wurden BFE-Einheiten auf die Bühne geholt, als hätten sich die Macher der Satire-Sendung -ºNeues aus der Anstalt-¹ all das ausgedacht.

Nicht die Eier und Tomaten, die diese Politik trafen, sind der Skandal, sondern die Tatsache, dass ein SPD-Politiker reden konnte, der die Politik der Agenda 2010 konsequent bis in die letzte Haarspitze dieser Gesellschaft treibt. Ein Politiker, der nicht die Privatisierung des Staates und die wachsende gesellschaftliche Verarmung kritisiert, sondern dass all dies - auf Bundesebene - nicht von der SPD fortgesetzt wird.

Vielleicht hat einigen dieses Spektakel gefallen, vielleicht haben sich viele über diese Abrechnung gefreut. Auch wenn das der Stimmung und Schadenfreude möglicherweise gut getan hat, bleibt etwas ganz entscheidendes auf der Strecke: Diese Demonstration ist in ihrer Grundausrichtung hinter der des letzten Jahre zurückgefallen: Ein Bündniskonsens nämlich, der ganz praktisch und lebensnah davon ausgeht, dass sich SPD -“ Grüne und CDU-FDP als ehemalige und aktuelle Regierungsparteien nicht unterscheiden, sondern lediglich in ihrem zeitweiligen Oppositionsgehabe. Das schließt nicht die Mitglieder oder WählerInnen dieser Parteien aus, jedoch deren politische Repräsentanten -“ auf der Bühne.

In Berlin hielt dieser Bündniskonsens. Dafür dominierte wieder einmal ein schikanöses Polizeikonzept. Eine rot-rote Polizeistrategie, mit der viele gerechnet hatten, und genauso viele nicht darauf vorbereitet waren. Kleinere, meist unkoordinierte Versuche, sich genau das nicht (länger) gefallen zu lassen, mündeten in Auseinandersetzungen, die die Polizei vorbestimmen, im Verlauf diktieren und am Ende als Rechtfertigung ihres Vorgehen zweitverwerten konnte.

Es wird Zeit, dass sich der Wind dreht!

All diese Erfahrungen sind in folgenden Aktionsaufruf eingeflossen. Er ist ein Aufruf an alle, an GewerkschaftlerInnen, an Lohnabhängige, Arbeitslose, RentnerInnen, außerparlamentarische Gruppen und Organisationen, diesen Weg gemeinsam zu gehen. Der Aufruf leugnet nicht die verschiedenen politischen Positionen und Differenzen. Er will sie nicht gegeneinander in Stellung bringen, sondern fruchtbar machen. Der Aktionsaufruf versucht, die Gemeinsamkeiten verbindlich und bindend zu machen. Die politischen Unterschiede werden in diesem gesellschaftlichen Prozess sicht- und streitbar bleiben, als Aufruf zur gemeinsamen, öffentlichen Debatte.


"Aufstand. Jetzt."
Frankfurter Rundschau (2010)

Bundesweiter Aufruf: -ºDie Verursacher und Profiteure der Krise blockieren-¹

"Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen." Multimilliardär Warren E. Buffet, 2005.

Klassenkrieg - das wollten die meisten nicht hören und nicht verstehen. Aber sie bekamen es zu spüren. Wie in anderen Ländern Europas wurden Löhne und Renten gekürzt, Leih- und Zeitarbeit systematisiert, der Niedriglohnsektor, das Prinzip -ºArmut durch Arbeit-¹ ausgeweitet, Arbeitszeiten verlängert, das Leben zusammengestaucht.

Die Gewinne explodierten, die Renditen in der Wirtschaft stiegen auf 15 -“ 20 Prozent. In der Finanzbranche wusste man selbst dies zu steigern. Profite von 50 bis 150 Prozent innerhalb von Minuten waren keine Seltenheit. Es herrschte Partystimmung im Business- und Wellness-Bereich.

Dann brachen die ersten Banken wie Kartenhäuser zusammen, ein weltweiter Kreislaufkollaps des Kapitalismus drohte. Die Schreihälse der -ºSelbstheilungskräfte des Marktes-¹ verstummten und der Staat übernahm mit mehr als 500 Milliarden Euro die Rettung des privaten Bankensektors.

Nun werden die Billionen an Euros, die im Euroraum zum Überleben von Banken und Konzernen eingesetzt wurden, aus den Lohnabhängigen und Arbeitslosen herausgepresst. In fast allen Euro-Ländern werden Schock- und Verarmungsprogramme beschlossen. Denn zumindest die Herrschenden sind sich einig: Wir zahlen nicht für unsere Krise, solange diejenigen stillhalten, die für uns immer bluten müssen.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung will den Staatshaushalt in den nächsten drei Jahren um ca. 80 Milliarden Euro kürzen. 37 Prozent der geplanten -ºEinsparungen-¹ betreffen den Sozialbereich. Niemand braucht darüber diskutieren, ob das sozial ausgewogen ist. Es gibt nichts mehr zu analysieren, es gibt nichts mehr zu erklären. Hören wir also endlich auf, uns mit Klagen über soziale Kälte und sozialem Kahlschlag heißer zu reden und folgenlose Drohungen auszustoßen. Es ist Zeit, Taten folgen zu lassen!

Für den 12. Juni wurde unter dem bekannten Motto -ºWir zahlen nicht für eure Krise-¹ abermals zu Großdemonstrationen in Berlin und Stuttgart aufgerufen. Die tatsächliche Mobilisierungskraft, die Zerwürfnisse innerhalb der Bündnisse und deren Verlauf waren eher von politischer Stagnation, als von Ermutung und greifbaren Perspektiven geprägt.

Alle wissen, dass die Parole -ºWir zahlen nicht für eure Krise-¹ längst von der Realität überholt ist. Wenn wir mit diesem kleinsten gemeinsamen Nenner ernst machen wollen, dann müssen wir mehr tun, als mit vielen Menschen auf die Strasse zu gehen. Wir müssen die Richtung ändern, wir müssen die Symbolik hinter uns lassen, wir müssen dafür sorgen, dass die Angst die Seite wechselt. Es ist höchste Zeit, dass sich der Wind dreht, damit das Feuer nicht länger die Hütten niederbrennt, sondern die Paläste der Brandleger heimsucht.

Gründe gibt es mehr als genug. Und an Aufrufen mangelt es ebenfalls nicht. Nehmen wir z.B. diesen: "Aufstand. Jetzt! Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir? Die erste Bürgerpflicht nach Vorlage des schwarz-gelben Spardiktats heißt: Aufstand jetzt! (...) Es richtet sich in aller erster Linie gegen die sozial Schwachen. Die eh am wenigsten haben, sollen am meisten verzichten. Da mögen Merkel und Westerwelle von Fairness und Ausgleich reden, was sie wollen. Fakt ist: Sie lügen. Und noch schlimmer: Sie wissen das." (FR vom 8.6.2010)

Sparen wir uns also die Zeit ellenlanger Erklärungen. Worauf es jetzt ankommt, dieser Wut eine Richtung, einen Ort, eine Chance zu geben -“ damit die Wut uns nicht auffrisst und die individuelle Ohnmacht nicht länger unseren Alltag bestimmt.

-ºWir sind nicht länger eure Geldautomaten-¹

Als gemeinsame Aktion einer bundesweiten Kampagne schlagen wir vor, die Zentralen von zwei -ºsystemischen Banken-¹ der Deutschen Bank und der Commerzbank in Frankfurt für einen Arbeitstag zu blockieren. Ziel ist es, den Geschäftsbetrieb zu stoppen, die Business-Party für einen Tag auf den Kopf, also auf die Füße zu stellen. Unsere Forderung ist schlicht: Ihr zahlt die Billionen Euro, die euer Finanzkrieg gekostet hat. Wir werden euch nicht in Ruhe lassen, wir werden wiederkommen, an vielen Orten, zu den unpassendsten Gelegenheiten und Zeiten.

Mit einem bundesweiten Aufruf ist weder alles gesagt, noch alles getan. Es ist ein Anfang gemacht, ein Signal gesetzt, mit dem Ziel, dass in der Folge in allen Städten, in jeder Woche an einem Tag eine Bank mit -ºsystemischen Risiko-¹ belagert wird. Der Weg ist lang und offen, er führt über Banken, über ihre Beteiligungen an Konzernen, bis hin zu den politischen -ºBeraterstäben-¹, den Headquarters der Regierung.

Dazu brauchen wir ein gemeinsames Startsignal; einen langen Atem und ein Konzept, das möglichst vielen eine Teilnahme ermöglicht. Wir brauchen ein Konzept, das zwischen folgenlosen, störungsfreien Demonstrationen und Fantasien vom Aufstand oder Generalstreik einen Weg beschreibt und beschreitet.

Wir sind überzeugt davon, dass es hier in Deutschland weder an Analysen noch an Forderungen fehlt, die entweder den Kapitalismus -ºzügeln-¹ oder aber überwinden wollen. Über die Richtigkeit der Analysen und Forderungen wird aber nicht auf dem Papier oder in Konferenzen entschieden, sondern in einem gesellschaftlichen Prozess, der möglichst viele Menschen zu Handelnden macht. Gelänge es uns, in einem großen Bündnis die Zeichen umzukehren, jenen endlich Angst zu machen, die seit Jahren mit unserer Angst spielen und von ihr leben, dann hätten wir noch genug Zeit, über die nächsten Schritte zu beraten und zu entscheiden. Im Rahmen unseres Aktionskonzepts schlagen wir folgende zentralen Forderungen vor:
  • Sofortige Einführung einer Finanztransaktionssteuer
  • Besteuerung aller Vermögen über 1 Million mit 5%
  • Sofortige Umsetzung der Forderung nach 500,- Euro Hartz IV-Eckregelsatz, 10 Euro Mindestlohn und einer 30-Stunden Arbeitswoche bei vollem Lohnausgleich
Als Aktionskonsens schlagen wir vor, uns am Dresdner Konzept gegen den Neonaziaufmarsch im Januar 2010 zu orientieren. Eine gute Basis, in der Entschlossenheit und Breite, Radikalität und Masse nicht gegeneinander stehen, sondern miteinander verzahnt werden. Ein Konzept, das für viele in Heiligendamm 2007 spürbar, in Dresden 2010 erfolgreich war und bei den angekündigten Castor-Transporten 2010 für eine neue Qualität des Widerstands sorgen wird.

Als Termin für eine zentrale Aktion in Frankfurt schlagen wir euch den Herbst 2010 vor. Wir bitten euch, uns noch vor den Sommerferien eure Zustimmung/Ablehnung zukommen zu lassen. Eine Zustimmung, die den Weg betrifft, nicht die Details, die wir gemeinsam besprechen müssen.

Mit dem entsprechenden Votum werden wir zu einer Aktionskonferenz für Samstag, 11. September 2010 nach Frankfurt einladen.

Gruppen, Organisationen, Einzelpersonen, die diesen Aufruf unterstützen, bitten wir um eine Nachricht an folgende Adresse: ag_georg.buechner@yahoo.de

Auf dass sich der Wind dreht." (Aktionsgruppe Georg Büchner & Co. Juni 2010)


Die Kugel rollt durch den Raum. Es ist zu hoffen, dass möglichst viele sie aufgreifen. Die Richtung, die die Kugel nehmen soll, ist beschrieben, über das Gewicht und die Wurfweite entscheiden alle Beteiligte.

Wer noch einmal in Ruhe einen Blick auf die angerissen letzten 20 Jahre werfen will und auch der Frage nachgehen will, wie viel Reform, wie viel Radikalität und wie viel Utopie ein Kampf braucht und aushält, dem sei folgender Text ans antagonistische Herz gelegt: http://wolfwetzel.wordpress.com/2009/03/25/alles-geht-kaputt-alles-geht-kaputt-und-ich-lache-2/

Via Eyes wide Shut

Dresden - zwischen 1945 und 2010

In Dresden demonstrieren Polizei- und Landesführung lange vor den Neonazis

2009 marschierten im Schutz von über 4.000 Polizisten 1 mehr als 6.000 Neonazis durch Dresden. Unter dem Motto -ºGegen den Bombenterror der Alliierten-¹ wollen sie am 13. Februar erneut durch Dresden paradieren.

Der Ort ist gut gewählt: -ºDresden-¹ steht auch für den rechten Opferdiskurs der bürgerlich-rechten Mitte, die mit der Bombardierung Dresdens 1945 durch die Alliierten das Terrorregime der Nazis zu relativieren versucht.

Erneut werden es AntifaschistInnen nicht nur mit dem größten Neonaziaufmarsch in Europa zu tun haben. Neben dem honorigen -ºOpferdiskurs-¹ werden wieder Tausende Polizisten aufgeboten werden, ohne die Dresden nicht zum Wallfahrtsort für Neonazis werden könnte.

Ob man will oder nicht: Jeder Aufruf, diesen Neonaziaufmarsch zu verhindern, wird mit mehr konfrontiert sein als den Neonazis.

-ºDresden Nazifrei -“ Gemeinsam blockieren-¹

Normalerweise sorgen bereits unterschiedliche politische Einschätzungen für Abgrenzungen und Spaltungen. Ein genau so (ge-)wichtiger Trennungsgrund sind die Aktionsformen. Will man einen Neonazi-Aufmarsch tatsächlich verhindern oder unter Einhalten aller Auflagen und Demonstrationseinschränkungen symbolisch Widerspruch einlegen? Ist ein Aufruf zur Blockade eines Neonazi-Aufmarsches legitim oder ein Aufruf zur Straftat?

Rund um den Aufmarschort Dresden hat sich ein breites Bündnis zusammengefunden, das zur Überraschung vieler diese Hürden überwunden hat.

Anstatt die vorhandenen politischen Unterschiede zur Spaltung zu treiben, hat man sie produktiv zum Bestandteil eines Bündnisses gemacht. Breiter Konsens besteht darin, durch mobile Massenblockaden den Aufmarsch zu verhindern. Das Bündnis reicht von Gewerkschafts- und Parteigliederungen, über Basisgruppen, Personenbündnisse (vom OB in Jena bis zu Konstantin Wecker in München) bis hin zu autonomen Antifa-Gruppen.

Die Spaltung -ºböse Antifa-¹ und ehrenwerter -ºberechtigter Protest-¹ scheint nicht aufzugehen.

Tausende haben mit ihrer Unterschrift ihre Bereitschaft zur Teilnahme an Blockaden bekundet und öffentlich gemacht. Tausende Plakate und Flugblätter rufen in aller Ruhe und Entschiedenheit dazu auf, den Neonazi-Aufmarsch zu verhindern -“ nicht im Geiste, sondern vor Ort, am Ort des Geschehens.

Wer schützt wen oder was?

All das hat die Polizei- und Stadtführung in Dresden in helle Aufregung versetzt und das LKA auf den Plan gerufen: Um ein Klima der Angst zu schaffen, wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt, Plakatierende festgenommen und Plakate beschlagnahmt. Zum ersten Mal wurde auch das Kommunikationsmittel Internet angegriffen und die Webseite des Bündnis -ºNazifrei -“ Dresden stellt sich quer-¹ blockiert.

Wer erinnert sich nicht an die Empörung von Regierung bis Regierungsmedien, die die Angriffe im Iran und in China auf Web-Seiten der Opposition als unerträgliche Eingriffe in die Presse- und Meinungsfreiheit anprangerten und als totalitären Geist geißelten?

Ob diese staatliche Reaktion im Vorfeld des Neonaziaufmarsches dumm, überzogen, totalitär ist oder nach hinten losgeht, wird sich in den nächsten Tagen herausstellen. Die ersten Reaktionen sind sehr ermutigend: Über 200 Personen haben sich seit diesem Repressionsangriff in die Blockadelisten neu eingeschrieben. Tausende von Plakaten werden neu gedruckt und -“ öffentlich angekündigt -“ verteilt. Über 300 Organisationen und Gruppen, sowie über 1.100 Einzelpersonen haben sich bislang dem Aufruf angeschlossen.

Bleibt die Frage: Handelt es sich bei diesen Polizeirepressalien im Vorfeld um -ºÜberreaktionen-¹? Gegen wen und was richten sich diese?

Gilt doch der alte Spruch: -ºDeutsche Polizisten schützen die Faschisten-¹

Ein Blick über die Stadtgrenze kann helfen, diese Repressalien einzuordnen und politisch zu werten.

In Frankfurt, aber auch in vielen anderen Städten (westlicher Bundesländer) sind antifaschistische Verhinderungsaktionen gegen Neonaziaufmärsche -“ in aller Regel -“ nicht deshalb erfolglos, weil Neonazis so stark, so viele und gut organisiert sind. Sie werden einzig und allein durch ein riesiges Polizeiaufgebot und den politischen Willen von Regierungsparteien geschützt, die diesen gigantischen Repressionsapparat politisch rechtfertigen. 8.000 Polizeibeamte wurden am 7.7.2007 in Frankfurt aufgeboten, ganze Stadtteile abgeriegelt, U- und S-Bahnen außer Betrieb gesetzt, um einen Aufmarsch von 800 Neonazis durchzusetzen. Das von der Polizeiführung bemühte -ºAbstandsgebot-¹ zwischen Neonazis und AntifaschistInnen ist dabei so vordergründig wie politisch motiviert. In vielen anderen Städten wurden und werden antifaschistische Behinderungsaktionen geduldet (wie in Offenbach, Tübingen etc.). Es muss also an etwas anderem liegen als am fehlenden polizeilichen (also politisch gedeckten) Spielraum.

Beweisen diese Polizei- und Politikpraxen nicht, dass neofaschistische Organisationen die Rolle einer -ºfünften Kolonne-¹ einnehmen? Schützt die CDU in Hessen tatsächlich diese Neonazis? Braucht die CDU-FDP-Landesregierung in Sachsen Neonazis?

Ich bezweifele diesen politischen Kurzschluss. Wer die Politik der hessischen CDU in den letzten Jahren verfolgt (von der Doppelpasskampagne 1999 (-ºKinder statt Inder-¹), über Antiislamismus (Burka-Verbot in Hessen) bis hin zur rassistischen, deutsch-nationalen Kampagne gegen -ºausländische Kriminelle-¹, wird feststellen müssen, dass diese Politik ohne jede Schützenhilfe der NPD/REP-™s auskommt. Nicht die neofaschistischen Parteien treiben den Extremismus der Mitte vor sich her, sondern umgekehrt: Die neofaschistischen Parteien haben Mühe, Koch & Co zu überbieten -“ wobei nicht unwichtig dabei ist, dass sie dies bestenfalls ideologisch können, machtpolitisch bleibt es heiße Luft. Dieses Wechselverhältnis lässt sich am Beispiel des -ºMoscheestreits-¹ in Frankfurt-Hausen sehr eindrucksvoll belegen. Die Mischung aus christlichem Fundamentalismus, Antiislamismus und Rassismus, die sich in dem -ºBürgerprotest-¹ ausdrückte, brauchte keine neofaschistische Anleitung und Führung. Die Argumente, mit denen die Bürger von Hausen gegen einen Moscheebau auftraten, holten sie sich aus der Mitte. Ähnlich breit ist auch die Empörung gegen den -ºBombenterror-¹ der Alliierten aufgestellt.

Die größte Herausforderung für rechte Regierungen sind nicht die Neonazis, sondern ein Antifaschismus, der bei Neonazis nicht Halt macht

Warum also diese gigantischen Polizeiaufgebote? Jenseits politischer und ideologischer Nähen zwischen rechten und neofaschistischen Parteien, ist etwas anders ganz entscheidend: Es geht um ein Demokratieverständnis, dass weder den Antifaschismus, noch das Recht, das Leben selbst zu gestalten, dem Staat überlässt. Auf die Frage, warum die Frankfurter Polizeiführung Tausende Polizisten aufbietet, um 800 Neonazis zu schützen, antwortete der Frankfurter Polizeipräsident Thiele überraschend unmissverständlich: Der Antifaschismus sei die "größte Herausforderung" 2. Wenn man weder von einer blindwütigen Polizei ausgeht noch die Polizeistrategie auf die Personalie eines Polizeipräsidenten reduziert, kann man eine strategische Option entdecken: Bereits vor dem G-8-Gipfel in Heiligendamm 2007 haben BKA und Verfassungsschutzexperten das potenziell handlungsfähige, in ihrem Verständnis -ºgewaltbereite-¹ Protestpotenzial sehr genau beschrieben: Die einzigen politischen, aktionsfähigen und repressionserfahrenen Gruppen der letzten zehn Jahre haben sich rund um antifaschistische Gruppierungen, Zusammenschlüsse und Ereignisse gebildet. Sie gehören zu den wenigen politischen Gruppierungen, die immer wieder versuchen, aus dem mittlerweile normal gewordenen Polizeikonzept der Wanderkessel, der Umwandlung von Demonstrationen in mobile Gefangenentransporte auszubrechen bzw. sich davon nicht abschrecken lassen.

Martialische Polizeiaufgebote zielen jedoch nicht nur auf die unmittelbar Beteiligten: Das Gefühl, solchen Szenarien nicht gewachsen zu sein, schreckt viele ab und lässt sie zuhause blieben.

Es gehört zu den politischen Errungenschaft der letzten Jahren in Frankfurt, dass es gelungen ist, die unterschiedlichen politischen Spektren, die eine Verhinderung von Nazi-Aufmärschen vor Ort befürworten, zusammenzubringen. 2001-2002 war dieses Zusammenwirken eher spontan und zufällig. Ab 2003 entwickelte sich ein punktuell gemeinsames politisches und organisatorisches Vorgehen, das von der Anti-Nazi-Koordination/ANK, über Gewerkschaftsgliederungen bis zu autonomen Antifa-Gruppen reichte. Selbstverständlich sind identitäre Zuschreibungen, wer militant, also wirklich entschieden ist und wer bürgerlich, also nicht ernst zu nehmen ist, nicht überwunden. Dennoch gelang es in den letzten Jahren, Unterschiede nicht zum Endpunkt, sondern zum Ausgangspunkt gemeinsamer Überlegungen zu machen. Das Ergebnis dieser jahrelangen Auseinandersetzungen war ein gemeinsames Konzept zur Verhinderung des Neonazi-Aufmarsches am 7.7.2007, in dem verschiedene Aktionsformen und Handlungsmöglichkeiten nicht zur Abgrenzung dienten, sondern aufeinander bezogen wurden. Dies schloss die Anfahrtswege genauso ein wie den Demonstrationsort selbst -“ was äußerst erfolgreich war.

"Masse und Entschiedenheit" Konstantin Wecker

Auf sympathische und beeindruckend klare Weise hat Konstantin Wecker in dem aktuellen Video-Clip auf dies Polizeischikanen im Vorfeld reagiert: Ohne die politischen Unterschiede zu verwischen, hat er ein ungemein zentrale Erkenntnis in den Mittelpunkt des gemeinsamen Vorgehens gestellt: "Antifaschismus überlässt man nicht dem Staat".3

Wenn dieser Konsens bis zum Tag des geplanten Aufmarsches am 13. Februar hält und darüber hinaus, dann hätte der Antifaschismus eine große Hürde genommen -“ nicht nur gegenüber den Neonazis und der Polizei(repression), sondern vor allem im Umgang mit den notwendigen Unterschieden innerhalb eines solchen Bündnisses.

Wolf Wetzel, 25.1.2010, zuerst veröffentlicht im Blog des Autoren: "Eyes wide shut"

Der Autor beteiligte sich zwischen 2001 und 2008 an den hier genannten Blockadeaktionen gegen Neonazi-Aufmärsche in Frankfurt

"Insgesamt rund 4.300 Polizisten sorgten am 14. Februar für Sicherheit in Dresden", so die Polizeidirektion Dresden. Telepolis vom 16.2.2009 So erklärte der Polizeipräsident Thiel gegenüber der FAZ vom 28.6.2007, dass "die -ºgrößte Herausforderung-¹ ..... die Gegendemonstranten sein (werden) -“ zum großen Teil Anhänger von linksradikalen Gruppierungen wie der -ºAntifa-¹."
3
http://www.youtube-nocookie.com/watch?v=X7gCnsRmKpM

Monopoly - Verkaufe Schlossplatz und Bahnhof…

Mediaspree versenken 2009. © Foto: Wolf Wetzel
In den letzten Jahren kam Bewegung in verschiedene Stadtteile bundesrepublikanischer (Groß-)Städte nicht von unten, sondern von ganz oben: So kämpfen seit ein paar Jahren in Berlin Initiativen gegen eines der größten Investoren ­ projekte, entlang der Spree Kommunikation -“ und Medienunternehmen ("Mediaspree") anzusiedeln.

In Hamburg hat die Künstlerszene ein Teil des zum Abriss freigegebenen Terrains besetzt, um gegen die Umstrukturierung eines ganzen Viertels zu protestieren -“ mit Erfolg: Die Stadt Hamburg hat dieses Areal vor Kurzem von den Investoren zurückgekauft, um es als "weichen Standortfaktor" zu verwerten. In Hanau geht die Stadt soweit, öffentliche Gebäude, städtische Wohnungen und Plätze im Innenstadtbereich en bloc, mit "Mann und Maus" an den meistbietenden Investor1 zu verkaufen. In Frankfurt soll öffentliches Eigentum, das Universitätsgelände in Bockenheim für eine "grüne" Bebauung abgerissen und weitgehend an Investoren verkauft werden.

Seitdem geistert das Wort "Gentrifizierung" durch dunkle Ecken und Hochhausschluchten vieler Großstädte.

An dem unverständlichen Wort hängt eine Zündschnur: Wenn es die Richtigen unter den Richtigen benutzen, ist damit viel Geld zu verdienen, denn es geht um die "Aufwertung" und "Veredlung" von Stadtgebieten, der jene zum Opfer fallen, die sich das nicht leisten können.

Wenn es die Falschen in verdächtigen Zusammenhängen benutzen, wie z.B. der Stadtsoziologe André Holm, dann kann man dafür wochenlang in den Knast kommen. (vgl. Literatur als Waffe der Kritik)

Die Brisanz dieser Entwicklung hat zwei Gravitationszentren, die sich gegenseitig beschleunigen:

Zum einen folgt die rasante Privatisierung gesellschaftlichen Eigentums der sukzessiven Privatisierung von sozialen Sicherungssystemen (Rentenkürzungen, Einschränkung von gesetzlich garantierten Leistungen im Gesundheitswesen usw.). Ideologisch wird das mit der Behauptung verbrämt, der Staat müsse endlich falsch verstandene Daseinsfürsorge aufgeben, solle sich nicht länger als Garant von Lebenschancen aufspielen und die "Schwachen" vor dem wirklichen Leben in Schutz nehmen. Seitdem werden alltäglich die Mantras von der "Eigenverantwortung" , "Eigenvorsorge" und "Selbstoptimierung" vorgebetet.

Dass das Stahlbad des "freien Marktes" ein gigantisches Blendwerk ist, wird uns allen angesichts der größten Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren vorgeführt: Während immer mehr Menschen in prekäre Lebensumstände getrieben werden, werden Milliardenunternehmen im Bankensektor mit Milliarden an Steuergeldern am Leben gehalten, anstatt sie -“ der eigenen Ideologie folgend -“ den Gesetzen des "freien Markt" zu überlassen und Pleite gehen zu lassen.

Diese gigantische und grotestke Staatsverschuldung hat Folgen, nicht für die Banken, sondern für alle, die diese Krise ausbaden und finanzieren sollen. Das Tempo, in dem öffentliches, gesellschaftliches Eigentum verkauft werden "muss" steigt gewaltig an, um den lecken Staatshaushalt, die vielen verschuldeten kommunalen Haushalte zu sanieren: Man verkauft alles, was nicht niet- und nagenfest -“ an jene, die für diese Wirtschafts- und Finanzkrise verantwortlich sind. Eine geradezu selbstmörderischer Kreislauf, wie man ihn an dem Projekt "Stuttgart 21" mit Fassungslosigkeit bestaunen darf.

Das private-public "Unternehmen Stadt"

Unter dem Mantra "Zukunftsfähigkeit" soll der Stuttgarter Bahnhof und ganze Arreale drumherum für den internationalen Wettbewerb fit gemacht werden: "Das Projekt ist seit Jahren umstritten: In Stuttgart soll der Bahnhof mitsamt Gleisen in Tunneln verschwinden. Die Kosten dafür explodieren, das Vorhaben wackelt. Dennoch sollen jetzt die Arbeiten starten."2

Die Stadt Stuttgart, das Land Baden-Württemberg und der Bund stellen Milliardenbeträge aus öffentlichen Mittteln bereit, um dieses Megaprojekt "Stuttgart 21" zu finanzieren. Der Clou an der Sache ist, dass diese öffentlichen Gelder in ein Projekt gesteckt werden, das nach dem Willen der Bundesregierung privater nicht sein kann: Die Deutsche Bahn AG ist auf dem Sprung, ein ganz normales Privatunternehmen zu werden.

Der Protest dagegen wird lauter und prominenter, und die Versuche, diesen wirkungslos zu machen, nehmen beängstigende Ausmasse an: Eine "vom Bundesverkehrsminister Tiefensee zugesagte Wirtschaftlichkeitsberechnung wird bis heute der Öffentlichkeit vorenthalten, angeblich weil das den Unternehmensinteressen der Deutschen Bahn AG schade."3

Die Kritik am Gigantismus dieses Bauvorhaben verhallte genau so, wie ein Gegenkonzept. Schließlich wurde 2007/08 ein Bürgerbegehren mit über 60.000 Unterschriften für Bedeutungs- und rechtlos erklärt. Und die Landes-SPD ist auf dem besten Weg, sich in dieser Frage zu spalten. Während beharrlich am Baubeginn 2010 festgehalten wird, sickern immer mehr Fakten durch, die belegen, wie sich ein Kartell aus Lokal- und Landespolitkern, Banken, Großunternehmen und Deutscher Bahn AG Geld, Posten und Gefälligkeitsgutachten gegenseitig zuschieben.4

Aus der Geschichte lernen?

Im Folgenden geht es darum, auf einen Umstrukturierungsplan zurückzublicken, der wie kein anderer die Geschichte einer Stadt geprägt und als "Häuserkampf in Frankfurt" einen Legendenstatus erreicht hat. Vielleicht auch deshalb, weil dessen Aus- und Nachwirkungen nicht paradoxer sein können:

Zum einen hatten diese Kämpfe zur Folge, dass diese Pläne weitgehend zum Kippen gebracht werden konnten. Zum anderen haben bekannte Protagonisten dieses Häuserkampfes zugleich reales und kreatives Kapital daraus schlagen können:

• Joschka Fischer (Ex-Umweltminister/Außenminister, Unternehmensberater für BMW)
• Daniel Cohn-Bendit (Ex-Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt)
• Tom Königs (Ex-Stadtkämmerer und Umweltdezernent in Frankfurt, Ex-Sonderbeautragter im Kosovo und in Afghanistan)
• Johnny Klinke (Direktor des Varietés Tigerpalast/Frankfurt und Goethe-Plakette-Träger)
• Ralf Scheffler (Besitzer von Nachtleben und Batschkapp/Frankfurt)5 usw.

Häuserkampf in Frankfurt 1970-74

Joschka Fischer © Foto: Wolf Wetzel
Die Politik des Tabula rasa der 70er Jahre

Der Häuserkampf in Frankfurt zwischen 1970 und 1974 hat eine bis heute dunkle, geradezu mafiose Vorgeschichte: Auf das Jahr 1967/68 wird der sogenannte "5-Finger-Plan" datiert, für den der damalige SPD-Planungsdezernent Hans Kampffmeyer verantwortlich zeichnete. Es handelte sich dabei um eine informelle Skizze eines Bebauungsplanes, die entlang der Bockenheimer Landstraße eine "intensive Bebauung" , also Hochhäuser vorsah. Ganze Straßenzüge mit zum Teil herrschaftlicher Wohnsubstanz sollten dafür angerissen werden.

Obwohl diese Wunschliste keinerlei Rechtsgültigkeit hatte, ein Plan "unter dem Tisch" also, wurden im Vorgriff auf noch nicht existierende Bebauungspläne baurechtliche Zusagen erteilt. Diese waren an eine weitere informelle Bedingung geknüpft: Die Investoren sollten Areale von einer "Mindestgröße von 2.000 Quadratmetern" 6 zusammenkaufen. In der Folgezeit wurden ganze Häuserzeilen und karres aufgekauft, bis zum Jahr 1974 waren es mehr als 100 Häuser7. Damit kauften sie nicht nur 15 Prozent des gesamten Stadtteils auf, sondern auch 3.000 Menschen, die in diesen Häusern wohnten und vertrieben werden sollten.

Doch nicht diese bewegte die Investorengruppen, sondern die insgesamt eine Milliarde Mark, die mithilfe des "5-Finger-Plans" verschoben, bewegt und investiert werden sollte. Dass dieser Deal auf Großinvestoren und damit verbundene Haus-Banken zugeschnitten war, liegt in der Natur der Sache: Ganze sieben Einzelkäufer bzw. Investorengruppen teilten das Bombengeschäft unter sich auf.

Wie eng dieses mafiose Geflecht aus politischen Stadteliten, Investorengruppen und Banken war, belegt ein weiteres Indiz: Zur Finanzierung dieser Coups waren die Investoren auf Millionenkredite angewiesen, die ihnen insgesamt sieben Banken zur Verfügung stellten. Zu diesen gehörte auch die Hessische Landesbank/Helaba, die zur Hälfte dem damals sozialdemokratisch regierten Land Hessen gehörte. Im Vorstand dieser Bank saß u.a. der damalige hessische Ministerpräsident Albert Oswald (SPD) und damalige Frankfurter Oberbürgermeister Rudi Arndt (SPD).

Neues Frankfurt © Foto: Wolf Wetzel
Es dauerte eine Weile, bis der großflächige Aufkauf von Häusern mit dem besagten "5-Finger-Plan" in Verbindung gebracht wurde und für Unruhe unter der betroffenen Bevölkerung im Frankfurter Westend sorgte. Im Zuge der folgenden Auseinandersetzungen schaffte sich die Stadtregierung zwei Gegner, die schlechter nicht zusammenpassen, oder strategisch betrachtet, sich nicht besser ergänzen konnten:

Zum einen die Westendbevölkerung, die im Großen und Ganzen der Mittel- bzw. Oberschicht angehörte und zu einem beachtlichen Teil Klientel der regierenden Stadtparteien war. Sehr bald wurde die Aktionsgemeinschaft Westend (AGW) gegründet, die öffentlichkeitswirksam auf die Zerstörung ihres Stadtteils hinwiesen und bis ins bürgerlich-konservative Lager hinein viel Sympathie hatte. Dieser Zuspruch vergrößerte sich, als augenscheinlich wurde, dass der Abriss von gut erhaltener Bau- und Wohnsubstanz mit brutalen Methoden der Entmietung, mit Terror gegen nicht auszugswillige MieterInnen, mit gezielten Sabotageaktionen einherging, um so die nötigen Abrissgenehmigungen zu erhalten.

Zum anderen gab es ein studentisch-rebellisches Milieu, das gerade dabei, den Niedergang der 68er Bewegung abzustreifen, und neue politische Horizonte zu entdecken: Es gab Gruppen, die in Obdachlosensiedlungen "Randgruppenarbeit" machten. Aus ähnlichen Motiven heraus waren andere Gruppen dabei, eine "revolutionäre" Betriebsarbeit vorzubereiten, die nicht die Kernarbeiterschaft im Auge hatte, sondern die "Gastarbeiter" , die in vielen (Auto-)Fabriken unter miesen Bedingungen arbeiteten und meist in werkseigenen (Not-)Unterkünften ihren "Gaststatus" behalten sollten.

In die Lücke zwischen skandalösen Umständen und appellativen und wirkungslos gebliebenen Aktionen der AGW stießen die ersten drei Hausbesetzungen im Jahr 1970 im Westend. Getragen wurden sie von Obdachlosen und MigrantInnen, unterstützt von politischen Gruppen aus den beschriebenen politischen Interventionsbereichen.

Zur Überraschung vieler ernten diese Besetzungen nicht nur viel Verständnis in der (medialen) Öffentlichkeit. Ihnen folgte auch keine sofortige gewaltsame Räumung, von der viele anfangs ausgehen mussten. Diese Initialzündung war Auftakt für eine Reihe von weiteren Besetzungen, bis die SPD-Regierung den Schock verarbeitet hatte und sich auf eine Art Doppelstrategie einigen konnte:

Zum einen wurde angekündigt, jede weitere Besetzung mit polizeilicher Gewalt zu verhindern. Bandagiert wurde diese harte Linie mit der Zusage, Zweckentfremdung von Wohnraum durch eine Verordnung (das sogenannte Sozialbindungspapier, das 1972 in Kraft trat) verhindern zu wollen. Damit einher ging eine 1971 erlassene "Veränderungssperre" , die die informell gemachten Zusagen für Hochhäuser einfror.

Doch diese Eindämmungspolitik fiel in der Phase (1970-72), wo sich der Protest ausdehnte und radikalisierte. Neben den über zehn besetzten Häusern begann sich ein Mietstreik auszudehnen und so den Kreis der InitiatorInnen zu überschreiten. Die Forderung "Zehn Prozent Lohn für die Miete" spiegelte die Absicht wider, Arbeits- und Lebensbedingungen nicht getrennt, sondern als ein voneinander abhängiges Verhältnis zu begreifen. Während sich also die Bewegung über den Mietstreik verbreiterte und sich die besetzten Häuser über den Häuserrat organisierten, kam es am 29. September 1971 zur nächsten Hausbesetzung im Grüneburgweg 113. Entsprechend der städtischen Ankündigung, künftige Hausbesetzungen zu verhindern, wurde ein Großaufgebot an Polizei auf den Weg geschickt, die Hausbesetzung zu beenden. Die Polizei ging brutal vor, das Ergebnis war eine gewaltige Straßenschlacht, die sich über Stunden hinzog ... und ungewohnte Wirkung hatte.

Was für gewöhnlich als Begründung für mehr Polizei und härteres Vorgehen herhalten muss, war nun Anlass für einen überraschenden Rückzug. Irritiert von den negativen (öffentlichen) Reaktionen auf die Räumung machte der Oberbürgermeister Böller (SPD) eine verbale Kehrtwende: "Schockiert über die blutige Konfrontation kündigte OB Böller tags darauf eine Revision seiner im November 1970 erlassenen Verfügung an, derzufolge weitere Hausbesetzungen von der Polizei verhindert und besetzte Häuser auf Antrag der Eigentümer geräumt werden sollten. Ihm sei die Gesundheit von Polizisten und Demonstranten zu schade, um sie für die Interessen von Hausbesitzern aufs Spiel zu setzen, die ihre soziale Verpflichtung aus dem Eigentum so entscheidend vernachlässigen."8

Ob diese verblüffende Äußerung der massiven Gegenwehr oder der öffentlichen Kritik am "überharten" Einsatz der Polizei geschuldet war, lässt sich nicht klären. Tatsache bleibt, dass sich an der "Räumungslinie" nichts geändert hat, nachdem noch im selben Jahr zwei weitere Häuser besetzt wurden, denen im Jahr 1972 weitere folgten.

Die Jahre 1973-74 waren folglich von zahlreichen gewaltsamen Räumungen bzw. der Verteidigung der Häuser bestimmt, wobei die Schlachten um den Kettenhofweg (1973) und die Räumung des "Blocks" Schumannstraße 69-71/Bockenheimer Landstraße 111-113 (1974) in die Annalen des Frankfurter Häuserkampfes eingehen sollten.

Auch wenn die meisten besetzten Häuser geräumt und der normalen Verwertung wieder zugeführt wurden, hinterließ der Häuserkampf tiefe Spuren in der Stadtgeschichte

Die regierenden Stadtparteien dampften den "5-Finger-Plan" fürs Westend ein. Der groß-bürgerliche Stadtteil kam mit einem blauen Auge davon. Insgesamt 24 Häuser, die bereits aufgekauft wurden und abgerissen werden sollten, sind als Wohnhäuser erhalten geblieben.9 Statt Abriss folgten Luxussanierungen. Heute ist das Westend ein bevorzugter Wohnort für Banker und grüne Stadteliten.

Wie stark die Ereignisse in den Köpfen der Beteiligten präsent geblieben sind, wie diese auch politische Einstellungen erschüttern konnten, machte eine Begegnung deutlich, die fast 40 Jahre später im legendären Club Voltaire in Frankfurt stattfand -“ zwischen dem damaligen RK-Mitglied Tom Koenigs und dem damaligen SPD-Polizeipräsidenten Knut Müller. Als es um die Frage ging, welche Rolle die Gegen-Gewalt in den Auseinandersetzungen spielte, kam es zu folgendem ungewöhnlichen Dialog:

Knut Müller: "Die Politik hätte damals handeln müssen. Es war aber kein urwüchsiger Prozess im Westend, das da also ein paar Spekulanten sich bereichern wollten und auf den Hochhausbau hofften. Letzterer war erklärtes Ziel der SPD-Regierung im Römer mit ihrem Fünf-Finger-Plan das Viertel mit Bürobauten zu durchziehen. Dieses politische Ziel war irrsinnig, es hätte zur Zerstörung eines der wenigen noch erhaltenen Frankfurter Stadtviertel geführt. Ich sage es heute wie damals: dass das Westend erhalten blieb ist das objektive Ergebnis der Hausbesetzerszene, deren Methoden ich immer noch nicht billige.

Tom Koenigs: Wäre es auch so gekommen, wenn wir keinen einzigen Stein geworfen hätten?"

Knut Müller: "Ich will Ihnen gar nicht ausweichen. Ich bin sicher, dass das Maß der Gewalt entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Politik umdachte."10


Die Ereignisse zwischen 1970 und 1974 haben nicht nur mental Spuren in der Stadtgeschichte Frankfurts hinterlassen: Sie kamen der Stadt Frankfurt auch teuer zu stehen:

Zehn Jahre später stellten in über 50 Fällen Westend-Investoren finanzielle Forderungen an die Stadt Frankfurt, die sich auf einen zweistelligen Millionenbetrag summieren: "Mit der massenhaften Anmeldung von Regressforderungen läuten die ohnehin als streitbar bekannten Westend-Bodenaufkäufer wohl die entscheidende Runde ein, um auf dem planungsrechtlich beordneten Spekulationsgebiet der 60er Jahre nun doch noch zu klingender Münze zu kommen. Wie der Anwalt dieser Geschäftsleute bestätigt, tauchen in dem Katalog auch wieder sämtliche Adressen auf, die als sogenannte "Keller-Leichen" wegen behaupteter Zusagen für Bürobauten gleichermaßen berühmt und berüchtigt wurden."11

Die "Leichen im Keller" wollten und sollten vergoldet werden. Bis heute findet man keine einzige offizielle Stellungnahme politisch Verantwortlicher, in der die Summe aufgeführt ist, die die Stadt Frankfurt zur Abwendung von Prozessdrohungen aufgewendet hatte. Man darf aber davon ausgehen, dass neben dem stattgefundenen Rückkauf von Häusern auch andere lukrative Kompensationsgeschäfte das Klima zwischen Investoren, Banken und Stadteliten wieder kapitalfreundlich gestimmt hatte.

Die Geschichte wiederholt sich nicht und wenn als lukrative Farce

In Stuttgart wurde Ende dieses Jahres das "Milliardenprojekt Stuttgart 21" durch alle parlamentarische Gremien gewunken. Was für ein profitables Weihnachtsgeschenk die öffentlichen Hände der Bahn AG damit gemacht haben, verrät ein internes Papier12 des DB-Vorstandes. Bereits 2002 tätigte die Stadt Stuttgart ein Scheingeschäft: Für 459 Millionen Euro "verkaufte" das Staatsunternehmen Deutsche Bahn die für das S21-Projekt notwendige Baugrundstücke an das Staatsunternehmen Stadt Stuttgart.

Im Fall des Scheiterns sah der Finanzierungsplan eine Rückzahlung mit einem Niedrig-Zinssatz von 5,5 Prozent vor. Damit war nicht nur das unternehmerische Risiko in öffentlicher Hand übergegangen. Man bereicherte damit auch die DB, ohne dass diese dafür einen Finger krumm machen mußte. Da der Baugebinn für das Jahr 2010 projektiert war, konnte die DB das Geld ohne jede Zweckbindung renditeträchtig anlegen. "Fachleute wie Michael Holzhey von der Beratungsfirma KCW veranschlagen den Vorteil für den Konzern auf mehrere 100 Millionen Euro. "Die Verzinsung des DB-Kapitals liegt bei fast neun Prozent pro Jahr." "13

Quelle: -“ Wolf Wetzel 21.12.2009 Autor der dokumentarischen Erzählung "Tödliche Schüsse" , Unrast Verlag, 2008

Eine leicht gekürzte Fassung findet sich bei Telepolis vom 28.12.2009: Unternehmen Stadt

Fußnoten:
1 "Der "Wettbewerbliche Dialog" in Hanau bezeichnet ein Auswahlverfahren, an dessen Ende die Stadtverordnetenversammlung einem Investor den Auftrag erteilt, fünf Plätze in der Hanauer Innenstadt umzugestalten: Schlossplatz, Altstädter Markt, Freiheitsplatz, Marktplatz und der Bereich um die Niederländisch-Wallonische Kirche." Innenstadt-AG des Hanauer Sozialforums

2 Stuttgart 21 -“ das Milliarden-Grab, FR vom 24.11.2009

3 Peter Conradi (SPD), aus seiner Rede bei der Kundgebung gegen "Stuttgart 21" am 24. September 2007

4 Das Stuttgart 21-Kartell, http://www.leben-in-stuttgart.de/

5 "Was man aber nicht geglaubt hätte: Dass der harte Männerkern des RK (alle hier Aufgeführte waren Mitglieder im revolutionären Kampf/RK, d.V.) eine Eliteschmiede sein könnte. Dreißig Jahre nach den Debatten um Steine oder Bomben sitzen die Revolutionäre aus der Batschkapp in Führungspositionen: Der Außenminister a.D. ist jetzt Professor, seine Universitäten waren die Straßen. Seine Genossen werden Botschafter, UNO-Beauftragte, Europaabgeordneter und Varietédirektor, Kabarettstar (R.I.P.), Gourmetkoch, oder sie erforschen die eigene Geschichte an renommierten Instituten. Einen trug die Lebensreise gar in die Chefredaktion der Welt, ein anderer steht dem Feuilleton der Frankfurter Rundschau vor." taz.de vom 14.04.2007

6 http://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter Häuserkampf

7 "Rund 50 Spekulanten -“ oder genauer: Spekulationsfamilien -“ besitzen heute im Frankfurter Westend mehrere 100 Häuser. Das sind über 160.000 qm oder 15 % dieses gesamten Stadtteils, in dem 20.000 Menschen wohnen." Häuserrat Frankfurt, Wohnungskampf in Frankfurt, Trikont-Verlag 1974, S.15

8 Pressebericht vom 4.10.1971, zit. nach Häuserrat Frankfurt, Wohnungskampf in Frankfurt, Trikont-Verlag 1974, S.41/42

9 http://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter Häuserkampf

10 Aufgezeichnet am 28. April 2008 im Club Voltaire, zitiert nach: http://www.pflasterstrand.net/blog/?p=1536

11 FR vom 13.2.1980

12 Geheimpapier -“ Bahn profitiert von Projekt Stuttgart 21, FR vom 19.12.2009

13 s.o.

Das neue Polizeigesetz in Hessen - Eine anstaltseigene schwarz-gelbe Realsatire

Im Dezember dieses Jahres haben die Regierungsparteien CDU und FDP im hessischen Landtag die Novellierung des hessischen Polizeigesetzes beschlossen: "Ziel der Änderungen ist es, die technischen Fahndungsmöglichkeiten der Sicherheitskräfte zu verbessern, um insbesondere der Bedrohung durch Terroristen besser begegnen zu können.... Holger Bellino (CDU) wies auf die neuen Herausforderungen der Sicherheitskräfte hin. Terrorismus, organisierte Kriminalität und Menschenhandel seien -ºnicht mit einer Kuschel- oder Wohlfühl-Kriminalistik zu bekämpfen-¹. Insbesondere die sogenannte Quellen-Telekommunikations-Überwachung und die Nutzung automatischer Kennzeichenlesesysteme seien Kernanliegen der CDU, weil zur Verhinderung von Terroranschlägen und anderen schweren Straftaten unabdingbar. Innenminister Volker Bouffier (CDU) sprach von einem -ºGesetz, das sich sehen lassen kann-¹."1

Im Wesentlichen werden im verschärften Hessischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG)2 folgende neue Grundrechtseingriffe erlaubt:

Die vom Bundesverfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärte -ºautomatische Kennzeichenerfassung-¹, die auch in Hessen praktiziert wurde, wird nun im zweiten Anlauf bei -ºkonkreter Gefahr-¹ wieder legalisiert.

Die ebenfalls vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärte -ºOnlinedurchsuchung-¹ von Computern wird über die sogenannte Quellen-Telekommunikations-Überwachung (mithilfe von eingeschleuster Software werden Online-Telefonate über externe Befehle ausspäht) als Light-Version wieder eingeführt.

Die Kritik aus allen Oppositionsparteien reicht von inszenierten Gefahrenlagen, die durch (eigene und befreundete) Geheimdienste unkontrollierbar selbst geschaffen werden (können), bis hin zu unverhältnismäßigen Grundrechtseingriffen, deren Überprüfung auf Verfassungsmäßigkeit sich die SPD vorbehalten hat.

"Jürgen Frömmrich (innenpolitische Sprecher von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fasst seine Kritik in zwei Punkten zusammen: -ºErstens besteht keine Notwendigkeit für die angestrebten Befugniserweiterungen. Das deutsche Recht bietet bereits alle zur Herstellung der inneren Sicherheit notwendigen Rechtsgrundlagen. Dies wurde auch bei der Anhörung bestätigt, so vom Anzuhörenden Dr. Patrick Breyer bezüglich der geplanten Wohnraumüberwachung und Rasterfahndung. Er führte aus: -ºDie Strafprozessordnung deckt die Bereiche begangener Straftaten, versuchter Straftaten (§ 22 StGB), geplanter Verbrechen (§ 30 StGB) und terroristischer Gruppierungen (§129a StGB) bereits ab.-¹"3

Über inszenierte und tatsächliche Gefahrenlagen

In einem Land, in dem Kriegskassen der CDU als -ºjüdische Vermächtnisse-¹ getarnt, über Liechtensteiner Stiftungen (Passwort -ºZaunkönig-¹) illegale Parteispenden anonymisiert und gewaschen wurden, in einem CDU-Land, in dem "jugendliche Intensivtäter", gerne mit Migrationshintergrund, in Erziehungslagern und im Warnschussarrest verschwinden sollen ... in einem solchen Land muss man jede Wahnvorstellung ernst nehmen, jeder selbst gelegten Spur folgen, also richtig Angst bekommen, um die BürgerInnen davor -“ mit aller Härte -“ schützen zu können.

Wenn irgendjemand bis zum heutigen Tag in den Genuss der -ºVerständnispädagogik-¹, der -ºKuscheljustiz-¹ und neuerdings der -ºWohlfühlstatistik-¹ gekommen ist, dann ist es diese Partei mit christlichem Hintergrund, die seit fast 30 Jahren fortgesetzt Steuerhinterziehung, politische Einflussnahmen, Ver- und Begünstigungen, Verschleppungen, Verschleierungen und Strafvereitelung im Amt betreibt.

Es sind mittlerweile über acht Jahre vergangen, in denen leitende Beamte der Oberfinanzdirektion und des hessischen Finanzministeriums eine Treibjagd auf lästige Steuerfahnder veranstaltet haben, ohne dass die Verantwortlichen bis heute dafür strafrechtlich belangt und wegen Amtsmissbrauch zum Rücktritt gezwungen worden wären. Gerade weil man den lästigen -ºZeugen-¹ nichts anderes vorwerfen konnte, als die Verfolgung von Großkriminellen ernst genommen zu haben, wurden sie mit rechtswidrigen Disziplinarverfahren eingeschüchtert, mit Verleumdungen diskreditiert, mittels Versetzungen -ºkaltgestellt-¹, bis man schließlich ihre Psychiatrisierung betrieb -“ ein System des -ºArchipel Gulag-¹, das man nur der ehemaligen Sowjetunion zutraute.

Wie viele CDU-Mitglieder, Spender, Sponsoren und Amigos wären heute noch im Amt, wenn man nur die bestehenden -ºtechnischen Fahndungsmöglichkeiten-¹ auf die genannten Fälle von Korruption und Regierungskriminalität anwenden würde?

Wie viele im System -ºDon Roland-¹ verbrächten heute ihre Tage in Kuscheljustizanstalten, wenn die bereits bestehende Telekommunikations-Überwachung auf jene angewandt werden würde, die im Auftrag der CDU Schwarzgeldkonten im Ausland -ºpfleg(t)en-¹, Begünstigung im Amt, Falschaussagen und kriminelle Absprachen am Telefon aufeinander abstimmen und koordinieren?

Der ganz normale Wahnsinn


Der innenpolitische Sprecher der FDP, Wolfgang Greilich, sprach allen Ernstes vom "liberalsten Polizeigesetz" in der hessischen Geschichte. "Wir stärken die Bürgerrechte, wir stärken die Grund- und die Freiheitsrechte."4

Ob er das im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gesagt hat oder lügt, bis sich die Balken biegen, lässt sich so ohne Weiteres nicht klären.

Aber dafür gibt es ausgezeichnete Ärzte, Ärzte, die sich bewährt haben, den Gesundheitszustand und die psychische Verfassung von Staatsdienern objektiv und neutral zu begutachten. Ich schlage dafür den kompetenten, von der hessischen Oberfinanzdirektion und dem hessischen Finanzministerium gleichermaßen geschätzten Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann vor. Der Mann hat ein feines Gespür für Irre: Nach Auskunft der Landesregierung begutachtete dieser seit Oktober 2005 exakt 22 Fälle in der Finanzverwaltung - in zwei Dritteln dieser Fälle sei er zum Urteil -ºDienstunfähigkeit-¹ gelangt.

Geht also mit rechten Dingen zu, dann kann man mit aller größter Sicherheit davon ausgehen, dass das Gutachten des Psychiaters Dr. med. Thomas Holzmann auch im Fall des Herrn Wolfgang Greilich unter die Zweidrittelregel fallen wird, mit dem zwanglosen Vermerk:

Eine Nachuntersuchung ist nicht erforderlich ...

Da die Polizei und die Verfolgungsbehörden bekanntlich alle Hände voll zu tun haben werden, das neue Polizeigesetz mit Leben zu füllen, wäre dieser Weg sicherlich auch ein Beitrag zu ihrer Entlastung.

Sage jetzt bloß niemand, dass damit der Psychiatrisierung von politischen Gegnern das Wort geredet werde. Um dem Vorwurf der Ungleichbehandlung völlig zu entkräften, schlage ich als nächsten Untersuchungspatienten den Finanzminister Karlheinz Weimar (CDU) vor. Er hatte behauptet, dass seine Behörde mit den vorsätzlich falschen Gutachten über Steuerfahnder nichts zu tun habe. Tatsache ist, dass in einer Liste, die der FR vorliegt, eindeutig festgehalten ist, "dass die Gutachten des Psychiaters Thomas H. -ºim Auftrag der Oberfinanzdirektion bzw. von Finanzämtern-¹ erstellt worden sind."5

Auch in diesem Fall sollten wir voll und ganz auf die Urteilsfähigkeit dieses tüchtigen Psychiaters vertrauen, für den sich auch der Justizminister Banzer (CDU) höchstpersönlich verbürgte: Dieser nannte die Diagnosen im Fall der vier Steuerfahnder -ºnachvollziehbar-¹. Deshalb habe es -ºfür eine kritische Hinterfragung hinsichtlich der fachlichen Qualität der Gutachten-¹ keinen Anlass gegeben."6

Also Herr Banzer: Der Nächste bitte ...

Das System -ºArchipel Gulag-¹

Im Folgenden stelle ich eine Chronologie vor, die die Ereignisse um die vier psychiatrisierten Steuerfahnder in Frankfurt zusammenfasst. Ich kann versichern, dass diese Chronologie völlig unvollständig ist und nur die Spitze des Eisberges darstellt:

1996ff

Die Steuerfahnder im Finanzamt V in Frankfurt sind gefährlich erfolgreich und sind an der Aufdeckung von zahlreichen Skandalen beteiligt:
Steuerfahnders Marco Wehner "ist dabei, als Frankfurter Steuerfahnder gegen den ehemaligen Schatzmeister der CDU, Walther Leisler Kiep ermitteln. Das dunkelste Kapitel der Hessen-CDU. Es geht um illegale Parteispenden, getarnt als -ºjüdische Vermächtnisse-¹ und um Steuerhinterziehung im großen Stil, um Millionen von Schwarzgeld, das die CDU in einer Stiftung in Liechtenstein versteckt hat. Marco Wehner ist auch dabei, als Frankfurter Fahnder die Daten von Hunderten deutschen Anlegern auf einer CD-ROM erhalten. Auch hier geht es um Schwarzgeldkonten in Liechtenstein. Rund 80 Fälle aus Frankfurt sind dabei, doch Wehners Chef und seine Fahnder werden von hohen Vorgesetzten des Finanzamtes ohne Begründung zurückgepfiffen." FR vom 21.11.2009
Bereits damals war der Druck sehr groß: Als der Steuerfahnder Schmenger vom Finanzamt V 1996 die Commerzbank wegen Tausender Fälle von Steuerhinterziehung durchsuchen sollte, meldete sich der damaliger Vorstandssprecher der Commerzbank Martin Kolhaussen beim Bundeskanzleramt höchstpersönlich: "Man sei -ºin Sorge um den Finanzplatz Deutschland-¹ (...) Steuerfahnder Schmengers Antwort, als er dennoch die Vorstandsetage der Bank durchsuchte, war: -ºDann sagen Sie dem Bundeskanzler schöne Grüße von der Steuerfahndung Frankfurt!-¹" FR vom 4.8.2009

1999

Mithilfe -ºSchwarzer Kassen-¹, als -ºjüdische Vermächtnisse-¹ getarnt, und einem rassistischen CDU-Wahlkampf -ºLieber Kinder satt Inder-¹ kommt in Hessen eine CDU/FDP-Regierung an die Macht. Der Wind dreht sich -“ auch für die Steuerfahnder. Neuer hessischer Finanzminister wird Karlheinz Weimar (CDU).

2000

Jürgen Rauh leitete jahrelang Finanzämter. 2000 wird er zum Direktor der hessischen Staatsbäder ernannt. Er soll im Rahmen der Privatisierungswelle von öffentlichem Eigentum "Kur- und Heilanstalten, eine Rheumaklinik, eine Herz- und eine psychosomatische Klinik sowie Burgen gewinnbringend an Investoren verkaufen" (FR vom 28.11.2009). Als treues CDU-Mitglied macht er sich an die Arbeit. "Beim Verkauf der Burg Stauffenberg verhandelte Rauh mit den Pächtern der Burg, die zuletzt 2,2 Millionen D-Mark für den Kauf anboten." Das hessische Finanzministerium interveniert und findet einen anderen -ºInteressenten-¹ -“ und verkauft die Burg für 950.000 D-Mark. Als er den entstandenen Verlust von über einer Million DM beklagt, kehrt man den Spieß um, ermittelt gegen ihn wegen -ºVerdachts der Untreue-¹ und versetzt ihn in die Oberfinanzdirektion Frankfurt. Der leitende Regierungsdirektor klagt gegen seinen obersten Dienstherrn und wird im Jahr 2006 vor dem Landgericht Wiesbaden freigesprochen.

2001

2001 erlässt das Finanzamt Frankfurt auf Anweisung des hessischen Finanzministeriums die Verfügung, nur noch Geldtransfers ins Ausland zu untersuchen, die die Summe von 500.000 Mark überstiegen.

Einige Steuerfahnder protestieren gegen diese Verfügung. Zuerst werden ihnen größere Steuerhinterziehungs-Fälle entzogen. Als sie weiter protestieren, werden sie im Rahmen von -ºDisziplinarmaßnahmen-¹ versetzt.

"Ein Teil von ihnen wird in die -ºServicestelle Recht-¹ versetzt ... eine Geisterstation ... -ºMan nannte die Servicestelle Recht behördenintern auch -ºStrafbataillon-¹ oder -ºArchipel Gulag-¹" STERN Nr 51 vom 11.12.2008

In Folge wird das komplette Fahnder-Team für Großbanken zerschlagen und aufgelöst.

Auch der Bankenkoordinator bei der Steuerfahndung, Eckhard Pisch, wehrt sich gegen diese Amtsverfügung -“ und wird nur "zwei Tage nach seinem schriftlichen Protest (...) versetzt. (FR vom 4.12.2009). Er wird an das Finanzamt Darmstadt abgeschoben.

Steuerfahnder Schmenger (und andere) klagen gegen die Disziplinarverfahren. Im Laufe der Prozesse gegen das Land Hessen tauchen -ºNebenakten-¹, bisher geheim gehaltene (Personal-)Akten auf. Er gewinnt den Prozess.

2003


"Schmenger muss die Steuerfahndung verlassen und wird zum 31. März 2003 in die Großbetriebsprüfung versetzt." STERN Nr 51 vom 11.12.2008

"Die 70 Fahnder der Steuerfahndung des Finanzamts Frankfurt V sind bestürzt über diese und andere Versetzungen und beschließen zu handeln." Im Sommer 2003 treffen sich 48 von ihnen und verfassen einen Brief an den Ministerpräsidenten Roland Koch: "Wir sind Steuerfahnder und Steuerfahndungshelfer des Finanzamts Frankfurt V und wenden uns an Sie, weil wir begründeten Anlass zu der Sorge haben, dass die Steuerfahndung Frankfurt am Main ihren Aufgaben nicht mehr gerecht werden kann, weil Steuerhinterzieher nicht in gebotenem Maße verfolgt werden können." Als es Tage später darum geht, den ausformulierten Brief zu unterschreiben, bekommen es viele mit der Angst zu tun. Der Brief wird nicht abgeschickt.

Dennoch gelangten der Brief und die Amtsverfügung in die Öffentlichkeit. Ein Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag wird eingerichtet. Kurz bevor der Steuerfahnder Schad, der die Versammlung der Steuerfahnder organisierte, als Zeuge gehört werden soll, wird er ins hessische Finanzministerium eingeladen: "Man eröffnet ihm -ºneue berufliche Perspektiven-¹. Bei seiner Aussage im Untersuchungsausschuss kann er sich plötzlich an vieles nicht mehr erinnern. Er erleidet einen -ºBlackout-¹ ... Nach seiner Aussage im Ausschuss darf Ex-Fahnder Schad aus dem -ºArchipel Gulag-¹ ins Innenministerium wechseln und sein Hobby zum Beruf machen. Er wird Referent für Leistungssport." STERN Nr 51 vom 11.12.2008

2004

Im September 2004 erhält der Ministerpräsident Roland Koch (CDU) auf dem Dienstweg ein Schreiben des Steuerfahnders Rudolf Schmenger, in dem er Führungskräften der hessischen Finanzverwaltung "Fälle von Strafvereitelung im Amt, falsche Verdächtigung, Verletzungen des Steuergeheimnisses, Verletzung des Personaldatenschutzes, Mobbing und Verleumdung" (FR vom 19.11.2009) anzeigt.


2006

"Mitte 2006 bekommt Rudolf Schmenger eine Aufforderung der Oberfinanzdirektion, sich medizinisch begutachten zu lassen." Der Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann diagnostiziert eine lebenslängliche -ºparanoid-querulatorischen Entwicklung-¹: "Da es sich bei der psychischen Erkrankung um eine chronische und verfestigte Entwicklung ohne Krankheitseinsicht handelt, ist seine Rückkehr an seine Arbeitsstätte nicht denkbar und Herr Schmenger als dienst- und auch als teildienstunfähig anzusehen." STERN Nr 51 vom 11.12.2008

2007

1. Oktober 2007

Steuerfahnder Marco Wehner wird im Rahmen einer -ºFachärztlichen Untersuchung-¹ am 1. Oktober 2007 vom Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann untersucht.
In seinem psychiatrischen Gutachten behauptet der Psychiater, Marco Wehner sei "unheilbar psychisch krank" und leide "unter Anpassungsstörungen. (...) Eine Nachuntersuchung sei nicht erforderlich ...." FR vom 21.11.2009

Auch alle anderen Steuerfahnder landen ebenfalls bei dem Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann. Er schreibt sie unisono lebenslang dienstunfähig. Die Begründungen sind nahezu gleichlautend: "paranoid querulatorische" Entwicklungen und "Anpassungsstörungen" ...

Steuerfahnder Rudolf Schmenger lässt sich auf eigene Veranlassung im Universitätsklinikum untersuchen: In diesem Gutachten wird nichts -ºirres-¹ festgestellt, im Gegenteil: Er ist kerngesund. Seit dem 9. November 2007 liegt dieses Gutachten dem Finanzminister Karlheinz Weimar vor.

2009

1. April 2009

Am 1. April 2009 wird Marco Wehner vom Land Hessen zwangspensioniert. Auch die anderen Steuerfahnder werden im Rahmen dieser Säuberungswelle zwangspensioniert.

17.November 2009

Psychiater Dr. med. Thomas Holzmann "ist wegen fehlerhafter Gutachten über hessische Steuerfahnder zu einer Geldbuße von 12.000 Euro und einem Verweis verurteilt worden. Das entschied das Berufsgericht für Heilberufe beim Verwaltungsgericht Gießen, wie das Gericht mitteilte. Die Kammer sei überzeugt, dass der Facharzt vier Gutachten -ºnicht entsprechend den fachlichen Anforderungen erstellt-¹ habe." FAZ vom 17.11.2009

11. November 2009

"Die Staatsanwaltschaft Frankfurt teilte mit, man habe noch am 12. Oktober 2009 wegen -ºVerfolgung Unschuldiger-¹ gegen Verantwortliche der Finanzbehörden ermittelt, habe das Verfahren aber jüngst eingestellt." FR vom 19.11.2009

15. Dezember 2009

In der Affäre um vier hessische Steuerfahnder, die mit vorsätzlich falschen Gutachten für psychisch krank erklärt und aus dem Dienst entfernt wurden, erklärte Finanzminister Karlheinz Weimar (CDU): "Man sei dafür nicht zuständig. -ºDas ist Aufgabe des Hessischen Amts für Versorgung und Soziales, das dem Ministerium für Arbeit und Gesundheit unterstellt ist-¹, betonte ein Sprecher des Ministers." FR vom 15.12.2009

Der Nächste, bitte. Herr Koch.


Wolf Wetzel, 15.12.2009
Autor der dokumentarischen Erzählung -ºTödliche Schüsse-¹, Unrast Verlag 2008
www.wolfwetzel.wordpress.com

Fußnoten:

[1] FAZ vom 9.12.2009

[2] Angesichts der weiteren Verschärfungen des Polizeirechtes gerät schnell in Vergessenheit, dass bereits bestehende Repressionsmaßnahmen eine organisierte Willkür erlauben, wie z.B. der § 32 des HSOG, der ermöglicht, ohne konkreten Tatvorwurf Menschen bis zu sechs Tagen in -ºUnterbindungsgewahrsam-¹ zu nehmen. Vgl. :Vorbeugehaft -“ ein Nazigesetz gegen AntifaschistInnen, unter: http://wolfwetzel.wordpress.com/2002/08/20/vorbeugehaft-ein-nazigesetz-gegen-antifaschistinnen/

[3] Pressemitteilung vom 08.12.2009, Bündnis 90/Die Grünen Hessen

[4] s.o.

[5] FR vom 15.12.2009

[6] FR vom 3.8.2009

Mit krimineller Energie (zurück) in die Atomkraft?

Die schwarz-gelbe Regierung hat ihre Drohung mit dem Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Atomenergie wahr gemacht: Im Koalitionsvertrag ist das Ziel der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke festgeschrieben worden.
Als Noch-Umweltminister fasste Sigmar Gabriel/SPD die Tätigkeit der "Propagandazentrale der Atomkonzerne" (1) überraschend harsch so zusammen: "50 Jahre Atomforum - das bedeutet ein halbes Jahrhundert Lug und Trug." (2)
Dann tauchten auch noch -ºAkten-¹ auf, die belegen, dass die Entscheidung, das atomare Endlager in Gorleben zu bauen durch gezielte Manipulation von Gutachten und massive Einflussnahme von CDU-Politikern zustande kam. Seitdem ist es mucksmäusenstill.
Warum? Die CDU/CSU-FDP-Regierung brauchte nur auf die Schublade tippen, in der sich Dossiers befinden, die denselben kriminellen Umgang bei der Durchsetzung der Atomenergie auf Seiten der SPD-geführten Regierungen beweisen würde.

Im Folgenden geht es darum, einen Blick in diese Schublade zu werfen.

Im Bundestagswahlkampf 2009 stand neben der Frage: Wer bezahlt die Krise? die von FDP und CDU/CSU gestartete Kampagne zum Wiedereinstieg in die Atomenergie im Mittelpunkt.
Nach gewonnener Wahl machte sich das schwarz-grüne Lager zügig an die Umsetzung ihrer Drohung: Im Koalitionsvertrag ist das Ziel der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke festgeschrieben worden.

Die Zeit brennt unter den Nägeln: Der Ausstieg aus der Atomenergie mit festgeschriebenen Restlaufzeiten hätte das alsbaldige Aus für die nächsten Atomkraftwerke bedeutet. Mit Blick auf neue Regierungskonstellationen drosselten sogar einige Energiekonzerne die produzierte Strommenge alter Atomkraftwerke (wie im ältesten AKW in Biblis, das vom RWE-Konzern betrieben wird), um sie so in die erhoffte schwarz-gelbe Ära der Atomkraftrenaissance hinüber zu retten.

Es geht um unglaublich viel Geld: Die Verlängerung der Laufzeiten würde Milliarden von Euros -“ nicht nur - in die Taschen der Stromkonzerne spülen. Unter dem Titel: -ºUnsere Atomkraftwerke sind noch lange nicht am Ende ihrer Laufzeit-¹ rechnet der RWE-Chef Jürgen Großmann schon einmal laut durch: "Wir sind bereit, die Gesellschaft angemessen an diesem Mehrwert zu beteiligen ... Aber wir wollen auch ein kleines bisschen dabei verdienen ... Es wäre zu überlegen, ob wir 45, 50 oder 55 Prozent davon abgeben." (3) Ein Deal, der die illegalen Parteienfinanzierungen durch Industrie und Wirtschaft der letzten 30 Jahre in den Schatten stellen würde.

Es geht auch um die Gesundheit der Menschen, um eine Technologie, deren Restrisiko den kalkulierten Tod von Zehntausenden vom Menschen billigend in Kauf nimmt. Ein Restrisiko, für das AKW-Betreiber mit einer Haftungspflicht bis maximal 250 Millionen Euro nur symbolisch aufkommen - was zur Konsequenz hat, dass Gewinne privatisiert und die Folgen eines möglichen nuklearen Unfalls durch eine Staatsgarantie sozialisiert werden.
Was uns mit der Aufkündigung des 2001 in Kraft getretenen -ºAtomkonsenes-¹ (4) bevorsteht, war bereits vor Ausgang dieser Bundestagswahl zu spüren: Plötzlich tauchten Akten auf, die (trotz ihrer Lückenhaftigkeit) belegen, dass die Entscheidung, das atomare Endlager in Gorleben bauen zu wollen durch gezielte Manipulation von Gutachten, Expertisen, durch massive Einflussnahme von Politikern auf wissenschaftliche Gutachten erfolgte. Man kann getrost von einer professionellen Indiskretion ausgehen, von perfektem Timing und profundem Insiderwissen -“ aus dem Lager der SPD/Grünen, die die massiven Manipulationen durch die damalige CDU-Regierung in Land und Bund offenlegten.
Mit Blick auf das fünfzigjährige Bestehen des Atomforums fasste der Noch-SPD-Umweltminister Gabriel die Tätigkeit der "Propagandazentrale der Atomkonzerne" (5)
überraschend harsch so zusammen: "50 Jahre Atomforum - das bedeutet ein halbes Jahrhundert Lug und Trug." (6)
Man kann davon ausgehen, dass solch schwerwiegende und strafrechtlich relevante Vorwürfe Anzeigen und Ermittlungsverfahren zur Folge hätten, wenn sie nicht im Detail belegbar wären. Verständlicherweise schweigt die Atomindustrie, schweigt die CDU. Warum ist es seitdem so still geworden um diesen Gorleben-Fall? Warum legt man nur eine -ºKarte-¹ auf den Tisch, anstatt das ganze Spiel hinzuschmeißen? Warum kündigt man nur an, dass man einen Untersuchungsausschuss zu den frisierten und unter Verschluss gehaltenen Gorleben-Akten erwäge?

Ein Parteien-Poker (hinter verschlossenen Türen) statt lückenlose und öffentliche Aufklärung?

Warum SPD und Grünen eine -ºKarte-¹ nur anspielen, hat einen schlichten und beängstigen Grund: Auch CDU- und FDP-Kreise könnten -ºDossiers-¹ in die Öffentlichkeit lancieren, die belegen würden, dass sich bei der Durchsetzung der Atomenergie alle (Regierungs-)Parteien krimineller Machenschaften bedient haben, von der CDU/CSU über die FDP bis hin zur SPD, in deren Regierungszeit bekanntlich die maßgeblichsten Entscheidungen für einen geschlossenen Atomkreislauf (einschließlich einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage bis hin zu Endlagern) fielen.

Die kriminelle Einflussnahme auf Gutachten, die katastrophale Prognosen und -ºStörfälle-¹ vertuschen, ist also kein Privileg einer einzigen Partei, sondern Bestandteil der -ºGroßen Koalition-¹ in Sachen Atomenergie.


Der Physiker Prof. Sebastian Pflugbeil hat in Publik-Forum 3/2009 bereits auf die massiven Manipulationen bei der Interpretation von Gutachten über Kindersterblichkeit rund um Atomkraftwerke aufmerksam gemacht.

Eine weitere Studie, die Atomkraftwerke daraufhin untersuchte, ob sie einem -ºTerrorangriff-¹ Stand halten würden und im Ergebnis u.a. das AKW Biblis als Risiko einstufte, wird seit dieser -ºIndiskretion-¹ unter Verschluss gehalten und mithilfe des Siegels -ºgeheim-¹ einer rechtlichen und öffentlichen Überprüfung entzogen.
In dem hier dokumentierten -ºFall-¹ geht es um den glücklichen und seltenen Umstand, die Manipulation von Gutachten zugunsten der Atomenergie und die massive Einflussnahme von Aufsichtsbehörden nachzuweisen -“ ein -ºFall-¹, der nicht nur die CDU, sondern vor allem auch die SPD schwer belastet.

Die größte Leukämiedichte der Welt rund um Geesthacht.

Anfang der 90er Jahre sorgte eine wachsende Zahl von Leukämiefällen nahe des AKW Krümmel und des staatlichen Atomforschungszentrum GKSS (7) für große Unruhe. 1991 und 1992 wurden von den Landesregierungen Schleswig-Holstein und Niedersachsen Untersuchungskommissionen ins Leben gerufen. Die eine beendete ihre Arbeit ergebnislos, die zweite endete im Eklat: Die Mehrheit der darin versammelten Wissenschaftler legte ihre Arbeit nieder, nachdem sie die massiven Behinderungen durch Atomaufsichtsbehörde und Atomwirtschaft anprangerten: "Wir haben das Vertrauen in diese Landesregierung verloren."

Seitdem herrschte Stillstand in Sachen Ursachenforschung, während sich die Leukämiefälle zum weltweit größten Cluster verdichteten.

Der Vorwurf von Seiten der Bürgerinitiativen und renommierter Wissenschaftler ist gravierend: Die rund um Geesthacht gefundenen hoch radioaktiven Mikrokügelchen sind weder Wurmkot oder natürliche Nuklide, noch -ºEmissionen-¹ aus dem Atomkraftwerk Krümmel oder Fallout-Produkte aus dem AKW in Tschernobyl. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind sie das Ergebnis von (misslungenen) "besonderen kerntechnischen Experimenten" (8), die nur auf dem Gelände der GKSS stattgefunden haben konnten.

"Und keiner weiß warum ..."
2004 begannen die Journalistinnen Angelica Fell und Barbara Dickmann mit einer ZDF-Dokumentation über die Hintergründe der tödlichen Leukämieerkrankungen rund um Geesthacht. Im Mittelpunkt stand eine erneute Probenentnahme nahe der GKSS, die sie begleiteten und filmisch dokumentierten. Mit der Untersuchung dieser Proben beauftragte man das Institut für Mineralogie der Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt. Mit der Absicht, alle Parteien an einen Tisch zu bringen, setzten sich die Redakteurinnen auch mit dem Leiter der Reaktorsicherheit in Kiel, Dr. Cloosters in Verbindung. Sie informierten ihn über das Vorhaben und boten ihm an, an der Probenentnahme teilzunehmen. Dr. Cloosters zeigte sich interessiert und nannte zwei Bedingungen. Er wollte wissen, welches Institut mit der Untersuchung beauftragt wurde und nach welcher Methode die Bodenproben untersucht werden sollten. Die ZDF-Redaktion teilte den Namen des Instituts mit -“ und der Geologe Dr. Axel Gerdes, der die Untersuchung durchführte, legte schriftlich seine Untersuchungsmethode offen. Am 20.12.2004 wurden von Dr. Axel Gerdes in Gegenwart des ZDF-Teams eine Staubprobe und sechs Bodenproben aus der Elbmarsch genommen. Weder Dr. Cloosters noch ein anderer Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde waren zugegen. Begründung: "Das Sozialministerium hat eine Teilnahme an dem Drehtermin (...) vor dem Hintergrund jahrelanger Forschung und den dabei gemachten Erfahrungen nicht für zielführend gehalten und deshalb darauf verzichtet."  (9)

Sechs Wochen später, am 4.2.2005 erschien das ZDF-Team im Institut für Mineralogie. Man wollte das Ergebnis auch im Bild festhalten und Dr. Axel Gerdes Gelegenheit zur Erläuterung geben. Fazit seiner Untersuchung war: "Die gefundenen Uran- und Plutoniumkonzentrationen sind mit einer Ausnahme als relativ niedrig im Vergleich zu typischen Konzentrationen in Böden und Gesteinen Deutschlands... " (10)

Nach einem Moment des Schweigens und Nachdenkens bat die ZDF-Redakteurin Angelica Fell darum, Proben unter dem Mikroskop zu betrachten. Ihr Blick war auf den angeschlossenen Monitor gerichtet, als Frau Fell wenige Sekunden später rief: "Da ist eins. Das meine ich!"

Dr. Axel Gerdes schaute durchs Mikroskop. Zuerst fragte er: "Wo denn ...?"

"Da, da, sehen Sie nicht?" erwiderte Frau Fell und zeigte mit dem Finger auf den Monitor. Kurz darauf räumte Dr. Gerdes ein: "Da sind erstaunlich viele, so um die hundert Stück." (11)

Gefälligkeitsgutachten sind nichts Ungewöhnliches. Schwer bis unmöglich ist es im Einzelfall nachzuweisen, dass wirtschaftliche und/oder politische Einflussnahmen ein erwünschtes Ergebnis vorgeben. Im Fall des Mineralogischen Instituts hätten Zuschauer die äußerst seltene Gelegenheit gehabt, bei einem solchen Vorgang dabei zu sein - wenn diese Sequenz zur Ausstrahlung gekommen wäre...
Fakt ist: Die hier beschriebene Filmsequenz wurde aus dem am 2.4.2006 im ZDF ausgestrahlten Film: "Und keiner weiß warum... Leukämietod in der Elbmarsch" herausgeschnitten. Die ZDF-Redaktion begründete diesen Schritt mit belegten Aussagen des Institutsleiters Prof. Gerhard Brey, der mit rechtlichen Schritten drohte, sollte diese Sequenz in die Öffentlichkeit gelangen.
Was versetzte den Institutsleiter Prof. Gerhard Brey in solche Panik?

Menschliches Versagen oder angewiesene Blindheit?
Natürlich ist es peinlich, wenn vor laufender Kamera ein Laie -ºmit bloßem Auge-¹ etwas sieht, was ein Experte nicht finden, also auch nicht analysieren konnte. Die sichtbare Verlegenheit resultierte jedoch nicht daraus, dass Dr. Axel Gerdes ein Fehler unterlaufen war. Die Szene hält fest, dass ein Wissenschaftler vor laufender Kamera dabei ertappt wurde, eine Manipulation zu decken.
Der Leiter der Reaktoraufsichtsbehörde in Kiel schlug zwar das Angebot aus, bei der Bodenprobeentnahme teilzunehmen. Er blieb jedoch alles andere als untätig. Unmittelbar vor Untersuchungsbeginn nahm Dr. Cloosters Kontakt mit dem Institutsleiter Dr. Gerhard Brey auf. Den Inhalt des Gespräches gibt Dr. Axel Gerdes so wieder: "Inzwischen kam ein Anruf vom Ministerium (...) an meinen Chef, ob er wüsste was ich/wir machen etc. Er hat wohl meinem Chef auch über die wilden Spekulationen bezüglich der Kügelchen erzählt, daraufhin hat mein Chef befürchtet, dass unsere Untersuchungsergebnisse, falls sie nur etwas leicht Ungewöhnliches zeigen, benutzt werden, um die Kügelchenspekulationen (Sie müssen zugeben, dass die Spekulationen brisant sind, falls etwas daran wahr sein sollte)" (12) zu erhärten. Die staatliche Intervention zeigte Wirkung. Nur drei Tage nach der Entnahme der Bodenproben ließ der Institutsleiter das ZDF-Team wissen, dass "wir nur auf dem offiziellen Weg etwas damit zu tun haben. D.h., wenn Sie an einer Untersuchung dieser Kügelchen interessiert wären, würde er Sie bitten, sich an das BKA bzw. die Polizei zu wenden. (...) Die Brisanz der Problematik ist einfach zu hoch." (13)

Um sicher zu gehen, dass es nichts gibt, was es nicht geben darf, rang der Institutsleiter der ZDF-Redaktion eine Erklärung mit folgendem Wortlaut ab:

"Inhalt der Sendung wird u.a. eine mögliche Belastung des Bodens in dieser Region sein. Die im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in der Elbmarsch immer wieder auftretenden Vermutungen, wonach es -ºKügelchen-¹ gäbe, die radioaktives Material enthalten sollen, wird nicht Gegenstand dieser Sendung sein." (14)
Doch der Institutsleiter begnügte sich nicht mit dieser Zusicherung. Er sorgte auch dafür, dass das, was nicht gezeigt werden darf, auch nicht untersucht wurde. Nach dem Gespräch mit dem Ministerium "untersagte" Dr. Brey seinem Mitarbeiter, "die Kügelchen explizit zu untersuchen". (15)

Einen schlüssigeren Nachweis, dass zur Durchsetzung der Atomenergie Gutachten manipuliert werden, -ºunabhängige-¹ Institute Beihilfe leisten und staatliche Aufsichtsbehörden dazu anstiften, kann man kaum liefern.
Eine makarbre Bemerkung am Schluss: All die hier zitierten und angeführten Dokumente habe ich Beteiligten der Anhörung im Ausschuss für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit des Niedersächsischen Landtages in Hannover am 11./12.4.2007 zur Verfügung gestellt. Ebenso wurde die zensierte Filmsequenz aus der ZDF-Dokumentation -ºUnd keiner weiß warum ... Leukämietote in der Elbmarsch-¹ den Ausschussmitgliedern vorgeführt. Im Zuge dieser Anhörung kann auch Prof. Vladislav P. Mironov, weißrussischer Atomphysiker der Sacharov Umweltuniversität in Minsk zu Wort, der die Bodenproben rund um Geesthacht untersuchte: Er belegte erneut, dass "keine einzige Bodenprobe der zu erwartenden natürlichen Zusammensetzung entspräche. Alle Proben enthielten Uran, Thorium und Plutonium künstlichen Ursprungs. Die einzig mögliche Erklärung für Funde außerhalb der atomtechnischen Anlagen an der Elbe, ist ein atomarer Unfall." (16)

Wer sich noch tiefer in diesen Sumpf ziehen lassen will, dem seien weitere Texte anheim gestellt: www.wolfwetzel.wordpress.com/Atompolitik

Am 7.11.2009 findet ein bundesweiter, dezentraler Aktionstag gegen die Atomenergie statt.
Mehr Informationen unter: http://www.contratom.de

(1) Pressemitteilung Nr. 220/09 des Ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit/BMU vom 01.07.2009
(2) s.o.
(3) FAZ vom 28.10.2009
(4) "Im Ergebnis führt das dazu, dass in Deutschland etwa vom Jahr 2018 an kein Atomkraftwerk mehr am Netz ist" Umweltminister Jürgen Trittin, Der Spiegel vom 13.5.2001
(5) Pressemitteilung Nr. 220/09 des Ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit/BMU vom 01.07.2009
(6) s.o.
(7) Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt/GKSS
(8) Abschlussbericht der "Fachkommission Leukämie" vom 15.9.2004, S.2
(9) Dr. Cloosters vom 26.1.2007
(10) Gutachten vom 20.3.2005
(11) Vgl. Strahlentelex Nr. 472-473/2006, S.4-5
(12) E-Mail von Dr. Gerdes vom 24.10.2006
(13) ZDF-Erklärung vom 16.1.2007
(14) E-Mail von Dr. Gerdes vom 24.10.2006
(15) E-Mail von Dr. Gerdes vom 24.10.2006
(16) Presserklärung der Bürger-Initiative gegen Leukämie in der Elbregion vom 12.4.2007


(Zuerst veröffentlicht bei Eyes wide Shut - Texte, Bilder und paradoxe Utopien)

Nicht einmal ein Schatten seiner selbst

Ein V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes will das Gespräch seines Lebens mitgehört haben. Der einzige Haken an der sensationellen Geschichte ist, dass es den V-Mann -º123-¹ gar nicht gibt...

1998 wurde im Rahmen eines Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (nach § 129a) vom Bundesamt für Verfassungsschutz/BfV Maßnahmen zur Telefon- und Briefüberwachung beantragt.


Ein solcher Eingriff erfolgt - der geltenden Rechtsprechung folgend - nicht aufgrund der politischen Einstellung, sondern durch Darlegung -ºtatsächlicher Anhaltspunkte-¹, was - immerhin - einem Wirklichkeitsgrad von plus/minus 50 % entspricht.

In diesem Fall musste ein einziger -ºtatsächlicher Anhaltspunkt-¹ reichen, der es dafür in sich hatte: Ein V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes will just vor Beantragung oben erwähnten Eingriffs ein Gespräch zwischen mir und anderen Personen mitbekommen haben. Anschließend soll und will der V-Mann das Gespräch protokoliert haben. Von den durch Schwärzungen unkenntlich gemachten Passagen abgesehen gleicht es einer Lebensbeichte, die von schwerer Kindheit und Leben als Berufsrevolutionär über aktuelle bis hin zu geplanten Anschlägen reicht.

Vorsichtshalber legte das Bundesamt für Verfassungsschutz/BfV auch noch eine -ºKurzbiografie-¹ über mein politisches Leben bei, das mit großer Akribie über 30 Jahre hinweg polizeiliche und geheimdienstliche Erkenntnisse zusammenfasst. Dank besagter -ºLebensbeichte-¹ und beigelegter Hintergrundsberichte wurde der Antrag vom G-10-Ausschuss des Bundestages für drei Monate bewilligt.

Nach drei Monaten ohne Ergebnisse wurde eine Verlängerung beantragt. Dieses Mal diente als einziger
-ºtatsächlicher Anhaltspunkt-¹ ein Telefonat zwischen mir und einem ebenfalls im Verdacht stehenden Mitglied besagter terroristischen Vereinigung. Der Inhalt des Gespräches ist geschwärzt worden. Offensichtlich ging der G-10-Auschuss davon aus, das es sich um eine Telefonat zwischen -ºTerroristen-¹ handelte und verlängerte die G-10-Maßnahmen um weitere drei Monate. Auch diese drei Monate vergingen und ergaben nichts. Danach wurde keine weitere G-10-Maßnahme beantragt bzw. genehmigt. Das 129a-Verfahren wurde eingestellt.

Trotz der selektiv zur Einsicht überlassenen Akten und der darin vorgenommenen Schwärzungen, die für gewöhnlich eine Überprüfung erschweren bzw. unmöglich machen, reichte ich Klage gegen die o.g. Maßnahmen ein.

Im Kern geht es darum, folgenden Nachweis zu führen:

• Der V-Mann, der makabrerweise auch noch -ºV-Mann 123-¹ heißt, existiert gar nicht. Er ist eine Erfindung, das Gespräch wurde nie geführt.
• Das abgehörte Telefonat, das die intensiven Beziehungen terroristischer Mitglieder belegen soll, würde das Gegenteil beweisen, wenn der Inhalt nicht unterschlagen worden wäre.
• Die massiven Schwärzungen an entscheidenden Stellen und die vorenthaltenen Akten dienen nicht dem Schutz der Bundesrepublik Deutschland und deren V-Männer. Sie sollen die gezielte und vorsätzliche Manipulation vertuschen, mithilfe derer der G-10-Ausschuss mit frisierten und nicht vorhandenen -ºBeweisen-¹ getäuscht werden sollte.

Die politische Brisanz dieses -ºFalles-¹
In der Vergangenheit traten schon verschiedene V-Männer auf, die gelogen haben bzw. zu Aussagen erpresst wurden. Meist konnte man dies nur nachweisen, nachdem diese -ºverbrannt-¹ waren, also ihre Identität nicht mehr verheimlicht werden konnte (wie im Fall des V-Mannes Klaus Steinmetz). In vielen anderen Fällen werden jedoch -ºAussagen-¹ in ein Verfahren eingeführt von V-Männern, die mit ihrer Identität verborgen bleiben und deren Belastungen nur durch -ºDritte-¹ vor Gericht angeboten werden.

In diesem Fall geht es darum, nachzuweisen, dass es diesen V-Mann -º123-¹ gar nicht gibt, dass er eine aus welchen -ºQuellen-¹ auch immer vollgestopfte Fantasiegestalt ist.

Verständlicherweise werden sich viele zu Recht fragen, wie man die Nicht-Existenz eines V-Mannes nachweisen kann, wenn dessen -ºIdentität-¹ von Geheimdiensten geschützt wird?

Es ist glücklichen und peniblen Gründen zu verdanken, dass dies ausnahmsweise möglich ist. Ich möchte hier nur zwei Gründe nennen:
1. Auch der Verfassungsschutz macht Fehler: Trotz zahlreicher Schwärzungen wurde vergessen, die in einer Fußnote versteckten Namen unkenntlich zu machen, die für den Nachweis gezielter Manipulation von erheblicher Bedeutung sind.
2. Auch der Verfassungsschutz kann gelegentlich über seine eigene Masslosigkeit stolpern. Die -ºLebensbeichte-¹ ist so dermaßen übertrieben-geschmacklos, dass man eine solche nicht einmal in einem schlechten James-Bond-Film durchgehen lassen würde.

Stand der Dinge ist, dass das Verwaltungsgericht Berlin unserer Argumentation und unserem Verlangen, die geschwärzten und vorenthaltenden Unterlagen für das Hauptverfahren freizugeben, insoweit folgt, dass es für dem 8. Juli in Berlin eine mündliche Verhandlung anberaumt hat, um diese Fragen zu klären.
Im letzten Schreiben des VizePräs. des Verwaltungsgerichtes vom 15.6.2009 an den Verfassungsschutz moniert dieser aufmerksam, dass selbst dem Gericht nur selektiv Akten zur Verfügung gestellt wurden, insbesondere Akten, aus denen die "Erforderlichkeit der Maßnahme" hervorgehen könnte. Er fordert dazu auf, die "Übersendung des vollständigen Erstantrages" zu veranlassen.

Bis heute liegt der vollständige Erstantrag nicht vor.

Die mündliche Verhandlung zu den o.g. Streitfragen findet statt am

Mittwoch, den 8. Juli 2009 um 10.30 Uhr

Verwaltungsgericht Berlin
Kirchstraße 7
10557 Berlin

Was und wo Demokratie ist, bestimmen “wir„ … am Beispiel des Irans

Für die meisten Privat- und Partei-Medien stand schon lange vor der Präsidenten-Wahl fest: Im Iran herrscht eine Diktatur mit einem wahnsinnigen -ºFührer-¹ an der Spitze.

Genauso viel Wahnsinn braucht man, um sich dann eine Wahlbeteiligung von ca. 80 Prozent der Stimmberechtigten zu erklären. Einen Wahlkampf, der erbittert geführt wurde und ganz offensichtlich mehr war, als ein Showkampf zwischen ein- und demselben. Wie anders erklärt sich die Zerrissenheit verschiedener Machtfraktionen innerhalb des iranischen Systems, nach diesem Wahlergebnis


Wie gesagt, über 80 Prozent gingen zur Wahl. Lange Schlangen vor den Wahllokalen, geduldiges Warten, um die Stimme abzugeben - für eine Diktatur doch recht ungewöhnlich, während sich in den -ºMutterländern-¹ der Demokratie gerade einmal 40 Prozent zu den EU-Wahlen schleppten.

Die Wahl wurde schnell und offiziell zugunsten des amtierenden Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad entschieden. Über 60 Prozent sollen ihnen gewählt haben. So schnell die abgegebenen Stimmen auszählt waren, so schnell stand für westliche Medien fest: Das kann nur Wahlbetrug sein, den nachzuweisen bekanntlich auch in -ºMutterländern-¹ der Demokratie schwer bis unmöglich, auf jeden Fall langwierig ist. Als einziger -ºbelastbarer-¹ Beweis müssen zurzeit westliche Prognosen herhalten, nach denen es ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben sollte und ein Sieg des -ºReformers-¹ nicht ausgeschlossen werden könne. Was den Reformer Mirhossein Mussawi vom amtierenden Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad in puncto demokratischer Rechte und wirtschaftlicher Gerechtigkeit unterscheidet, interessiert(e) die westlichen Medien nicht. Wie in allem parlamentarischen Ordnungen stehen die darin zugelassenen Parteien für verschiedene Varianten im System -“ auf dem Boden der jeweiligen Verfassung.

Wenn westliche Medien und Regierungen den Kandidaten Mirhossein Mussawi favorisieren, dann geht es ihnen mitnichten um mehr Demokratie, um Gleichberechtigung, um das uneingeschränkte Recht auf Opposition. Schließlich pflegen sie ausgezeichnete und enge Beziehungen zu klerikalen, oligarchen, diktatorischen, die Folter und -ºextra-legale Erschießungen-¹ praktizierende Regierungen (von der Türkei, über Pakistan, Afghanistan, Irak, Saudi-Arabien bis hin zu Usbekistan, Russland und Kolumbien), wenn sie den wirtschaftlichen und imperialen Interessen des Westens gefällig sind!

Westliche Regierungen favorisieren den -ºReformer-¹ einzig und alleine aufgrund seiner Ankündigung, über das Atomprogramm zu verhandeln. Mit einem Sieg Mussawi hofft man, dass dieser mit westlichen Atommächten über etwas verhandelt, worüber kein westlicher Staat in den letzten 60 Jahren verhandelt hat und verhandeln würde: Über die -ºfriedliche Nutzung der Atomenergie-¹.

Die Schimäre von der friedlichen Nutzung der Atomenergie
Die westlichen Atommächte wissen um die Brisanz und um den Drahtseilakt ihres erpresserischen Vorhabens. Sie wollen den Iran davon abbringen, etwas in Anspruch zu nehmen, was westliche Regierungen seit Jahrzehnten -“ gegen massiven Protest aus der eigenen Bevölkerung -“ selbstverständlich tun. Die Nutzung der Atomenergie. Alle westlichen und ihr gefälligen Regierungen sind diesen Weg gegangen. Unter dem Vorwand, lediglich friedlich die Atomenergie nutzen zu wollen, haben sie sich Know-how und atomwaffenfähiges Material besorgt. Unter dem Deckmantel der -ºzivilen-¹ Nutzung und mit dem stillen Einverständnis der Atommächte sind sie heute im Besitz von Atomwaffen: Pakistan, Indien, Israel, vielleicht auch Nordkorea. Sie alle haben den fließenden Übergang zwischen -ºfriedlicher-¹ und -ºmilitärischer-¹ Nutzung der Atomenergie genutzt, um in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen.

Seit ein paar Jahren hat sich auch die iranische Regierung für diesen Weg entschieden. Seitdem ist das iranische Atomprogramm -ºumstritten-¹. Die iranische Regierung besteht auf eigene Anlagen zur Urananreicherung, um diesen Brennstoff für die zivile Nutzung der Kernenergie zu nutzen. Die US- und EU-Regierungen behaupten hingegen, dass hinter der zivilen Nutzung nur militärische Ambitionen verborgen werden sollen. Die US-Regierung unter dem Präsidenten Bush verhängte -ºWirtschaftssanktionen-¹ und schloss einen Krieg nicht aus -“ die EU-Regierungen übernahmen den Part, bis dorthin -ºalle diplomatischen Möglichkeiten-¹ auszuschöpfen.

Die Dreistigkeit des Vorgehens besteht darin, eben nicht die -ºfriedliche Nutzung der Kernenergie-¹ generell einzustellen und die Beseitigung aller Atomwaffen1 zu betreiben, sondern exklusiv die iranische Regierung dazu zu zwingen, von dieser Option Abstand zu nehmen. Eine sonders makabere und scheinheilige Rolle dabei spielt die deutsche Bundesregierung, die angesichts der iranischen Ambitionen "mit großer Sorge" erfüllt ist. Sie weiß, wovon sie spricht.

Seit den 70er Jahren betrieben deutsche Bundesregierungen ein Atomprogramm, das gezielt und absichtsvoll auf den Besitz von atomaren Massenvernichtungswaffen zusteuerte. Was man heute über die Möglichkeiten des Irans weiß, war in Deutschland spätestens seit den 80er Jahren Realität: Für Atomkraftwerke braucht man 3-5 Prozent angereichertes Uran bzw. Plutonium. Wenn man diesen Brennstoff -“ in einem aufwendigen zweiten Prozess - bis zu 90 Prozent anreichert, hat man das Material für eine Atombombe.

Vor diesem zweiten, technisch durchaus machbaren Schritt der iranischen Regierung warnt die so genannte -ºWeltgemeinschaft-¹. Dieselbe, die bis heute schweigt, dass genau dieser zweite Schritt hin zur militärischen Nutzung der Atomenergie in Deutschland längst gemacht wurde.

Wenn man die iranische Regierung verdächtigt, die zivile Nutzung für ihre wahren, also verbrecherischen Absichten nur vorzuschieben, dann weiß gerade die deutsche Bundesregierung, wovon sie spricht - aus eigener Erfahrung: In den 70er Jahren wurde als -ºspanische Wand-¹ eine neue AKW-Linie entworfen, der Hochtemperaturreaktor. Dieser benötigt nicht drei bis fünf, sondern bis zu 93 Prozent angereichertes Uran bzw. Plutonium. Nichts anders also als das Material, das man zur Herstellung von Atomwaffen benötigt! Bis heute schweigt die deutsche Bundesregierung darüber. Nicht einmal die größte Leukämiedichte der Welt nach einem vertuschten -ºUnfall-¹ 1986 in der Umgebung des staatlichen Atomforschungszentrums -ºGKKS-¹ bei Geesthacht2 kann dieses Schweigen durchbrechen -“ schon gar nicht von den vielen deutschen Medien, die im Iran so viel Mut beweisen...

Bild-Beherrschung -“ kein westliches Privileg
Geradezu bewegend süß erlebt man dieser Tage, wie sich westliche Medienvertreter über schwere Einschränkungen ihrer Berichterstattung wehren. Man müsse doch ungehindert und frei über alles berichten können. So radikal, so kompromisslos und staatskritisch kennt man den deutschen Journalismus gar nicht, vor allem nicht im eignen Lande.

Umso mutiger gehen sie zu Werke, die Möglichkeiten (missliebiger) Machthaber beschreiben, die öffentliche Kommunikation einzuschränken bzw. zu sabotieren: Sie kappen bzw. stören Handyverbindungen, sie schließen Internetseiten, sie verhindern eine regimekritische Berichterstattung und nutzen das Monopol des -ºStaatsfernsehens-¹, um ausschließlich erwünschte Bilderwelten zu zeigen: In Endlosschleifen werde der Sieg Ahmadinedschads gefeiert, während die Proteste gegen Wahlbetrug unterdrückt werden.

Keine Frage, das Regime Ahmadinedschads ist ein Reaktionäres, Repressives. Denn was heute ein -ºGottesstaat-¹ ist, war kein göttlicher Wille, sondern das Ergebnis eines mit großer Brutalität durchgeführten Säuberungsprozesses, nachdem die Diktatur des Schahs von Persien 1979 gestürzt werden konnte: "Die Mitglieder der Tudeh-Partei3 und jegliche linke Opposition sahen sich einer brutalen Verfolgung ausgesetzt, ähnlich wie zu Zeiten der Schahherrschaft."4

Kritik an der Regierung Ahmadinedschads zu äußern und zu teilen, ist zweifellos richtig. Umso mehr stößt einem die hemmungslose Opportunität deren auf, die im eigenen Land skrupellos und lukrativ daran beteiligt sind, privates oder öffentliches -ºStaatsfernsehen-¹ zu betreiben.

Dieselben Medienvertreter, die im Iran Grundsätze der Demokratie wiederentdecken, sind hier im eigenen Land Perfektionisten genau dieser loyalen (Staats-)Inszenierungen: Man erinnere sich nur an die Berichterstattung über den NATO-Gipfel in Kehl/Straßburg vor ein paar Monaten. Kein Wort über die massiven Einschränkungen des Demonstrationsrechtes in Deutschland, kein Wort über die leer gefegte Stadt Straßburg, die in eine (rote) Sicherheitszone verwandelt wurde, wo nur gejubelt werden durfte. Kein Wort darüber, dass eine Großdemonstration von über 50.000 Menschen auf der französischen Seite im Nirgendwo stattfand, die Grenze zwischen Frankreich wahlweise überwacht und geschlossen wurde -“ um eine länderübergreifende Demonstration zu verhindern.

Freie Meinungsäußerung und Demonstrationsrecht -“ im Iran durchsetzen.
Nach dem -ºWahlsieg-¹ Ahmadinedschads kündigte die Opposition Demonstrationen in Teheran an, die verboten wurden. Trotzdem gingen Hunderttausende auf die Straße und setzten ihr Recht durch -“ gegen die Schikanen verschiedener Repressionsorgane. Immer wieder wurden die DemonstrantInnen angegriffen, Menschen auseinander getrieben, verhaftet, einige DemonstrantInnen getötet.

Unisono entdeckte die Große Koalition in Deutschland das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Demonstrationsrecht ... im Iran: "Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier forderte den Iran zu einem Ende der Polizeigewalt auf."5

Einen politischen Konflikt mit Staatsgewalt zu ersticken, Protest einzuschüchtern und zu zerschlagen, ist überall auf der Welt ein Verbrechen. Tatsächlich? Mit welcher Unverfrorenheit und Scheinheiligkeit fordern Politiker der Großen Koalition das Recht auf freie und ungehinderte Meinungsäußerung ein, dort, während sie hier in aller größter Selbstverständlichkeit dieses aus -ºSicherheitsinteressen-¹ außer Kraft setzen!

Als der G-8-Gipfel in Heiligendamm 2007 stattfand, wurde eine 40-Kilometer-breite -ºrote Zone-¹ eingerichtet, innerhalb derer jeder Protest verboten wurde. Ein zwölf Millionen teurer und ebenso langer Zaun rund um das Tagungsgelände sollte jeden Versuch, dieses Verbot zu ignorieren, im Keim ersticken. Über 17.000 Polizisten, Sondereinsatzkommandos, bis hin zur Bundeswehr6 wurden eingesetzt, um diese demokratiefreie Zone mit Gewalt durchzusetzen. Worauf sich der Protest gefasst machen sollte, bewiesen die Polizeiorgane bereits im Vorfeld, als sie Razzien in verschiedenen Städten durchführten, 18 Personen als vermeintliche Mitglieder einer terroristischen Vereinigung verfolgten, mit der Behauptung, sie würden eine "militante Kampagne gegen den G8-Gipfel"7 planen. Die heute im Iran um Meinungs- und Demonstrationsfreiheit kämpfenden Medienvertreter fanden diese gezielten Einschüchterungsmaßnahmen im Großen und Ganzen in Ordnung und notwendig.

Dennoch beteiligten sich ca. 50.000 Menschen an den Protesten gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm. Hunderte von DemonstrantInnen wurden in Käfige8 gesperrt, Tausende bekamen alleine für ihr dissidente Erscheinung -ºPlatzverbote-¹, über 3.000 Menschen wurden während des G-8-Gipfels festgenommen. Von -ºbedauerlichen Einzelfällen-¹ abgesehen, sekundierten die deutschen Meinungsmacher brav und gehorsam diese Polizeistrategie.

Man stelle sich vor, nicht 50.000, sondern eine Million Menschen wären auf die Straße gegangen, um sich gegen das de facto Demonstrationsverbot zur Wehr zu setzen. Zu was wären deutsche Sicherheits- also Repressionsorgane bereit gewesen, um solche -ºillegalen-¹, -ºverbotenen-¹ Demonstrationen auseinanderzutreiben?

Einige Anmerkungen zu Kritiken der deutschen Linken am iranischen -ºGottesstaat-¹
Neben dem Umstand, dass es sehr viele religiös-eingefasste und auf religiöse Dogmen beruhende Regierungssysteme in der Welt gibt, sticht an der gegenwärtigen iranischen Regierung unter Ahmadinedschad seine mehrmals wiederholte Haltung, den -ºHolocaust-¹ zu leugnen und den Staat Israel in Frage zu stellen, hervor. Die Frage, ob es sich dabei um propagandistische oder reale Absichten handelt, wäre für manche Linke spätestens dann beantwortet, wenn eine solches Regime in den Besitz von Atomwaffen käme. Alleine aus diesem Grunde müsse man alles unterstützen, damit dies nicht passiere. Dass man damit imperiale Mächte unterstütze, wisse man, sei aber nicht zu vermeiden.

Unabhängig davon, wie real diese Bedrohungen sind, kann man eines festhalten: Bislang wurden atomare Massenvernichtungswaffen nur von der US-Regierung 1945 in Hiroshima und Nagasaki/Japan9 eingesetzt -“ nicht als letztes Mittel, um der eigenen Vernichtung zu entgehen, sondern aus der Position der absoluten Überlegenheit heraus. Es spricht also nichts dafür, dass der Besitz von Atomwaffen in den Händen -ºweltlicher-¹ Herrschaftssysteme weniger bedrohlich sei, als in den Händen islamischer Regime. Wer als Linke dazu beitragen will, dass die -ºfriedliche Nutzung-¹ der Atomenergie nicht für militärische Zwecke genutzt werden kann, muss für einen generellen Stopp jeglicher Nutzung von Atomenergie eintreten. Alles andere ist ein Beitrag zur Fiktion eines -ºguten-¹ Imperialismus10, der mit falschen Motiven das unbeabsichtigt Richtige tut. Und wer -“ aus guten Gründen -“ dazu beitragen will, dass der Iran nicht in den Besitz von atomaren Massenvernichtungswaffen gelangen darf, der sollte nicht als (bedeutungsloser) Co-Manager einer imperialen Logik bestimmen, in welchen Händen Atomwaffen gefährlicher sind, sondern dafür kämpfen, dass keine Herrschaft, keine Regierung - also auch kein sozialistische -“ in deren Besitz kommt bzw. bleibt. Das sollte für eine Linke nicht zu viel verlangt sein. Es würde nur dem Wortlaut des Vertrags über die Nichtverbreitung von Atomwaffen entsprechen: 1968 kam es "zum Abschluss des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages, dem nur vier Mitglieder der Vereinten Nationen noch nicht beigetreten sind. Gemäß des Nichtverbreitungsvertrages haben sich die 182 Nichtatomwaffenstaaten der Erde verpflichtet, keine Atomwaffen zu erwerben, und im Gegenzug haben die fünf offiziellen Atommächte versprochen, ihre Atomwaffen abzuschaffen." Die Erklärung der Überprüfungskonferenz 2000, die von allen fünf offiziellen Atommächten unterzeichnet wurde, beinhaltet " ... eine unzweideutige Verpflichtung der Atomwaffenmächte, die vollständige Abschaffung ihrer Atomwaffenarsenale zu betreiben bis zur vollständigen nuklearen Abrüstung, zu der alle Vertragsparteien nach Artikel VI verpflichtet sind."11

Herrschaft der -ºAufklärung-¹ versus religiöser/islamischer -ºFanatismus-¹ - Zivilisation versus Tyrannei
Dass westliche, kapitalistische Regierungen mit diesem ideologischen Frontverlauf Kriege führen und -ºzivilisatorisch-¹ begründen, ist seit dem Krieg gegen den Irak 1991 Gang und gebe. Der -ºFeind der Menschheit-¹, der Kommunismus musste geliftet, den -ºneuen Herausforderungen-¹ angepasst werden. All das wäre nicht der Rede werte wert, wenn nicht Teile der Linken dieser ideologischen Kriegsfront beigetreten wären. Auch wenn -ºantideutsche-¹ Positionen darin schrill hervorstechen, so ist zu befürchten, dass sich viele Linke dieser Position zumindest gefühlsmäßig anschließen können: Der -ºaufgeklärte-¹, also -ºrationale-¹ Kapitalismus sei sicherlich ungerecht, aber wenigstens berechenbar. Das demokratische/parlamentarische System sei zwar nicht das Nonplusultra, aber immerhin eine institutionelle Begrenzung gegenüber totalitären Machtansprüchen. All das sei summa summarum einem religiösen, also -ºirrationalen-¹ System mit -ºfanatischen-¹ und totalitären Zielen und Zügen vorzuziehen.

Unabhängig, davon ob in einem Herrschaftssystem -ºGott-¹ oder das -ºKapital-¹ oberste, extra-legale Instanz ist, für beide Herrschaftsmodi braucht es reale Machtfaktoren, die weder im Himmel, noch in der -ºunsichtbaren Hand des Marktes-¹ liegen. Unabhängig davon, wie stark religiöse Kräfte in den USA oder im Iran die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen beeinflussen, sollte eine Linke darauf beharren, hinter jedwede Ideologie zu schauen, ob es sich um eine kapital-gedeckte oder um eine religiös-bestimmte handelt. Für eine Linke sollte es nicht darum gehen, welche Herrschaftsideologie -ºbesser-¹ ist, sondern welche je verschiedenen Interessen sich dahinter verbergen bzw. durchzusetzen versuchen. Diese finden sich weder im Koran, noch in den Lehren von der -ºfreien Marktwirtschaft-¹.

Wenn eine Linke den Islam genauso entschleiern helfen würde wie den -ºNeoliberalismus-¹ hier, würde sie zu einem Verständnis beitragen, das den gesellschaftlichen Konflikt in den Vordergrund stellen würde, anstatt sich als besonders radikale Religionskritiker gegenseitig zu überbieten.

Die Londoner -ºFinancial Times-¹, sicherlich nicht im Verdacht stehend, das Mullahregime zu hofieren, schreibt dazu: "Veränderung heißt für die Armen Arbeit und Nahrung und nicht lockerer Dresscode oder gemischte Freizeitgestaltung" und schließt diesen Gedankengang wie folgt ab: "Politik im Iran hat sehr viel mehr mit Klassenkrieg zu tun als mit Religion."12

Man muss diesen Andeutungen nicht Wort für Wort folgen -“ man sollte sie jedenfalls nicht unterschreiten.13

Dummer Antiimperialismus
"Verlierer will siegen - Straßenschlachten nach Wiederwahl Ahmadinedschads im Iran. Herausforderer Mussawi setzt Überprüfung der Ergebnisse durch. Nach dem Erdrutschsieg des amtierenden Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad bei den iranischen Präsidentschaftswahlen am vergangenen Freitag ist es am Wochenende in Teheran zu Zusammenstößen zwischen gewaltbereiten jungen Oppositionellen, angestachelt durch zahlreiche Vermummte, und der Polizei gekommen. Die Randalierer, wütend ob der Niederlage ihres Favoriten, des 68jährigen Politveteranen Mirhossein Mussawi, riefen -ºTod dem Diktator-¹, -ºNieder mit der Diktatur-¹ oder -ºFreiheit-¹. Sie zündeten Mülltonnen, Parkbänke und Autoreifen an, Fensterscheiben von Geschäften und Banken gingen zu Bruch. Der arabische TV-Sender Al Dschasira berichtete, die Demonstranten hätten Polizisten mit Steinen beworfen, die daraufhin mit Stöcken zurückgeschlagen, Tränengas eingesetzt und Warnschüsse abgefeuert hätten. Nach Polizeiangaben wurden rund 60 Demonstranten festgenommen."

Die Wortwahl, der denunziatorische Polizei-Jargon, die Verharmlosung des repressiven staatlichen Vorgehens würde man gerne den Springer-Zeitungen zuschreiben. Tatsächlich ist es eine Textpassage aus der -ºJunge Welt-¹ vom 16.06.2009.

Es gibt keinen einzigen Grund die amtierende Regierung Ahmadinedschads, ihre Vorstellung von Gesellschaft und Demokratie zu verteidigen -“ auch dann nicht, wenn diese in den Augen der US-Regierung und vieler europäischer Regierungen -“ aus ganz anderen Gründen - einen -ºSchurkenstaat-¹ anführt, womit vor allem eines legitimiert werden soll: Ein -ºRegimewechsel-¹ mit politischen und (wenn das nicht funktioniert) militärischen Mitteln.

Und es gibt keinen Grund, den Protest von Hunderttausenden zu denunzieren, selbst wenn er "hauptsächlich aus der Oberschicht des Landes und von begüterten Iranern"14 getragen werden würde. Gegen die (möglicherweise) schlechten Motive gegen das reaktionäre Regime Ahmadinedschads zu protestieren, braucht man keine Polizei, sondern eine bessere, eine emanzipatorische Idee. Zu aller erst sollte man jedoch genau hinhören, was die Opposition will und wie unterschiedlich (möglicherweise) die Motive sind, gegen das gegenwärtige Regime auf die Straße zu gehen. Auf jeden Fall ist die Empathie für den Protest gegen das reaktionäre Regime der -ºbedingungslosen-¹ Solidarität mit dem -ºFeind meiner Feinde-¹ vorzuziehen.


1 Das ist keine utopische Forderung, sondern Vertragsbestandteil des Atomwaffensperrvertrages.

2 Siehe auch:

3 Kommunistische Partei Irans

5 FR vom 16.6.2009

6 "Nach offizieller Darstellung waren 1.100 im Rahmen von Amtshilfe sowie weitere 1.000 Soldaten im Rahmen originärer Bundeswehraufgaben während des G-8-Gipfels im Einsatz." Hans-Christian Ströbele vom 13.9.2007

7 Diese Verfahren nach § 129a wurden 2008 sang- und klanglos eingestellt.

8 Gefangenensammelstelle (GeSa), Industriestraße, Rostock

9 Dabei wurden sofort etwa 155.000 Menschen, in Folge der Verstrahlung weitere 110.000 Zivilisten ermordet.

10 Das zentrale Theorem des linken Bellizismus vom -ºSchrecklichen und jetzt Richtigen-¹ (Gremliza, Konkret-Herausgeber, Konkret 3/1991) geistert seit dem US-alliierten Krieg gegen den Irak 1991 durch die deutsche Linke

11 Sir Joseph Rotblat, US-Nuklearphysiker, FR vom 6.8.2002

12 Financial Times vom 14.Juni 2009

13 Laut der Turiner Historikerin Farian Sabahi wurden unter der Regierung Ahmadinedschads "die Renten um 50% und die Lehrergehälter um 30% angehoben. Außerdem sind 22 Millionen Bürger mehr als zuvor in den Genuss von kostenloser Gesundheitsversorgung gekommen." Interview der italienische Tageszeitung -ºl-™Unità-¹ vom 16.6.2009

14 Junge Welt vom 16.06.2009

Die Erschießung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967: Vom deutschen Polizisten, der in Notwehr handelte zum Stasi-Spion als Auftragskiller

Über 40 Jahre wollte es niemand wirklich gewesen sein. Über 40 Jahre war der Staatsschutzbeamte Karl-Heinz Kurras, der Benno Ohnesorg erschoss, im besten Fall in lebensbedrohlicher Bedrängnis, im schlimmsten Fall überfordert.

Jetzt steht fest:
Die Stasi war-™s!

Am 22. Mai 2009 platzierten FAZ und BILD "brisante" Enthüllungen auf ihren Frontseiten:

"Ein Stasi-Mitarbeiter erschoss Benno Ohnesorg." (FAZ)
"Stasi-Spion erschoss Benno Ohnesorg." (BILD)


Foto: Wolf Wetzel

Was war am 2. Juni 1967 geschehen, wer schoss tatsächlich und wie wurde der Fall politisch und juristisch -ºaufgeklärt-¹?
Bereits im Vorfeld stimmten sich die politisch Verantwortlichen auf ein hartes polizeiliches Vorgehen ein und einigten sich auf geradezu prophetische Weise auf den Umgang mit möglichen und zwingend notwendigen "Fehlern":
"In einem Brief an Innensenator Wolfgang Büsch sprach Polizeipräsident Erich Duensing am 13. April von einem -ºStudentenkrieg-¹, der nicht mit Polizei, sondern nur mit Staatsanwälten und Gerichten zu bewältigen sei. In seiner Antwort am 8. Mai erwartete Büsch dagegen verschärfte Konfrontation, die größere Polizeiaufgebote notwendig machen würde. Er versicherte Duensing, dass -ºihre Vorgesetzten auch dann für sie eintreten, wenn sich bei der nachträglichen taktischen und rechtlichen Prüfung Fehler herausstellen sollten. Das setzt allerdings voraus, dass diese Fehler nicht als Dienstpflichtverletzungen angesehen werden müssen.1
Er unterstützte also vorab erwartete Polizeimaßnahmen und wollte diese nicht gerichtlicher Prüfung aussetzen.2"3
Eine kaum kaschierte Aufforderung zur Begehung von Straftaten im Amt.



Der Schah-Besuch am 2. Juni 1967 in West-Berlin
Am Mittag trug sich der Diktator im Schöneberger Rathaus in das goldene Buch der Stadt Berlin ein. Rund 400 Schahgegner riefen -ºMörder, Mörder-¹ und forderten Amnestie für politische Gefangene in Persien, worauf sie von etwa einhundert Schahanhängern überfallartig mit Holzlatten, Schlagstöcken und Stahlrohren angegriffen wurden. Dutzende wurden verletzt, einige schwer, während die Polizei zuschaute und sie gewähren ließ.
Für den Abschluss des eintägigen Staatsbesuchs war eine Galaaufführung der -ºZauberflöte-¹ in der Deutschen Oper vorgesehen. Die Polizei hatte weiträumig abgesperrt und aufgrund der großen Zahl von GegendemonstrantInnen auf eine unmittelbare Räumung verzichtet. Stattdessen griffen immer wieder zivile Greiftrupps, zu denen auch Karl-Heinz Kurras zählte, wahllos einzelne Personen aus der Menge heraus und verprügelten sie vor aller Augen. Nachdem das Schahehepaar die Oper betreten hatte, wurden die GegendemonstrantInnen von der Polizei angegriffen, nach einer Methode, die der Polizeipräsident Erich Duensing drei Tage später so beschrieb: "Nehmen wir die Demonstranten wie eine Leberwurst, nicht wahr, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt."4
An der darauf folgenden Treibjagd (die für die Polizei eine -ºFuchsjagd-¹ war) beteiligten sich abermals -ºJubelperser-¹, die mit Dachlatten, Holzknüppeln, Schlagringen und Eisenstangen auf mittlerweile fliehende Demonstranten einschlugen. Da eine Flucht nicht möglich war, die Polizei gezielt Fluchtwege verstellt hatte, versuchte einige über Hinterhöfe dem -ºsystematischen, kaltblütig geplanten Pogrom5 zu entkommen, so auch Benno Ohnesorg. Extra aufgestellte Greiftrupps in Zivil setzen ihnen nach. In einem Hinterhof stellten schließlich etwa zehn zivile und uniformierte Polizisten eine ebenso große Gruppe an Fliehenden, auf die sofort eingeschlagen wurde. Unter den zivilen Einsatzkräften befand sich auch Karl-Heinz Kurras von der Abteilung I für Staatsschutz:
"Ohnesorg stand wenige Meter entfernt an einer Teppichstange und beobachtete die Szene. Nach Aussage des Demonstranten Reinhard B., der auf einer Mülltonne am Hofrand stand, trieb die Polizei dann alle Umstehenden hinaus; nur Ohnesorg habe sich noch im Hof befunden. Der Vorgesetzte von Kurras, Helmut Starke, bezeugte, Ohnesorg habe zu fliehen versucht, worauf Polizisten ihm den Weg abgeschnitten hätten. Erika S. sah, dass drei Polizisten um Ohnesorg herumstanden und ihn verprügelten, worauf er seine Hände halb erhoben habe. Sie habe dies als Zeichen der Ergebung und Beschwichtigung gedeutet. (...) Etwa um 20:30 Uhr fiel ein Schuss, der Ohnesorg aus etwa eineinhalb Metern Entfernung in den Hinterkopf traf."6
Unmittelbar nach den Schüssen erteilte eine männliche Stimme den Befehl: "Kurras, gleich nach hinten! Los, schnell weg!"


Nur wenige Stunden später wussten die politisch Verantwortlichen und ein Großteil der Medien sofort, wer für den Tod Benno Ohnesorgs verantwortlich war: Alle, die den Besuch eines Diktators nicht tatenlos hinnehmen wollten. Genauso schnell wurden Polizei und Einsatzleitung in Schutz genommen: Der Bürgermeister Heinrich Albertz stellte sich demonstrativ hinter die Polizei und verteidigten deren Vorgehen ausdrücklich.

Nicht anders verhielten sich Polizei und Medien im Umgang mit den über 150 -ºJubelpersern-¹, zu denen auch Mitglieder des persischen Geheimdienstes -ºSAVAK-¹ gehörten:
Weder schritt die Polizei vor Ort ein, als diese organisiert und bewaffnet auf DemonstrantInnen einschlugen, noch wurden die Absprachen zwischen Polizei und -ºJubelpersern-¹ im Nachhinein politisch thematisiert oder gar juristisch verfolgt.


Die Todesumstände von Benno Ohnesorg wurde nicht -ºaufgeklärt-¹, sondern vertuscht
Dass es sich weder um Mord noch um Totschlag handelte, wussten die Ermittlungsbehörden bevor sie anfingen: Sie ermittelten wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung.
Bis es zum ersten Prozess kam, waren bereits wesentliche Indizien verschwunden bzw. Spuren beseitigt: Die Spurensicherung am Tatort wurde schlichtweg unterlassen. Das Magazin des Staatsschutzbeamten war nicht mehr auffindbar, die Kleidung, die er zur Tatzeit trug, war gereinigt worden. Aussagen, die eine gezielte Tötungsabsicht und keine Notwehrhandlung nahelegten, wurden nicht nachgegangen. Kurzum: Die Staatsanwaltschaft ermittelte nicht in alle Richtungen, sondern vor allem zur Entlastung des Todesschützen.
Selbst der parlamentarische Untersuchungsausschuss kam zu einem ähnlichen Ergebnis und warf "sowohl der Polizei als auch der politischen Führung Versäumnisse" vor, was in der Folge zu einer Reihe von Rücktritten führte: Zuerst der Berliner Polizeipräsident, dann der Innensenator, und schließlich am 29.9.1967 auch der Bürgermeister Heinrich Albertz.
Insgesamt drei Prozessen sollten der Aufklärung dienen. Mindestens genau so viele Versionen bot der Polizeibeamte, der für die -º Abteilung I für Staatsschutz-¹ in Zivil unterwegs war:
"Einmal sollen ihn mit Messern bewaffnete Demonstranten angegriffen haben, ein anderes Mal habe er nur einen Warnschuss abgegeben, der als Querschläger von der Decke abgeprallt sei."7Eine weitere Version behauptete, dass sich im Handgemenge der Schuss gelöst habe.
"Keiner von 83 Zeugen -“ auch keiner der beteiligten Kollegen von Kurras -“ hörte einen Warnschuss, sah Messer, ein Handgemenge und Kurras am Boden liegen. Keiner der Festgenommenen hatte Messer oder andere Waffen bei sich gehabt."8
Trotzdem wurde Karl-Heinz Kurras in allen drei Prozessen freigesprochen.
Vier Jahre nach den tödlichen Ereignissen wurde Kurras wieder in seine alte Staatsschutzabteilung aufgenommen.
Dreißig Jahre später erklärte Kurras seine Tat: "Fehler? Ich hätte hinhalten sollen, dass die Fetzen geflogen wären, nicht nur ein Mal; fünf, sechs Mal hätte ich hinhalten sollen."9 und verriet dabei unabsichtlich, dass er nie Warnschüsse abgegeben hatte, sondern nur einen einzigen, aus ca einem Meter Entfernung von hinten in den Kopf Benno Ohnsorgs.
Als er sich in diesem Stern-Interview 2007 zu seinen mörderischen Absichten äußerte, war er noch ganz deutscher Polizist! Niemand aus der CDU, niemand aus Kreisen der Justiz schlug die Wiederaufnahme der Ermittlungen vor...

40 Jahre Vertuschung und Irreführung -“ Mord verjährt nicht
Dank dieser Enthüllungen wissen wir nun, dass es kein (wirklicher) Polizist war, der einen wehrlosen Demonstranten erschossen hatte, sondern ein Stasi-Agent.
Und auf einen Schlag funktioniert der Rechtstaat wieder. Die Berliner CDU fordert nur einen Tag nach jenen -ºEnthüllungen-¹ dazu auf, schonungslos zu prüfen, ob es sich bei dem Tod von Benno Ohnesorg um einen Auftragsmord handelte. Dann müsse man -“ dieses Mal -“ wegen Mordes ermitteln.
Gehen wir einmal von dieser wundersamen These aus: Die Indizienlage gegen den Polizisten Karl-Heinz Kurras und gegen den Stasi-Spion Karl-Heinz Kurras bliebe dieselbe - lediglich ein Motiv würde hinzukommen bzw. sich verdoppeln.
Schließt die Berliner CDU heute Mord nicht mehr aus, will sie uns damit unfreiwillig folgendes sagen:
Gegen den deutschen Polizisten gab es nicht genug Indizien -“ ganz anders läge der Fall, wenn es sich um einen Stasi-Spion handelt. Schließlich gab es zahlreiche Indizien, die einen Mordvorwurf rechtfertigten: sie waren nur nicht mehr auffindbar! Damals, als Karl-Heinz Kurras noch ein guter -ºBulle-¹ war, der seine Freizeit fast ausschließlich im Schützenverein verbrachte... Manchmal kann ein Schuss auch nach hinten losgehen.
Jetzt warten wir nur noch auf die aller letzten -ºEnthüllungen-¹, die beweisen werden, dass
  • die Bundesregierung, die freundschaftliche und wirtschaftlich-florierende Beziehungen zu Diktaturen pflegte
  • die Medien, allen voran die Springer-Presse, die Jagd auf den -ºstudentischen Pöbel-¹ machten die systematischen "Versäumnisse" der Ermittlungsbehörden
  • die Gerichte, die Karl-Heinz Kurras dreimal freisprachen
  • die politisch Verantwortlichen, die nicht ihre Freundschaft zu Diktatoren, sondern den Protest dagegen, für das eigentliche zu verfolgende Problem halten
  • das heimtückische Werk von Stasi-Spionen war.

Wolf Wetzel 2009

Wolf Wetzel ist Mitautor des Buches: -ºDie Hunde bellen -“ Eine Zeitreise durch die 68er Revolte-¹, Unrast Verlag, Münster, 2001


Wer sich noch ein wenig in die Geschichte der 68er Revolte einlesen will, sei der Text aus oben genanntem Buch empfohlen: -º68 als Staatsbegräbnis-¹

Anmerkungen:

1 Peter Damerow u.a. (Hrsg.): Der nicht erklärte Notstand, in: Kursbuch 12 (Hrsg.: Hans Magnus Enzensberger), Frankfurt/Main 1968, S. 29



3 Wikipedia zu Benno Ohnesorg

4 Katja Apet, Berlin Kurier vom 2. Juni 2007, Der Tag, an dem die Demokratie erschossen wurde

5 Sebastian Haffner, Nacht der langen Knüppel, der 2. Juni 1967 -“ ein geplanter Pogrom, Stern 26/1967

6 Wikipedia zu Benno Ohnesorg

7 Injektion, Das Fenster zum Hof, Campus-Magazin, Hamburg, Nr.4, Frühjahr 2008

8 Wikipedia zu Benno Ohnesorg

9 Stern vom 1.12.2007
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